Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.10.2019

(avery) #1

SEITE 12·FREITAG, 18. OKTOBER 2019·NR. 242 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


FLORENZ,im Oktober


I


m ersten Akt tauschen die Anführer
am Strand von Mexiko Geschenke.
Der Mexikaner Telesco bringt Gold,
Blumen und reizende Frauen, Cor-
tez antwortet mit einem Degen. Das also
sind die Geschenke Europas, vielleicht
werden die Spanier sie eines Tages in un-
seren Händen wiedererkennen, ist Telas-
cos bestürzte und zugleich stolze Ant-
wort. Als Gaspare Spontinis Tragédie lyri-
que „Fernand Cortez oder die Eroberung
von Mexiko“ im November 1809 in Paris
uraufgeführt wurde, war Napoleons Spa-
nien-Feldzug schon fast zwei Jahre mit
wechselndem Erfolg im Gange. Noch ein-
mal, nach der monströsen Ausstattungs-
oper „Der Triumph Trajans“ von 1807,
sollte ein aufgeklärter Anführer oder
Herrscher vorgeführt werden, der religiö-
sen Fanatismus besiegt und Ordnung und
Licht in eine barbarische, gewaltbereite
Welt bringt.
Deshalb wurde auch der furchtbare az-
tekische Oberpriester, der die Überläufe-
rin und Cortez-Geliebte Amazily um je-
den Preis opfern will, zur Gegenfigur.
Der Herrscher Montezuma trat gar nicht
auf. Das funktionierte hinten und vorne
nicht, und der Feldzug gegen ein dumpf-
katholisches Spanien, den das Werk ideo-
logisch überhöhen sollte, erwies sich im-
mer mehr als Desaster. Kein Wunder,

dass das Werk nach vierundzwanzig Auf-
führungen 1812 abgesetzt wurde. In ei-
ner zweiten, durch Kürzungen und Um-
stellung ganzer Szenenkomplexe und
Akte stark veränderten Fassung aber
blieb es für Jahrzehnte präsent, in Paris
bis 1844, in Berlin (in einer vierten Fas-
sung) sogar bis ans Jahrhundertende.
1951 erschien sie in Neapel wieder, dann
in Venedig, Turin und Erfurt. Die Erstfas-
sung aber blieb eine Legende, bis sich
nun genau fünfhundert Jahre nach Cor-
tez’ Landung an der mexikanischen Küs-
te das Theater des Florentiner Maggio
musicale an das gewaltige Werk machte,
tatsächlich ungekürzt.
Welch ein Futter fürs Regietheater hät-
te diese erste große historische Oper mit
all ihren Ambivalenzen werden können.
Schon der Librettist, der liberale Klassi-
zist Étienne de Jouy, hatte sie hellsichtig
benannt. Müssten nicht alle Sympathien
einem von zwei Seiten – von der eigenen
Priesterkaste und von den Spaniern – be-
drohten Volk gehören? Alles, was sich an
postkolonialen und Kulturclash-Versatz-
stücken aufbieten lässt, hätte hier zum
Einsatz kommen können – und das Werk
hätte dann das Schicksal so mancher In-
szenierungen der „Entführung aus dem
Serail“ geteilt, in denen Mozarts Werk un-
terging. Aber wir befinden uns jenseits
der Alpen, wo die Helden noch in Blech-
rüstungen auf die Bühne kommen dür-

fen, wo an der Rampe gesungen wird und
wo allenfalls die Projektion einer Rah-
menerzählung, in der auf die Geldgier
der Spanier verwiesen wird, für einen
Hauch von Reflexion sorgt (Inszenie-
rung: Cecilia Ligorio).
Um einen dritten Standpunkt hätte es
hier gehen müssen, auf den die außeror-
dentliche Musik ständig verweist. Ener-
gisch und stolz, brillant, leidenschaftlich
und graziös hat der Spontini-Enthusiast

