Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.10.2019

(avery) #1

SEITE 4·FREITAG, 18. OKTOBER 2019·NR. 242 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Frankfurter Zeitung
Gründungsherausgeber Erich Welter †

VERANTWORTLICHE REDAKTEURE:für Innenpolitik: Dr. Jasper von Altenbockum; für
Außenpolitik: Klaus-Dieter Frankenberger, Dr. Nikolas Busse (stv.); für Nachrichten: Dr. Ri-
chard Wagner; für „Zeitgeschehen“:Dr. Reinhard Müller; für „Die Gegenwart“: Dr. Daniel
Deckers; für Deutschland und die Welt: Dr. Alfons Kaiser; für Politik Online: Thomas Holl;
für Wirtschaftspolitik: Heike Göbel;für Wirtschaftsberichterstattung: Johannes Penne-
kamp; für Unternehmen: Sven Astheimer;für Finanzen: Inken Schönauer;für Wirtschaft
und Finanzen Online:Alexander Armbruster, Christoph Schäfer;für Sport: Anno Hecker,
Peter Penders (stv.); für Sport Online: Tobias Rabe; für Feuilleton: Hannes Hintermeier, San-
dra Kegel; Jakob Strobel y Serra (stv.); für Literatur und literarisches Leben: Andreas Plat-
thaus;für Feuilleton Online: Michael Hanfeld;für Rhein-Main-Zeitung: Dr. Matthias Alex-
ander; Manfred Köhler (stv.).


FÜR REGELMÄSSIG ERSCHEINENDE BEILAGEN UND SONDERSEITEN:Beruf und
Chance: Nadine Bös; Bildungswelten: Dr. h.c. Heike Schmoll;Der Betriebswirt: Georg
Giersberg; Der Volkswirt: Maja Brankovic;Die Lounge: Johannes Pennekamp; Die Ord-
nung der Wirtschaft: Heike Göbel;Forschung und Lehre: Thomas Thiel;Geisteswissen-


schaften: Patrick Bahners; Immobilien: Michael Psotta; Jugend schreibt: Dr. Ursula Kals; Ju-
gend und Wirtschaft: Lisa Becker; Kunstmarkt: Dr. Rose-Maria Gropp; Medien: Michael
Hanfeld; Menschen und Wirtschaft: Philipp Krohn; Natur und Wissenschaft: Joachim Mül-
ler-Jung; Neue Sachbücher: Hannes Hintermeier; Politische Bücher: Dr.Peter Sturm;
Recht und Steuern: Dr. Hendrik Wieduwilt; Reiseblatt: Freddy Langer; Staat und Recht: Dr.
Reinhard Müller; Technik und Motor: Holger Appel.
Bildredaktion:Christian Pohlert;Chefin vom Dienst:Dr. Elena Geus;Grafische Gestal-
tung:Holger Windfuhr (Art Director);Informationsgrafik:Thomas Heumann.
DIGITALE PRODUKTE:Carsten Knop (Chefredakteur), Kai N. Pritzsche (Redaktions-
leiter).
GESCHÄFTSFÜHRUNG:Thomas Lindner (Vorsitzender); Dr. Volker Breid.
VERANTWORTLICH FÜR ANZEIGEN:Ingo Müller.
Anzeigenpreisliste Nr. 79 vom 1. Januar 2019 an; für Stellenanzeigen: F.A.Z.-Stellen-
markt-Preisliste vom 1. Januar 2019 an. Internet: faz.media
HERSTELLER:Andreas Gierth.
MONATSBEZUGSPREIS:Inland: Abonnement Frankfurter Allgemeine Zeitung
67,90€; einschließlich Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 74,90 €. Abonnenten
der gedruckten Zeitung lesen für einen Aufpreis von 10,00 € die digitalen Ausgaben
der F.A.Z. und Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Darin enthalten ist außerdem

