Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.10.2019

(avery) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft FREITAG, 18. OKTOBER 2019·NR. 242·SEITE 15


Der Finanzminister weilt dieser


Tage in Washington. Ist es seine


letzte große Dienstreise?Seite 17


Dem Gebäckhersteller Lambertz


ausAachen drohen Strafzölle für


den Export nach Amerika.Seite 18


Der Autozulieferer Brose


streicht rund 2000 Stellen und


zieht in Niedriglohnländer.Seite 22


Scholz geht in die Luft Trump nimmt Printen ins Visier Kahlschlag in Franken


P


opulistische Regierende mögen
häufig und gerne wilde und ver-
störende Reden halten. Am Ende des
Tages neigen sie gerade auf internatio-
nalem Terrain nach viel Brimborium
dann doch zu Verhandlungslösungen,
in denen ihre ursprünglichen, ver-
meintlich nicht verhandelbaren Forde-
rungen nicht einmal mehr als Erinne-
rungsposten Erwähnung finden. Spal-
tung im eigenen Land zu betreiben
und dabei den eigenen Machterhalt
nicht aus den Augen zu verlieren, ver-
braucht offenbar so viele Energien,
dass unbarmherzige Konfliktlösun-
gen auf der internationalen Ebene we-
nig erfolgversprechend erscheinen.
Das gilt für das Wirken des grie-
chischen Premierministers Alexis Tsi-
pras und seines ebenso großsprecheri-
schen wie konfusen Finanzministers
Yanis Varoufakis in der Griechen-
land-Krise vor ein paar Jahren ebenso
wie heute für den amerikanischen Prä-
sidenten Donald Trump und den briti-
schen Premierminister Boris Johnson.
In Verhandlungen mit solchen Politi-
kern darf man sich nicht ins Bocks-
horn jagen lassen. Wer in den vergan-
genen Jahren Matteo Salvinis Gerau-
ne über einen eventuellen Euro-Aus-
stieg Italiens ernst nahm, war selbst
dran schuld.
Das ist ein Grund, warum die von
populistischen Regierungen ausgelös-
te internationale Unsicherheit zwar
dem Wirtschaftswachstum in der Welt
nicht guttut, es andererseits aber – je-
denfalls bisher – nicht zu jenen schwe-
ren wirtschaftlichen Verwerfungen
führt, die Pessimisten vorhersagen. Of-
fenbar ist auch Johnson, angekom-
men in der Realität des Regierungs-
handelns, zum Schluss gelangt, die
wirtschaftlichen (und politischen) Ri-
siken eines Brexits ohne Deal nicht
tragen zu wollen. Jedenfalls scheint
der britische Premierminister nun be-
reit, einen Kompromiss mit der Euro-
päischen Union zu schließen, den Lon-
don viel früher hätte haben können,
den der Abgeordnete Boris Johnson
seiner Premierministerin Theresa
May aber niemals gestatten wollte.
Bewegt haben sich beide Seiten.
Die EU beharrt nicht mehr auf einem
Backstop in Irland, dafür akzeptiert
Johnson eine Zollgrenze in der Iri-
schen See und damit eine wirtschaftli-
che Ungleichbehandlung Nordirlands
gegenüber dem Rest des Vereinigten
Königreichs. Ob der Deal zustande
kommt, ist noch nicht abzusehen,
denn das Unterhaus in London, dem
in der jüngeren Vergangenheit die Fä-
higkeit zum Jasagen abhandengekom-
men ist, müsste ihm zustimmen. In
London formiert sich aber bereits ein
nicht auf Labour beschränkter Wider-
stand, von dem abzuwarten bleibt, ob
er nur reflexhafter Natur ist. Viel-
leicht kommt es sogar noch zu einem
zweiten Referendum. Die Euphorie,
mit der die Finanzmärkte am Donners-
tag die Nachrichten von einer Eini-
gung zwischen Johnson und der EU-