Berlioz diese Musik genannt. Sie drängt
im beständigen Wechsel des Ausdrucks
unaufhaltsam vorwärts, findet sich über
schroffe, unerwartete Rückungen in ent-
fernten Tonarten wieder, vollendet selten
Kadenzen, treibt in teils atemlosen Mär-
schen die Akteure vor sich her. Das große
Duett von Cortez und Amazily in zweiten
Akt, in dem sich die Stimmen emblema-
tisch umschlingen, verdichtet sich zur
Chiffre für das Unaufhaltbare: Jeder An-

satz zu einem selbstverlorenen Moment
der Nähe wird durch gnadenlose Trompe-
tenfanfaren konterkariert. Von einem das
ganze Werk bestimmenden „impeto ar-
dente“ spricht Anselm Gerhard im Pro-
grammheft. Und er weist zu Recht auf
den Beethovenschen rhythmischen Furor
etwa der 7. Sinfonie hin.
Das ist es: Das Werk reflektiert die fun-
damentale, verstörende Beschleunigungs-
erfahrung der Zeit um 1800. Ganz Euro-

pa ist in Unruhe und Aufbruch, überall
durchziehende Soldaten, Trommelwirbel
und Kanonen. Nicht in der erzählten Ge-
schichte liegt die Hauptbotschaft, son-
dern in der rastlosen Musik zu großen Ta-
bleaus, die tendenziell statisch sind. Das
ist die Dialektik eines Werks, das für vie-
le, vor allem für Rossini, Berlioz und Mey-
erbeer, zum Muster der Kunst wurde: Die
Szene der meuternden Soldaten wird
zum Gründungsstück aller künftigen
Schwurszenen bis hin zur Schwerterwei-
he in Meyerbeers „Hugenotten“. Telascos
Klage ums Heimatland, gesungen gleich-
zeitig mit dem Marsch der auf Tenochtit-
lan vorrückenden Spanier, wird zu Cas-
sandres Klage ums verlorene Troja in Ber-
lioz’ „Die Trojaner“.
An den Mitteln wurde in Florenz nicht
gespart: ein präsentes Orchester, ein
mächtiger (wenn auch nicht immer per-
fekt koordinierter) Chor, ein brillantes
Ballett, das in Cortez’ Feldlager und spä-
ter im mörderischen Aztekentempel
sehr viel zu tun hat, und – als Einsprin-
ger für Fabio Luisi, der aus politischen
Gründen Florenz im Sommer den Rü-
cken gekehrt hat – der Dirigent Jean-Luc
Tingaud, ein ausgewiesener Spezialist
für die französische Grand Opéra. Her-
ausragend die Amazily von Alexia Voul-
garidou: ein dramatischer Sopran mit ei-
ner wunderbar metallischen Mezzo-
Tönung und großer dramatischer Ge-
staltungskraft. Daneben hielt vor allem
Gianluca Margheri als Cortez’ Freund
Moralez mit seinem kernigen, gut
fokussierten Bass das heroisch-passio-
nierte Niveau. Die Titelrolle war mit
Dario Schmuncks in der Höhe etwas
engem, zum Forcieren gezwungenen Te-
nor insgesamt in ordentlichen Händen.
Einen leider sehr schwachen Telesco
sang Luca Lombardo, der seine Arien
ohne jedes Verständnis für die französi-
sche Prosodie und ihre zu gestaltenden
Spannungsbögen nur durchbuchsta-
bierte, von Intonationsmängeln nicht zu
reden. Damit fiel der große Gegen-
spieler der Spanier weitgehend aus. Das
aber war der einzige wirkliche
Schwachpunkt eines neugeschriebenen
Stücks Musikgeschichte, dem jetzt nur
noch ein subtilerer inszenatorischer
Blick fehlt. KLAUS HEINRICH KOHRS