der vollständige Zugang zur Website FAZ.NET. Mehr Informationen zu allen Angebo-
ten und Preisen (z. B. für junge Leser und Studierende, Geschäftskunden, Digital- und
Auslandsabonnements) im Internet unter abo.faz.net. Ihre Daten werden zum Zweck
der Zeitungszustellung an Zustellpartner und an die Medienservice GmbH & Co. KG,
Hellerhofstraße 2– 4, 60327 Frankfurt am Main, übermittelt. Gerichtsstand ist Frankfurt
am Main.
NACHDRUCKE:Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wird in gedruckter und digitaler
Form vertrieben und ist aus Datenbanken abrufbar. Eine Verwertung der urheber-
rechtlich geschützten Zeitung oder der in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen,
besonders durch Vervielfältigung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zu-
stimmung des Verlages unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urhebergesetz
nicht anderes ergibt. Besonders ist eine Einspeicherung oder Verbreitung von Zei-
tungsinhalten in Datenbanksystemen, zum Beispiel als elektronischer Pressespiegel
oder Archiv, ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Sofern Sie Artikel dieser Zeitung nachdrucken, in Ihr Internet-Angebot oder in Ihr Int-
ranet übernehmen oder per E-Mail versenden wollen, können Sie die erforderlichen
Rechte bei der F.A.Z. GmbH online erwerben unter http://www.faz-rechte.de.Auskunft er-
halten Sie unter [email protected] oder telefonisch unter (069) 7591-2901.Für
die Übernahme von Artikeln in Ihren internen elektronischen Pressespiegel erhalten
Sie die erforderlichen Rechte unter http://www.presse-monitor.de oder telefonisch unter
(030) 28 49 30, PMG Presse-Monitor GmbH.

© FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG GMBH, FRANKFURT AM MAIN
DRUCK:Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG, Kurhessenstraße 4–6,
64546 Mörfelden-Walldorf; Märkische Verlags- und Druck-Gesellschaft mbH Pots-
dam, Friedrich-Engels-Straße 24, 14473 Potsdam; Süddeutscher Verlag Zeitungs-
druck GmbH, Zamdorfer Straße 40, 81677 München.
Amtliches Publikationsorgan der Börse Berlin, Rheinisch-Westfälischen Börse zu Düs-
seldorf, Frankfurter Wertpapierbörse, Hanseatischen Wertpapierbörse Hamburg, Nie-
dersächsischen Börse zu Hannover, Börse München, Baden-Württembergischen
Wertpapierbörse zu Stuttgart
ANSCHRIFT FÜR VERLAG UND REDAKTION:
Postadresse: 60267 Frankfurt am Main, Hausanschrift: Hellerhofstraße 2–4, 60327
Frankfurt am Main; zugleich auch ladungsfähige Anschrift für alle im Impressum ge-
nannten Verantwortlichen und Vertretungsberechtigten.
TELEFON:(069)7591-0. Anzeigenservice: (069)7591-33 44. Kundenservice: (0 69)
75 91-10 00oder http://www. faz.net/meinabo.
Telefax: Anzeigen(0 69)7591-80 89 20; Redaktion (0 69) 75 91-17 43; Kundenservice
(0 69) 75 91-21 80.
BRIEFE AN DIE HERAUSGEBER: [email protected]
Deutsche Postbank AG, Frankfurt am Main;
IBAN: DE58 5001 0060 0091 3936 04; BIC: PBNKDEFF

bub.BERLIN, 17. Oktober. Bundesin-
nenminister Horst Seehofer (CSU) hat
am Donnerstag einen Sechs-Punkte-
Plan zur Bekämpfung des Antisemitis-
mus in Deutschland angekündigt. In ei-
ner gemeinschaftlichen Aktion von
Bund und Ländern werde man „alles
Menschenmögliche“ tun, um jüdische
Einrichtungen besser zu schützen, sagte
Seehofer in einer Debatte im Bundestag.
Der Minister lobte die Sicherheitsbehör-
den als „qualifiziert, sensibel und auf-
merksam“ bei der Verfolgung antisemiti-
scher Straftaten, sowohl das Bundeskri-
minalamt als auch der Verfassungs-
schutz brauchten aber „einige hundert“
zusätzliche Stellen. Hierfür bat er den
Bundestag um Unterstützung. Seehofer
berichtete, wie in Halle am Tag nach
dem Anschlag ein Mann gerufen habe:
„Ihr könnt uns nicht beschützen.“ „Das
ist für uns alle ein Auftrag, dass dieser
Satz nicht mehr fällt“, sagte Seehofer.
Seehofer sagte, die Herausforderung
für die Behörden liege darin, dass heute
„frustrierte Einzeltäter“ am Werk seien,
die „außerhalb der Öffentlichkeit ohne
zunächst erkennbare Verbindungen zu ir-
gendjemandem“ agierten. Scharfe Kritik
am Begriff des Einzeltäters übte die Grü-
nen-Fraktionsvorsitzende Katrin Gö-
ring-Eckardt, die der Bundesregierung
vorwarf, viel zu lange weggeschaut oder
nur halbherzig gehandelt zu haben. Bun-
desjustizministerin Christine Lambrecht
(SPD) kündigte für kommende Woche
konkrete Vorschläge zum schärferen
Kampf gegen Rechtsextreme an. Im Netz-
werkdurchsuchungsgesetz wolle sie eine