Kommission begrüßt haben, hielt je-
denfalls nicht einmal zwei Stunden.
Angesichts der vielfältigen wirt-
schaftlichen Herausforderungen muss
Europa, Großbritannien eingeschlos-
sen, das Brexit-Thema endlich hinter
sich lassen, das so viele physische und
psychische Ressourcen verbraucht
hat. Als die Briten für den Abschied
votierten, fanden sich auf dem euro-
päischen Kontinent – auch in Deutsch-
land – Sympathisanten, die angesichts
einer Unzufriedenheit mit dem Zu-
stand der EU Großbritannien als ein
Vorbild betrachteten, dem sich andere
anschließen sollten. Allein die unsägli-
chen Begleitumstände der britisch-eu-

ropäischen Separation werden auf ab-
sehbare Zeit Trennungswillige in an-
deren Ländern zurückhalten, auch
wenn sich nicht jede Regierung und je-
des Parlament so ungeschickt anstel-
len müssten wie Downing Street und
Westminster in den vergangenen Jah-
ren.
Die Europäische Union sollte sich
jedoch nicht täuschen: Mit Großbri-
tannien verlässt nicht nur ein Netto-
zahler das gemeinsame Haus, sondern
ein Land, das jenseits einer zuletzt oft
erratischen Politik Vorstellungen über
Freiheit und Marktwirtschaft pflegt,
die im Rest Europas häufig eine knap-
pe Münze sind. Das weiß auch Berlin,
wo die Hoffnung herrscht, dass kleine-
re Länder aus dem Norden des Konti-
nents, die sich bisher häufig hinter
den breiten Schultern Londons ver-
steckt hielten, ihre Stimmen künftig
lauter erheben werden.
Doch der sich gelegentlich „Neue
Hanse“ oder „Hanse 2.0“ nennende
Verbund aus den Niederlanden, Ir-
land, den skandinavischen und balti-
schen Ländern wird Großbritannien
in politischer Hinsicht kaum ersetzen
können, auch wenn ihre gesamte Wirt-
schaftsleistung rund 90 Prozent der
britischen erreicht. Vielmehr müsste
Deutschland eine aktivere Rolle in
der Bewahrung marktwirtschaftlicher
Prinzipien in der Europäischen Union
spielen. Aber eine Bundesregierung,
die schon im Inneren den marktwirt-
schaftlichen Geist vermissen lässt,
wird ihn kaum auf der internationalen
Bühne propagieren.
Nach einem Brexit wird Großbritan-
nien wirtschaftlich nicht untergehen
und sich zumindest zuerst einmal sei-
ner neuen Souveränität erfreuen.
Aber auch für Britannien wird es
schwierig. Denn in einer interdepen-
denten Welt mit globalen Liefer- und
Produktionsketten ist die Mitglied-
schaft in einem Verbund wie der Euro-
päischen Union nicht nur nachteilig.

E


ine der unangenehmen Folgen
des Brexits ist, dass er ein Milliar-
denloch in den EU-Haushalt reißt.
Schließlich fällt mit dem Vereinigten
Königreich einer der Hauptbeitrags-
zahler weg. Das schmerzt umso mehr,
als die EU zugleich mit dem Klima-
wandel, der Migration oder der Digita-
lisierung neue Aufgaben bewältigen
muss. Ohne frisches Geld für diese im
EU-Jargon „modernen Aufgaben“
geht es nicht. Haushaltskommissar
Günther Oettinger will den EU-Fi-
nanzrahmen für die Jahre 2021 bis
2027 deshalb kräftig aufstocken. Statt
bisher 1 Prozent der Wirtschaftsleis-
tung soll die EU 1,11 Prozent ausge-
ben. Das sind insgesamt nicht weniger
als 1,135 Billionen Euro. Das Europa-
parlament will sogar noch höher hin-
aus und fordert 1,3 Prozent. Das wä-
ren noch einmal 190 Milliarden Euro
mehr.
Zahlen soll das nach dem Brexit al-
len voran Deutschland. Das überweist
schon heute 13,5 Milliarden Euro
mehr im Jahr nach Brüssel, als es aus
den diversen EU-Töpfen zurückbe-
kommt, und ist damit der mit Abstand
größte Nettozahler der EU. Vergli-
chen mit Oettingers Budgetplänen
aber sind das Peanuts. Nach diesen