D


ienstagabend in einem Fein-
schmeckerlokal im Herzen von
Freiburgs Altstadt zwischen
Münster und Schlossberg, ein Mi-
chelin-Stern, sechzehn Gault-Millau-Punk-
te, auch sonst nur gute Bewertungen. Die
Bude brummt, die Gäste freut’s, der Koch
strahlt und schickt an diesem Abend fünf-
undsiebzig Couverts über den Pass – an
einem Dienstag, auf Sterneniveau, davon
können andere Spitzengastronomen nur
träumen! Wir gönnen es ihm gern, müssen
uns aber allein aus beruflich bedingter
Skepsis fragen, ob in der „Wolfshöhle“ von
Sascha Weiß nicht doch ein Wolf im Schafs-
pelz lauert und die Feinschmeckerküche
eine ganz andere ist, als sie vorgibt zu sein.
Die beiden Küchengrüße vor dem
Menü lassen noch alle Fragen offen, ein
Spargelsüppchen und ein Windbeutel mit
Kräutercremefüllung, das ist gut, aber
auch nicht allzu schwer und noch kein Ar-
beitsnachweis kulinarischen Einfallsreich-
tums. Danach kommt ein Gemüsesalat,
dessen Zutaten vollständig vom Erzeuger-
markt am Freiburger Münster stammen
und dessen Komposition keinen Wunsch
nach Kunstfertigkeit offenlässt. Karotten,
Erbsen, Radieschen, Zwiebeln, Blumen-
kohl, Bronzefenchel und vieles mehr wer-
den als Rauten, Röschen, Lanzen, Halbku-
geln, Julienne-Streifen zu einem Stillleben
im Stil der niederländischen Genre-Maler
des siebzehnten Jahrhunderts modelliert,
mit Frischkäse grundiert und mit Belper
Knolle, einem Pfefferknoblauchrohmilch-
käse aus der Schweiz, wie mit feinen
Schneeflocken dekoriert – in jeder Hin-
sicht ein schöner Teller, dem der Käse die
nötige Kraft und das lokale Gemüse eine
herrliche Frische fern aller Supermarktge-

müseimitationen in Plastikfolie geben.
Und beim nächsten Gang, feinen Würfeln
von der Entenleber in einer hochkonzen-
trierten und doch kristallklaren Enten-
Consommé mit nichts anderem als Bu-
chenpilzen, Steinchampignons und fri-

schen Erbsen, begleitet von einem Enten-
leber-Sandwich aus zerbrechlich zarten
Brotscheiben, ist die Furcht vor dem bö-
sen Wolf vorerst völlig verflogen.
Ließe man Sascha Weiß in Grimms Mär-
chen mitspielen, würde er sich ohnehin

ausschließlich für Rotkäppchens Korb
und nicht für Rotkäppchen selbst interes-
sieren. Er ist Koch und – was ihm genauso
wichtig ist – Gastgeber mit Haut und Haa-
ren, machte sich schon im Alter von drei-
undzwanzig Jahren mit einem Landgast-
hof im Markgräflerland selbständig, koch-
te dort auf hohem Niveau, ohne aber
seinen besternten Lehrmeistern Alfred
Klink und Bernhard Diers nacheifern zu
wollen. Nach zehn Jahren wusste er, dass
es Zeit für etwas Neues war und über-
nahm die „Wolfshöhle“, die ihren Namen
den einst auf dem Schlossberg hausenden
Wölfen verdankt und in ihrer langen Ge-
schichte schon Studentenkneipe, Braue-
rei, besserer Italiener war, und machte aus
ihr binnen neun Jahren eine kulinarische
Institution in Freiburg. Chapeau!
„Wirtshaus zur Wolfshöhle“ steht auf
der Fassade des geduckten Gebäudes aus
dem achtzehnten Jahrhundert, und etwas
anderes soll das Riesenlokal mit seinen
hundert Plätzen nach dem Willen von Sa-
scha Weiß auch gar nicht sein: ein Ort, an
dem man gleichermaßen mit kurzen Ho-
sen und Einkaufstüten zum Mittagessen
oder im vollen Ornat zum Abenddiner er-
scheinen, in dem man wahlweise Kraft-
brühe und Maultaschen für eine Handvoll
Euro oder ein großes Degustationsmenü
bestellen kann. Dass dem Michelin dieses
demokratische Konzept 2015 einen Stern
wert war, kam für den Patron völlig über-
raschend, und dass er seither mit dieser
Auszeichnung nicht offensiv wirbt, wirft
ein betrübliches Schlaglicht auf die kuli-
narische Kultur Deutschlands: Er wolle
niemanden verschrecken, sagt Weiß, man-
che Gäste erschreckten sich ja regelrecht,
wenn sie erführen, dass ihn der Michelin