Pflicht für die Betreiber sozialer Netzwer-
ke festschreiben, Morddrohungen und
hetzerische Äußerungen den Behörden
zu melden. „Wir müssen den Nährboden
für Hass, Hetze und Gewalt austrock-
nen“, sagte sie. Lambrecht plädierte
auch für eine Verschärfung des Waffen-
rechts: Waffen dürften nicht in die Hän-
de von Extremisten gelangen, deshalb
müsse vor der Erteilung einer Waffener-
laubnis eine Abfrage beim Verfassungs-
schutz erfolgen.
Bundestagspräsident Wolfgang
Schäuble (CDU) verurteilte, dass in Reak-
tionen auf Twitter „auf diese von Juden-
hass getriebene Tat weiter mit Ab- und
Ausgrenzung von Menschen gespielt
wird“. Mit dem Teilen dieser Reaktionen
stelle man sich außerhalb des Grundkon-
sens“ sagte Schäuble, „das gilt erst recht
für Mitglieder dieses Hauses“. Gemeint
war Stephan Brandner (AfD), Vorsitzen-
der des Rechtsausschusses, der einen
Tweet geteilt hatte, in dem zwischen
„deutschen“ Opfern und denen in Mo-
scheen und Synagogen unterschieden
wurde. Abgeordnete von Union, SPD,
Linken, Grünen und FDP hatten ihn zum
Rücktritt aufgefordert. Seehofer appel-
lierte an den Partei- und Fraktionsvorsit-
zenden der AfD Alexander Gauland, sich
von Worten seines Parteifreundes zu dis-
tanzieren. Doch Gauland tat das nicht,
sondern warf den anderen Fraktionen
vor, die AfD mit „beispielloser Hetze“ zu
überziehen.Stunden nach der Debatte
entschuldigte sich Brandner für sein Ver-
halten. Er habe den Tweet „inhaltlich
von Anfang an nicht geteilt“.

jib. WIESBADEN, 17. Oktober. Der um-
strittene frühere Mitarbeiter des hessi-
schen Verfassungsschutzes Andreas Tem-
me war dienstlich mit dem mutmaßli-
chen Mörder des Kasseler Regierungsprä-
sidenten Walter Lübcke befasst. Das sag-
te Hessens Innenminister Peter Beuth
(CDU) am Donnerstag im Innenaus-
schuss des Hessischen Landtags. Temme
war schon einmal in den Fokus der Er-
mittler geraten, als es um die Aufklärung
des vom „Nationalsozialistischen Unter-
grund“ begangenen Mordes an Halit
Yozgat in einem Kasseler Internetcafé im
Jahr 2006 ging. Er hatte sich zum Tatzeit-
punkt in dem Café befunden, wollte je-
doch weder die Tat mitbekommen noch
den sterbenden Yozgat gesehen haben.
Temme führte damals mehrere V-Leute.
Dass Temme sich als „Sachbearbeiter
in Nordhessen“ dienstlich mit dem mut-
maßlichen Lübcke Mörder Stephan E. be-
fasst habe, sei „nicht überraschend“, sag-
te ein Sprecher des hessischen Innenmi-
nisteriums am Donnerstag. Es seien
zwei Berichte in der Personenakte von

E. im Jahr 2000 mit dem Namen Temme
gezeichnet. Dem Verfassungsschutz sei-
en keine dienstlichen Treffen zwischen
E. und Temme bekannt. Dieser sei seit
2007 nicht mehr beim Verfassungs-
schutz beschäftigt.
Nachdem E. seit 2009 angeblich nicht
mehr auffällig gewesen war, sperrte der
Verfassungsschutz seine Akte. Vor dem
Hintergrund der Aussage Beuths stelle
sich insbesondere die Frage, ob Temme
an der Entscheidung, dass E. als „abge-
kühlt“ galt, mitgewirkt habe, sagte der in-
nenpolitische Sprecher der FDP-Frakti-
on, Stefan Müller. Nach Angaben von Po-
litikern von SPD, FDP, Linken und AfD
wird nun ein Untersuchungsausschuss
immer wahrscheinlicher.
Schon zuvor war bekanntgeworden,
dass offenbar auch Markus H., über den
der Verfassungsschutz ebenfalls eine
Akte führte und über den E. seine Waf-
fen erhalten haben soll, einen Bezug zum
NSU-Mord hatte. H. soll Yozgat gekannt
haben und deswegen 2006 von den Er-
mittlern vernommen worden sein.