steigt der deutsche Nettobeitrag bis
2027 auf 30 Milliarden Euro im Jahr.
Da darf man wie Bundeskanzlerin An-
gela Merkel in ihrer Regierungserklä-
rung durchaus von einer „übermäßig
starken“ Belastung sprechen und „Ra-
batt“ fordern. Oettinger will die Höhe
der Beiträge am liebsten totschwei-
gen. Er erklärt die Debatte über Kos-
ten und Nutzen der EU für „sinnent-
leert“ und „schlichten Blödsinn“. Nur
wer stillschweigend das Geld herüber-
schiebt, ist ein guter Europäer.
Doch ist ein kritischer Blick legitim,
wenn es um die Umverteilung von
mehr als einer Billion Euro geht.
Dann zeigt sich, dass für die „moder-
nen Aufgaben“ wohlwollend gerech-
net bloß ein Drittel des Budgets vorge-
sehen ist. Der Rest fließt in „alte Auf-
gaben“ wie die überholte Agrarpoli-
tik. Hier allein ließen sich Milliarden
einsparen. Die Brüsseler Rechnung
„Brexit und moderne Aufgaben gleich
höhere Gesamtausgaben“ ist zu ein-
fach. Das aber erfordert den Mut, sich
mit der Bauernlobby anzulegen. Und
den Mut hat leider auch die Bundesre-
gierung nicht. Solange Agrarministe-
rin Julia Klöckner den Bauern ver-
spricht, die EU-Agrarhilfen würden
nicht gekürzt, und die Bundesregie-
rung zugleich mehr Geld für die mo-
dernen Ziele fordert, geht auch die
Berliner Rechnung nicht auf. Merkel
macht es sich zu einfach, wenn sie nur
Beitragsrabatte fordert.

loe./niza./ppl. BERLIN/FRANKFURT/
LONDON, 17. Oktober. Wirtschaftsvertre-
ter und Ökonomen haben überwiegend er-
freut auf die in Brüssel verkündete Eini-
gung auf ein neues EU-Austrittsabkom-
men für das Vereinigte Königreich rea-
giert. Damit würden die wirtschaftlichen
Turbulenzen und Schäden durch einen un-
geregelten Brexit vermieden. Bundeswirt-
schaftsminister Peter Altmaier (CDU)
sprach von einem „Licht am Ende des Tun-
nels“. Im besten Fall könne der Handel zwi-
schen Großbritannien und dem Kontinent
„ganz normal“ weitergehen.
Die Spitzenverbände der deutschen
Wirtschaft äußerten sich erleichtert, aber
angesichts des Widerstands der nordiri-
schen Partei Democratic Unionist Party
(DUP) noch skeptisch. Der Präsident des
Deutschen Industrie- und Handelskam-
mertags, Eric Schweitzer, betonte: „Der
No-Deal-Brexit ist erst vom Tisch, wenn
die Parlamente auf britischer wie auf EU-
Seite zugestimmt haben.“ Ähnlich sieht
das der Präsident des Außenhandelsver-
bands BGA, Holger Bingmann. Dass der
britische Premierminister Boris Johnson
spät, aber nicht zu spät Einsicht zeige, sei
ein wichtiger Schritt. Nun müssten aber
noch alle zustimmen, die EU-Staats- und
Regierungschefs, das EU-Parlament und
das britische Parlament. Während Erstere
dies am Donnerstagabend taten, ist dies
bei Letzteren noch fraglich. Thilo Brodt-
mann, Hauptgeschäftsführer des Maschi-
nenbauverbands VDMA, bereitet die künf-
tige Situation in Irland noch Sorge: Die