ausgezeichnet habe. Wahrscheinlich gibt
es kein anderes Land auf Erden, in dem
sich die Menschen vor einem Stern und
nicht vor dem grimmigen Wolf fürchten.
Dabei gibt es bei Weiß nichts zu befürch-
ten. Er kocht puristisch, schnörkellos, un-
kompliziert, verzichtet auf Schäumchen,
Tupfer und auch sonst allen Zierrat auf
dem Teller, vergeudet keine wertvolle Ar-
beitszeit damit, seine Zutaten in drei Ag-
gregatzuständen zuzubereiten oder den
Gast mit Küchenzaubertricks zu überfor-
dern. Stattdessen schneidet er einen Hum-
mer so dünn zu einem Carpaccio auf, dass
er sich im Gaumen wie von selbst in Wohl-
gefallen auflöst, gibt ihm mit Piment d’Es-
pelette eine fein dosierte Feurigkeit und
mit Kumquat eine animierende Bitternote
und drapiert Kaiserstühler Artischocken-
herzen auf dem Ganzen, die allerdings die-
se Krustentier-Meditation eher stören als
vertiefen. Beim St-Pierre aus der Bretagne
wiederum greift er mit vollen Händen in
die Schatzkiste des prallen, opulenten Ge-
schmacksglücks, krönt den Petersfisch mit
wunderbar körnigem Ossietra-Kaviar aus
chinesischer Zucht und einer aromensat-
ten Beurre noisette, lässt also dieses Mal
den Erzeugermarkt weit hinter sich, weil
auch er weiß, dass der Genuss hin und wie-
der grenzenlos sein muss.
Manchmal aber kommt Sascha Weiß in
seinem Wolfswirtshaus an Grenzen. Der
Zander mit Saiblingskaviar, Räucheraal
und einer Kartoffel-Lauch-Julienne ist
eine klassische Aromenkombination, ein
fast schon schmucklos unkomplizierter,
auf das Wesentliche reduzierter und ge-
wiss kein schlechter Teller, doch die
Schönheit der Schlichtheit wirkt hier et-
was blass, weil man sich mitunter ein we-

nig mehr Verblüffung und Überraschung,
Staunen und Raunen wünschte. Erst
recht gilt das für den Hauptgang, den Mai-
bock, der, geschmort und rosa im Kräuter-
mantel gebraten, mit nackten Navettes
und simplen Sauerrahmspätzle serviert
wird – und aus Purismus einen minimalis-
tischen Schmalhans macht, der auf Dauer
der Spitzenküche nicht gut bekommt,
weil sie ganz ohne Capriccios und Kaprio-
len, ganz ohne Spielereien und Pirouetten
das Künstlerische ihrer Seele verliert und
weil das Gegenteil von unkompliziert
auch komplex statt kompliziert sein kann.
Das aber ist Sascha Weiß mit vollem
Recht egal, der sich für Michelin-Sterne
oder Gault-Millau-Punkte niemals verbie-
gen würde.Er kocht, wie er kocht, er gibt
nichts vor, was er nicht hält, er ist kein
Wolf im Schafspelz und besteht seinen Res-
tauranttest zweimal am Tag – sogar diens-
tagabends. JAKOB STROBEL Y SERRA
Wolfshöhle,Konviktstraße 8, 79098 Freiburg, Tele-
fon: 0761/30303, http://www.wolfshoehle-freiburg.de.
Menü ab 85 Euro.

Wer hat Angst


vorm bösen Wolf?


Geschmackssache


Den Spaniern


ist nicht zu trauen


Der Bund und die Länder wollen eine Kon-
taktstelle für deutsches Sammlungsgut aus
kolonialen Kontexten einrichten. Die Stel-
le soll Personen und Institutionen aus den
Herkunftsstaaten der Objekte den Zugang
zu Informationen über die Sammlungen
erleichtern und organisatorisch bei der
Kulturstiftung der Länder in Berlin ange-
siedelt sein. Im kommenden Frühjahr
wird sie ihre Arbeit aufnehmen. F.A.Z.

Helden in Blechrüstungen: Szene aus Gaspare Spontinis „Fernand Cortez“ in Florenz Foto Michele Monasta


Zumindest im Freiburger Restaurant „Wolfshöhle“ muss sich
niemand fürchten, denn dort kocht Sascha Weiß eine Spitzenküche
von schnörkelloser Unkompliziertheit, die manchmal aber an ihre
Grenzen stößt.

Kolonialkontexte
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der Sonntagszeitung und den Magazinen der F.A.Z.

ARCHIV


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Atemlos die Musik, doch brav die Inszenierung:


InFlorenz wird die Urfassung von Gaspare Spontinis


großer historischer Oper „Fernand Cortez oder die


Eroberung von Mexiko“ auf die Bühne gebracht.

Free download pdf