Seehofer: Mehr Schutz für Juden


Sechs-Punkte-Plan vorgestellt / Hunderte neue Stellen


...
Der 9. Oktober 2019 war ein Tag der
Scham und der Schande für dieses Land,
für diese Demokratie. Und er hat auf er-
schreckende Weise deutlich gemacht: Ja,
wir haben ein Problem mit unserer politi-
schen Streitkultur. Mit einer Streitkultur,
die über die vergangenen Jahre ein gefähr-
liches Substrat aus verrohter Sprache,
Hass und Hetze hat wachsen lassen. Der
Weg von solch verrohter, zynischer, uner-
bittlicher Sprache zur offenen Gewalt, er
ist ganz offensichtlich kurz geworden.
...
Wer heute noch von Einzelfällen
spricht, der redet an der Tiefenstruktur
des Problems vorbei. Wahr ist doch, dass
sich im ganzen Land die gewaltsamen
Übergriffe mehren, sowohl auf Menschen,
die sich für unser Gemeinwesen einsetzen,
als auch gegen Menschen, die anders aus-
sehen, anders denken oder anders glau-
ben. Wer den Zusammenhang dieser Ge-
walt mit der Verrohung unserer Debatten
leugnet, der ist entweder naiv oder nach-
lässig. Wie kann ein Täter als Einzeltäter
gelten, wenn er von rechtsextremen Seil-
schaften im Internet inspiriert und getra-
gen, von dumpfen Parolen auf Marktplät-
zen und in sozialen Medien befeuert wird?
Die Tat von Halle reiht sich ein in eine
lange Linie von rechtsextrem, antisemi-
tisch oder rassistisch motivierten Morden
und Gewaltakten in unserem Land. Den-
ken wir an die Anschläge von München,
1970 auf das Altenheim der Israelitischen
Kultusgemeinde und 1980 auf das Oktober-
fest, an Rostock-Lichtenhagen, an Mölln
und an Hoyerswerda, an die Mordserie des
sogenannten Nationalsozialistischen Un-
tergrunds oder an den Mord an Walter Lüb-
cke. Denken wir auch jenseits unserer
Grenzen an Oslo und Utøya in Norwegen,
an Pittsburgh in den Vereinigten Staaten
oder an Christchurch in Neuseeland.
All diese Taten waren aus Worten er-
wachsen – aus kruden Manifesten, aus ein-
schlägigen Internetforen, aus verrohter


Sprache, aus schrittweisen Grenzverschie-
bungen, auch aus Beschwichtigungen und
Relativierungen, aus stillen oder explizi-
ten Sympathiebekundungen all derer, die
zwar selbst nicht zur Waffe greifen, die
aber das Wort als Waffe nutzen.
Ich will offen bekennen: Mich entsetzt
die kaum verhohlene Bereitschaft zur Ge-
walt, die den Tätern den Rücken stärkt.
Mich entsetzt die dumpfe Verachtung von
Minderheiten, von Andersdenkenden,
von demokratischen Institutionen. Mich
entsetzen Äußerungen, die Opfer solcher
Gewalt vor der Tat zu Freiwild erklären
und sie im Nachgang noch verhöhnen.
Lassen Sie es mich deshalb in aller
Deutlichkeit sagen: Jeder, der Hass
schürt, bereitet den Boden für Gewalt.
Und jeder, der für Hass und Hetze, für
Rechtsextremismus und Fremdenhass
auch nur einen Funken Verständnis auf-
bringt, der macht sich mitschuldig!
Nach Halle sind Bestürzung und Entset-
zen im Land groß. Und gleichzeitig fragen
sich viele im Angesicht einer so furchtba-
ren Tat: Was bedeutet das für mich? Was
kann ich schon tun, außer traurig und ent-
setzt zu sein? Meine Antwort ist: sehr viel!
Denn buchstäblich wir alle prägen das De-
battenklima in unserem Land. Halle und
die viel zu vielen anderen Gewalttaten
sind in Wahrheit die grausame Spitze ei-
nes Eisberges von Verrohung und Polari-
sierung, der tief in unsere Alltagskultur
hineinragt. Das bedeutet: Jeder und jede
von uns kann und muss Sorge tragen für
den politischen Streit um sich herum, im
sozialen Netzwerk, im Betrieb, in der Knei-
pe und am eigenen Abendbrottisch.