EU und die Briten müssten sicherstellen,
dass der „komplexe Kompromiss“ an der
irischen Grenze in der Praxis tatsächlich
funktioniere. Nordirland dürfe kein Ein-
fallstor für unverzollte Waren in den Bin-
nenmarkt werden. Auch der BDI warnt:
„Im Vergleich zur vorherigen Einigung
bleiben für die Unternehmen politische
Restrisiken auf lange Sicht bestehen.“
Der britische Unternehmerverband Insti-
tute of Directors sprach von „vorsichtiger
Erleichterung“. Die Unternehmen, beson-
ders jene in Nordirland, wollten die Details
der Einigung prüfen, bevor sie zu einer dezi-
dierten Ansicht kämen, „aber sie sind er-
freut, dass das Vereinigte Königreich und
die EU-Führer Schritte in Richtung einer Ei-
nigung gemacht haben“. Ob es im briti-
schen Parlament am Samstag eine Mehr-
heit geben wird, ist noch unklar. Die mit Bo-
ris Johnsons Konservativer Partei verbünde-
te nordirische DUP teilte mit, sie lehne den
Deal in dieser Form ab. Nordirische Wirt-
schaftsverbände stellten sich aber prinzi-
piell hinter den Deal. Sie warnten abermals
vor einem EU-Austritt ohne Abkommen,
der eine harte Grenze in Irland schaffe.
Der Pfundkurs hat seit Mitte der vergan-
genen Woche wegen der Aussicht auf eine
Einigung um 3,5 Prozent zum Euro zuge-

legt auf den höchsten Kurs seit fünf Mona-
ten. Am Donnerstag stieg das Pfund zu-
nächst – nachdem aber die DUP ihre Ableh-
nung kundtat, drehte der Kurs indes ins Mi-
nus. Der britische Aktienindex FTSE 100
lag im Tagesverlauf leicht im Plus.
Johnsons Regierung hat im Parlament
von Westminster keine Mehrheit und ist
auf die Stimmen der DUP sowie konserva-
tiver Brexit-Rebellen angewiesen. Mögli-
cherweise bekommt er auch Stimmen von
Labour-Abgeordneten aus Wahlkreisen,
die mehrheitlich für den Austritt sind. La-
bour-Partei und Gewerkschaften lehnten
das neue Abkommen rundweg ab. Der Ge-
werkschaftsverband TUC reagierte
harsch, Johnsons Deal sei „ein Desaster
für die arbeitenden Leute“. Er werde die
Wirtschaft schädigen und Jobs und Arbeit-
nehmerrechte kosten, so TUC-Generalse-
kretärin Frances O’Grady. Alle Abgeord-
neten sollten ihn ablehnen. Labour hofft
auf den Sturz der Johnson-Regierung und
will Parteichef Jeremy Corbyn als Nach-
folger installieren.
Ökonomen reagierten unterschiedlich
auf die Einigung. Commerzbank-Cheföko-
nom Jörg Krämer sprach von einer „saube-
ren Scheidung“. Das sei gerade für die ex-
portorientierte deutsche Wirtschaft sehr

wichtig. Guntram Wolff, Direktor der Brüs-
seler Denkfabrik Bruegel, reagierte erleich-
tert. Ein harter Brexit würde der britischen,
irischen und übrigen europäischen Wirt-
schaft erheblich schaden. Das erzielte Ab-
kommen erscheine ihm insgesamt vernünf-
tig, sagte er der F.A.Z. – alle Seiten hätten
roten Linien aufgegeben. Für Gabriel Fel-
bermayr, Chef des Kieler Instituts für Welt-
wirtschaft, kommt die Einigung deshalb
überraschend. Positiv sei, dass beide Ver-
handlungsseiten Bereitschaft gezeigt hät-
ten, sich zu bewegen und einen Kompro-
miss zu finden. Dennoch scheint das Ab-
kommen „in der Tendenz alter Wein in neu-
en Schläuchen zu sein“, sagte Felbermayr.
Denn es ähnele einem Vorschlag, den
schon Johnsons Vorgängerin Theresa May
gemacht habe, der aufgrund fehlender Un-
terstützung durch die DUP und Brexit-Hard-
liner aber keine Zustimmung im Parlament
fand. Auch der Ifo-Chef Clemens Fuest
mahnte, bevor man jubele, sollte man die
Ratifizierung im britischen Unterhaus ab-
warten. In jedem Fall sei ein Austritt ohne
Abkommen oder eine Verlängerung der
Austrittsfrist in der derzeit schwachen Kon-
junkturlage das Schlechteste, sagte Fuest.
Selbst wenn das britische Unterhaus dem
Vertrag zustimmte, blieben noch viele Fra-
gen offen, betonte wiederum der Nord-LB-
Chefökonom Christian Lips. Dann beginne
erst die eigentliche Arbeit – ein Folgeab-
kommen, wie die künftigen Beziehungen
zwischen Britannien und der EU aussehen
sollen.(Brexit-Abkommen gibt Märkten
nur kurzzeitig Auftrieb, Seite 23.)

Abschied von London


Von Gerald Braunberger


Es besteht die Chance auf
einengeregelten Brexit.
Ganz Europa muss jetzt
nach vorne schauen.

Große Hoffnung nach dem Brexit-Deal


Teure EU


Von Hendrik Kafsack, Brüssel


LONDON, 17. Oktober. Die kleine nord-
irische Provinz erwies sich bis zuletzt als
Stolperstein für ein Brexit-Abkommen.
Nur 1,8 Millionen Menschen leben in den
sechs Grafschaften, und doch stand der
nordöstliche Zipfel Irlands im Zentrum
der zähen Verhandlungen über ein EU-
Austrittsabkommen für das Vereinigte Kö-
nigreich. In Nordirland haben die Wähler
den Brexit beim Referendum vor drei Jah-
ren mehrheitlich abgelehnt. Nur in den
protestantischen Bezirken, wo die Demo-
cratic Unionist Party (DUP) stark ist, gab
es Mehrheiten für den EU-Austritt. An
den zehn DUP-Abgeordneten in West-
minster könnte es nun auch liegen, ob das
nun gefundene neue Brexit-Abkommen
am Samstag durchs britische Parlament
geht. Es wird knapp.
Die nordirische Wirtschaft hingegen
zeigte sich prinzipiell erfreut, dass ein
„Deal“ vorliegt, mit dem das Gespenst ei-
nes No-Deal-Brexits gebannt werden
kann. Ann McGregor, die Chefin der Indus-
trie- und Handelskammer, sagte am Don-
nerstag: „Die Wirtschaft in Nordirland hat
immer klargemacht, dass ein Deal essen-
tiell ist. Die absolute Priorität für die Unter-
nehmen und die Wirtschaft ist, einen chao-
tischen, ungeordneten EU-Austritt am 31.
Oktober zu vermeiden.“ Jetzt müssten die
Unternehmen aber die Details der in Brüs-
sel gefundenen Lösung studieren, erst
dann könnten sie sich ein Urteil bilden.
Die wirtschaftliche Bedeutung Nordir-
lands ist indes gering – vielmehr geht es
um die Frage, ob der wackelige Frieden


zwischen Protestanten und Katholiken
durch den Brexit gefährdet wird. Es galt,
auf jeden Fall eine neue harte Grenze mit
Kontrollen entlang der ungefähr 500 Kilo-
meter langen kurvenreichen Linie zu ver-
meiden. Jeden Tag überfahren Hunderte
oder gar Tausende Lastwagen von Händ-
lern und Produzenten diese unsichtbare
Grenze. Die Guinness-Brauerei fährt bei-
spielsweise jährlich mit bis zu 18 000 Last-
wagen in beiden Richtungen. Jede Verzö-
gerung hätte Millionenkosten verursacht.
Auch die Landwirte zitterten, die ohnehin
unter den niedrigen Fleischpreisen leiden.
In jeder Woche werden ungefähr 5000
Lämmer von Irland nach Nordirland zum
Schlachten gefahren – und 10 000 Schwei-
ne vom Norden in den Süden.
Eine Grenze hätte stark negative Aus-
wirkungen auf die gesamte irische Wirt-
schaft, die im Norden deutlich schwächer
ist als im Süden. Laut einer aktuellen Um-
frage der nordirischen Industrie- und Han-
delskammer sieht mehr als ein Drittel der
Unternehmen den Landesteil schon auf