...
Eines will ich klarstellen: Es geht in mei-
nen Augen schon lange nicht mehr um die
Frage, ob „das Internet“ nun eine gute
oder schlechte Sache für die Demokratie
sei, der Allheilsbringer oder die Abrissbir-
ne. Und schon gar nicht sollten wir einem
Gegensatz zwischen den Generationen
das Wort reden, zwischen einer vermeint-


lich homogenen „Netz-Community“ und
den ahnungslosen „Offline-Oldies“. Wahr
ist: 90 Prozent der Deutschen sind heute
in der einen oder anderen Form online ak-
tiv. Und damit ist der politische Diskurs
im Internet, ganz nüchtern, zu einem fes-
ten Bestandteil unserer Demokratie gewor-
den. Das bedeutet schlicht und einfach:
Demokratischer Diskurs gelingt in Zu-
kunft nur, wenn er auch im Netz gelingt.

...
Und genauso wie ich diesen Appell an
die Politik richte, so richte ich ihn an Me-
dien und Journalismus. Es ist ein kostba-
res Gut für diese Demokratie, dass Zeitun-
gen und öffentlich-rechtlicher Rundfunk
großes Vertrauen genießen – übrigens
auch und gerade bei der Jugend, bei gut
80 Prozent nach einer neuen Studie, in ei-
ner Generation, die zwar inmitten von
Twitter, Facebook und Co. aufgewachsen
ist, ihnen aber mit kritischer Skepsis ge-
genübersteht. Und eben deshalb rate ich
den Medien: Baut in der digitalen Über-
flutung auf genau diese Stärke, auf Ver-
lässlichkeit, Differenzierung und solide
Recherche, und verzichtet dafür gern auf
den täglichen Hype und die nächste Erre-
gungskurve. Nicht die schnelle, sondern
die richtige Nachricht schafft Vertrauen!
...
Die Aufkündigung des demokratischen
Konsenes erfolgt – auch in unserem Land –
nicht auf einen Schlag. Sondern sie erfolgt
sukzessive, durch viele kleine Nadelstiche:
hier eine Herabsetzung des Gegenübers,
dort eine historische Relativierung, dann
eine Verächtlichmachung des politischen
Systems, schließlich eine Verhöhnung der
Opfer von Gewalttaten. Jeder einzelne Ver-
such womöglich zu klein, um uns aus der
Ruhe zu bringen. Aber die schiere Flut und
Dauererregung scheinbar viel zu groß, um
als Einzelner gegensteuern zu können. Ge-
nau dort liegt in meinen Augen aber die
Gefahr. Denn gerade in der Summe, in der
täglichen Kanonade von Angriffen werden
aus vielen kleinen Verletzungen die klaffen-


den Wunden, an denen unsere Debatten-
kultur heute krankt und erodiert.