der Kippe zu einer Rezession im nächsten
Jahr. Nordirland wird aus dem britischen
Finanzausgleich jedes Jahr mit mehr als
10 Milliarden Pfund unterstützt.
Bislang ist Nordirland, wie das ganze
Vereinigte Königreich, im EU-Binnen-
markt und in der EU-Zollunion. Mit dem
Brexit tritt Großbritannien aus beidem
aus. Doch Nordirland wird nach dem jetzt
entworfenen Brexit-Deal im Binnenmarkt
bleiben und damit faktisch auch weiter in
der Zollunion. Die nötigen Kontrollen wer-
den in die Irische See verlegt – das war Bo-
ris Johnsons Zugeständnis, das den Durch-
bruch brachte. Es soll allerdings Ausnah-
men für bestimmte Güter geben. Für die
DUP sind die Kontrollen in der Irischen
See indes dennoch eine sehr bittere Pille.
Sie kündigte an, der Einigung ihre Zustim-
mung zu verweigern. Ob Johnsons Deal
so am Samstag eine Mehrheit erhält, ist
also fraglich. Bislang gibt es in der Iri-
schen See nur Kontrollen für Tiertranspor-
te, diese wurden seit der Maul- und Klau-
enseuche eingeführt. Kontrollen für alle

anderen Güter wären ein qualitativ neuer
Schritt.
Die Zollfrage wird dann besonders viru-
lent, wenn Großbritannien nach dem Bre-
xit Handelsabkommen mit anderen Staa-
ten abschließt und eventuell niedrigere
Zölle erhebt als die EU. „Das wird dann
kompliziert, denn ein nordirisches Unter-
nehmen kann dann beim Export nach Bri-
tannien einen Teil der gezahlten EU-Im-
portzölle zurückfordern“, erklärt Peter
Cleppe von der Denkfabrik Open Europe.
Eine andere heikle Frage im Brexit-Deal
betrifft die künftige Mehrwertsteuerrege-
lung, die VAT (Value Added Tax). In der
Republik Irland gilt der VAT-Standardsatz
von 23 Prozent, im Vereinigten Königreich
sind es 20 Prozent. Zudem gibt es verschie-
dene ermäßigte Sätze. Wenn künftig Gü-
ter über die irische Grenze transportiert
werden, können Händler verlangen, die
Differenz steuerlich geltend zu machen.
EU-Unterhändler Michel Barnier sagte,
die neue Brexit-Lösung schaffe „Konsis-
tenz“ bei den verschiedenen VAT-Steuer-
sätzen – doch wie das in der Praxis funktio-
nieren soll, wird noch schwierig werden.
Es droht vermutlich mehr Bürokratie in
der Steuerverwaltung und für die Händler.
Angesichts der nicht gesicherten Zustim-
mung zum neuen Deal (der alte wurde drei-
mal in Westminster abgelehnt) hält sich
die nordirische Wirtschaft aber noch zu-
rück mit voreiligem Jubel. „Wir waren hier
schon einmal“, sagt Ann McGregor, „und
es ist noch ein langer Weg, bevor die Unter-
nehmen zuversichtliche Pläne für die Zu-
kunft machen können.“ PHILIP PLICKERT

So sieht die geplante


Lösung für Nordirland aus


Die Provinz bleibt in der EU-Zollunion.


Das ist eine bittere Pille für die DUP.


Treten die Briten nun geordnet aus der EU aus?


Die Wirtschaft setzt darauf. Doch Skepsis bleibt – denn


das Parlament in London muss noch zustimmen.


Links Nordirland, rechts Irland:Diese Grenze ist die heikelste Frage in den Brexit-Verhandlungen. Foto Getty

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