...
Erstens müssen wir geltende Regeln
strikter durchsetzen. Der Anschlag auf un-
sere Demokratie beginnt nicht erst beim
politischen Mord. Antisemitische oder
rassistische Beleidigungen, islamophobe
oder homophobe Herabsetzungen, im-
mer und immer wieder auch frauenver-
achtende, sexistische, auf brutalste Weise
entwürdigende Äußerungen, wie sie Re-
nate Künast und viele andere – auch hier
im Saal Anwesende – öffentlich erdulden
müssen, solche Entgleisungen sind es, die
der Gewalt den Weg bereiten.
...
Es ist gut, dass der Gesetzgeber in die-
sen Wochen nach Wegen sucht, strafbare
Äußerungen, gerade auch im digitalen
Raum, mit neuer Konsequenz zu ahnden.
Es ist gut, dass Polizei und Staatsanwalt-
schaften sich verstärkt der Durchsetzung
von geltendem Recht im Netz widmen.
Und es ist gut, dass die unabhängige Ge-
richtsbarkeit mit diesen Fragen ringt und
nach Antworten sucht, die unserem
Recht, unseren Gesetzen und den Grund-
werten unserer Verfassung Rechnung tra-
gen. Vielleicht ist es tatsächlich an der
Zeit, dass unsere höchsten Gerichte sich
einmal grundlegend dem Gleichgewicht
von Meinungsfreiheit und Persönlichkeits-
schutz im digitalen Zeitalter widmen.
...
Zweitens und mindestens ebenso wich-
tig ist aber, dass die demokratische Mehr-
heit sich nicht vertreiben lässt vom Ge-
brüll der wenigen – und das nicht nur auf
den Marktplätzen, sondern auch in den
Kommentarspalten und Debattenräumen
im Internet! Denn die Hater stehen nie
und nimmer für die Mehrheit in diesem
Land – sie sind am Ende nichts weiter als
tobende und geifernde Scheinriesen.
...
(Auszüge aus einer Rede vor der Konrad-Ade-
nauer-Stiftung am 17. Oktober 2019)


HAMBURG/FRANKFURT,
17.Oktober


E


inen Tag vor seiner ersten Vorle-
sung an der Universität Hamburg
schreibt ein Mitarbeiter der Univer-
sität an Bernd Lucke. Es gehe um seine
Verantwortung für die sichere Durchfüh-
rung der Vorlesung, heißt es in der
E-Mail, die dieser Zeitung vorliegt. Hörsä-
le seien nur für eine bestimmte Anzahl
von Personen zugelassen – wegen der
Fluchtwege. „Aus diesem Grund haben
Lehrende dafür Sorge zu tragen, dass Si-
cherheitsstandards während der Vorle-
sung eingehalten werden, und haben bei
Überfüllung entsprechende Maßnahmen
zu ergreifen.“ Als Lucke am Mittwoch sei-
ne Vorlesung im Saal B im Hauptgebäude
der Universität halten will, ist die Überfül-
lung des Vorlesungssaals jedoch sein ge-
ringstes Problem. Er kommt gar nicht zu
Wort. Er wird beschimpft, zum Verlassen
des Saals aufgefordert, angerempelt, mit
Papierkugeln beworfen. Antifa-Banner
sind auf Bildern aus dem Vorlesungssaal
zu sehen, und in einem Video auf Twitter
ist ein Sprechchor zu hören: „Nazi-Schwei-
ne raus aus der Uni“. Nach zwei Stunden
wird Lucke von der Polizei aus dem Saal
begleitet. Wie konnte es so weit kommen?
Bekannt war die Abneigung des Ham-
burger Astas gegen Bernd Lucke schon lan-
ge. Im Juli kündigte der Asta „lautstarke
Proteste“ an. Lucke habe mit seiner „bür-
gerlichen Fassade den Weg der AfD zur
menschenverachtenden und rassistischen
Partei geebnet“, hieß es in einer Erklä-
rung. Er habe mit der Partei „ein Monster“
geschaffen. Die Asta-Vertreter gaben zwar
zu, dass Lucke vor dem Hintergrund der
heutigen AfD „fast ein wenigwie derSau-
bermann“ wirke. Sie gestanden ein, man


könne Lucke „vielleicht sogar Glauben
schenken, wenn dieser sagt, dass er selbst
kein Rassist sei“. Sie warfen ihm aber vor,
keine „größeren Anstrengungen“ gegen
die damals schon in der Partei vorhande-
nen Radikalen unternommen zu haben.
Für Lucke war das eine Steilvorlage. Er
bereitet sich seit 2017 auf einen Gegenbe-
weis vor. Damals saß Lucke immer noch
als Europaabgeordneter in Brüssel und
schrieb an einem Dokument der Rechtfer-
tigung. Für die Jahre 2013 bis 2015 listete
er alle Maßnahmen auf, die unter seiner
Führung gegen Rechtsradikale in der AfD
unternommen wurden – samt Belegen. Es
ging um jede Kleinigkeit. Das las sich so:
„15. 5. 2013 – In einem Interview mit dem
Bayerischen Rundfunk wurde ich mit Äu-
ßerungen des (aufgrund von Wahlunregel-
mäßigkeiten) umstrittenen bayerischen
Landesvorsitzenden Martin Sichert kon-
frontiert (.. .) Daraufhin beantragte ich
im Bundesvorstand ein Parteiausschluss-
verfahren gegen Sichert“. Im Januar 2018
hatte diese Rechtfertigung zwölf Seiten,

aktuell ist sie schon 27 Seiten lang. Veröf-
fentlicht hatte Lucke sie nie, er schickte
sie aber an den Hamburger Asta, als er
von den Vorwürfen hörte. Und er bat
schon vor den Protesten um ein Gespräch
mit den Studentenvertretern, das ihm aus
Zeitgründen zunächst verwehrt wurde.
Der letzte Punkt von Luckes Apologie
ist zugleich der stärkste. Auf dem Essener
AfD-Parteitag 2015 verlor er den Partei-
vorsitz nach einem langen Kampf gegen
die Radikalen. Lucke hätte viele Möglich-
keiten gehabt, sich durch eine Duldung
der Rechtsnationalen im Amt zu halten.
Diese Gelegenheiten ließ er aus. Nach lan-
gen Querelen gipfelte sein Kampf um libe-
rale Prinzipien in seinem Plan, den homo-
sexuellen Sohn eines Muslims in das Amt
des Generalsekretärs zu bringen. Dazu
kam es nicht mehr. Luckes Kampf um die
AfD war verloren.
Nach dem Eklat im Vorlesungssaal gab
es eine Erklärung von Katharina Fege-
bank (Grüne), der Wissenschaftssenato-
rin und Zweiten Bürgermeisterin, und von

Dieter Lenzen, dem Präsidenten der Ham-
burger Universität. In der äußerten beide,
dass „Universitäten als Orte der Wissen-
schaft die diskursive Auseinandersetzung
auch über kontroverse gesellschaftliche
Sachverhalte und Positionen führen und
aushalten müssen – insbesondere vor dem
Hintergrund der deutschen Geschichte“.
Kritik am Asta oder den Protesten gab es
nicht.
Am Donnerstag klingt es schon anders.
Fegebank sagt auf Nachfrage: Die Rück-
kehr Luckes „emotionalisiert“. Es dürfe
und solle diskutiert werden. „Wie im Hör-
saal mit Herrn Lucke umgegangen wurde,
widerspricht allerdings den Regeln fairer
politischer und demokratischer Auseinan-
dersetzung.“ Es sei legitim, dass der Asta
zu Protesten aufrufe. Es gehe allerdings
nicht, dass Luckes Lehrveranstaltungen
niedergebrüllt würden. „Eine politische
Auseinandersetzung ist wünschenswert,
aber dafür sollten wir Formate außerhalb
des Hörsaals finden“. Aus Behördenkrei-
sen heißt es zudem, die Polizei habe seit
langer Zeit Kenntnis von der Demonstrati-
on gehabt. Es habe vorab einen vertrau-
ensvollen Austausch zwischen der Univer-
sität und den zuständigen Behörden gege-
ben, darüber hinaus seien von Beginn an
„Präsenzkräfte“ der Polizei vor Ort gewe-
sen. Gemeint waren offenbar Zivilbeam-
te. „Damit war die Sicherheit der Veran-
staltung und von Herrn Lucke zu jeder
Zeit gewährleistet.“ Die Universität teilte
mit, laut Polizei sei kein Einschreiten er-
forderlich gewesen, da keine Straftat fest-
gestellt worden sei. In einem Gespräch
zwischen Hochschulleitung und Lucke sei
vorab besprochen worden, den Verlauf
der ersten Vorlesung abzuwarten und erst
bei weiter gehender Störung „entsprechen-
de Maßnahmen zu ergreifen“.
Lucke erzählt am Donnerstag, wie be-
eindruckt er von „seinen“ Studenten gewe-
sen sei im Hörsaal. Also jenen, die etwas
über „Makroökonomik“ hören wollten. In
ihre Reihe hatte er sich gesetzt und ausge-
harrt. Wie eine Eins hätten sie zu ihm ge-
standen. Er gab Donnerstagmittag das Se-
minar „Bahnbrechende Beiträge zur Volks-
wirtschaftslehre“, ohne dass es zu Zwi-
schenfällen kam. Am Nachmittag war ein
Treffen mit dem Asta angesetzt – der sich
am Donnerstag von den Störungen distan-
zierte – und danach mit Lenzen. Lucke hat
schon angekündigt, weiterzumachen. Am
nächsten Mittwoch gibt er wieder „Makro-
ökonomik II“. Wenn man ihn lässt.

pca.BERLIN, 17. Oktober. Nach Jahren
des Streits zwischen Deutschland und
Frankreich um den Export von Rüstungs-
gütern in Staaten außerhalb der Nato ha-
ben sich beide Länder auf neue Verfah-
ren verständigt. Sie sind kompliziert, stär-
ken aber die Hoffnung, dass die europäi-
sche Verteidigungsindustrie auf Grundla-
ge gemeinsamer Werte verlässliche Ver-
einbarungen schließen kann. Wenn deut-
sche und französische Unternehmen ge-
meinsam Rüstungsgüter entwickeln und
bauen, soll künftig nicht wegen Einzeltei-
len aus einem Land ein Export-Veto
möglich sein. Dies war in den vergange-
nen Jahren immer mal wieder der Fall,
teilweise wurden wegen einiger Schrau-
ben oder Schleifringe Ausfuhren verhin-
dert. Betroffen waren vor allem Exporte
aus Frankreich. Deutschland hielt sich
für moralisch verpflichtet dazu, was in
Frankreich wiederum als hochmütig
empfunden wurde. So gab es in den ver-
gangenen Jahren immer wieder Ärger.
Bei Gütern mit einem Partner-Anteil
von weniger als zwanzig Prozent soll in
Zukunft ein vereinfachtes Genehmi-
gungsverfahren gelten. Ausgenommen
sind jedoch Kriegswaffen, die in einer
deutsch-französischen Liste aufgeführt
werden, also etwa, wenn Maschinenge-
wehre, die auf französische Lastwagen
montiert werden, aus Deutschland kom-

men. Dann bleibt es beim bisherigen Ge-
nehmigungsverfahren durch das Wirt-
schaftsministerium und den Bundessi-
cherheitsrat. Aus deutscher Sicht kann
das Abkommen verhindern, dass sich
das Siegel „Made without Germany“ zu
einem Argument für Rüstungskäufe ent-
wickelt. Geschäfte sind dabei das eine,
politische Kooperation und Technologie-
erhalt das andere. Für eine Bundeswehr
mit zweihundert Kampfpanzern lohnt es
sich nicht, einen Leopard-Nachfolger zu
entwickeln. Deshalb planen beide Län-
der einen gemeinsamen Panzer. Doch
wie soll man mit Kaufwünschen Dritter
umgehen, also mit Ländern, die nicht
zur Nato gehören?
Lange galten Grundsätze, die Anfang
der siebziger Jahre die damaligen Vertei-
digungsminister Michel Debré und Hel-
mut Schmidt ausgehandelt hatten. Ihr
Abkommen sah vor, dass die Regierun-
gen sich nicht daran hindern werden,
Kriegswaffen oder sonstiges Rüstungs-
material, das aus gemeinsamer Entwick-
lung oder Fertigung hervorgegangen ist,
in Drittländer auszuführen. Eine solche
Regelung wäre Frankreich noch heute
am liebsten, in Deutschland aber ist sie
vor allem bei der SPD nicht mehr durch-
setzbar. Im neuen Verfahren soll ein
deutsch-französisches Konsultationsgre-
mium Konflikte vermeiden helfen. Zum
Abkommen soll es nach einem Kabinetts-
beschluss einen rechtsverbindlichen
deutsch-französischen Notenwechsel ge-
ben. Eine Beteiligung des Bundestages
ist nicht vorgesehen.

„Halle ist die grausame Spitze eines Eisberges“


Bundespräsident Steinmeier über den Zusammenhang von Sprache und Gewalt, über Extremismus und Mitschuld


Umstrittener V-Mann-Führer mit


Lübcke-Verdächtigem „befasst“


Innenminister Beuth räumt Verbindung zu Stephan E. ein


Der Mann und das Monster


Weniger Ärger,


mehrKooperation


Für die Herstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird ausschließlich Recycling-Papier verwendet.


InHamburg verhindern


Störer, dass Bernd


Lucke seine Vorlesung


halten kann. Wie


konnte es zu dem


Eklat kommen?


Von Justus Bender und


Matthias Wyssuwa


Kommt nicht zu Wort:Lucke am Mittwoch in der Universität Hamburg Foto dpa

Free download pdf