Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.10.2019

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FREITAG, 18. OKTOBER 2019 Deutschland und die Welt FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


RUINERWOLD, 17. Oktober.Chris Wes-
terbeek steht am Donnerstagmittag zu-
sammen mit seiner Mutter vor der Knei-
pe, in der er als Barkeeper arbeitet, und
räumt auf. Die kleine Kneipe an der
Hauptstraße im ostniederländischen Ort
Ruinerwold wird erst in ein paar Stunden
öffnen. Aber in den vergangenen Tagen
ist viel Arbeit liegengeblieben. „Ich habe
wirklich zu tun“, sagt Westerbeek. Dann
erzählt der Siebenundzwanzigjährige die
Geschichte aber doch noch einmal, die in
dieser Kneipe ihren Anfang nahm und
seit ein paar Tagen um die Welt geht: In ei-
nem abgelegenen Bauernhof sollen ein
Vater und seine sechs Kinder, die heute
18 bis 25 Jahre alt sind, seit 2010 in einer
Kammer gehaust haben – ohne dass da-
von irgendjemand etwas mitbekam. Die
Polizei brachte die Familie in dieser Wo-
che an einen sicheren Ort und nahm den
Mieter des Bauernhofs fest: Wegen des
Verdachts der Freiheitsberaubung wurde
gegen den 58 Jahre alten Österreicher Jo-
sef B. am Donnerstag Haftbefehl erlas-
sen. Am Abend teilte die zuständige Poli-
zei zudem mit, dass sie auch den Vater
der Familie festgenommen hat. Er werde
der Freiheitsberaubung, Misshandlung
und Geldwäsche verdächtigt.
Wie diese Geschichte an die Öffent-
lichkeit kam? Barkeeper Westerbeek
sagt: „Am Sonntagabend kam gegen
zehn Uhr ein verwirrter Mann in die
Kneipe.“ Er sei etwa 1,80 Meter groß ge-
wesen, habe lange Haare und einen Bart
gehabt. „Man hat in seinem Gesicht gese-
hen, dass irgendwas mit ihm nicht
stimmt.“ Als einziger Gast habe er sich
nach draußen an einen Tisch gesetzt.
„Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen,
habe ihn gefragt, wo er herkommt und
was er hier am späten Abend macht.
Aber er hat meine Fragen nicht beantwor-
tet“, sagt Westerbeek. „Ich habe ihn rein-
geholt. Und dann hat er gesagt, dass er
nicht mehr nach Hause kann und Hilfe
braucht. Da habe ich die Polizei gerufen.“
Ob er den Mann früher schon mal gese-

hen hatte? „Eine Woche vorher zum ers-
ten Mal, aber nur kurz. Er kam mitten in
der Nacht in die Bar, es war viel los, er
hat fünf Bier bestellt, sie ganz schnell ge-
trunken, dann war er wieder weg. Bei sei-
nem zweiten Besuch war er auch nur
kurz da. Bei seinem dritten habe ich
dann die Polizei gerufen.“
Die machte daraufhin eine unglaubli-
che Entdeckung: In einem verlassen wir-
kenden und von Zäunen umgebenen Bau-
ernhof fanden Ermittler hinter einem
Schrank eine Treppe, die in einen abge-
schotteten Raum führte. Dort lebten der
Mann und seine Kinder. Der 58 Jahre alte
Vater soll nach einem Schlaganfall bettlä-
gerig sein, mit dem gleichaltrigen Josef B.
war er nach Angaben einer früheren Nach-
barin bereits seit 15 Jahren befreundet.
Beide waren gemeinsam auch Inhaber ei-
nes Spielzeugladens im nahe gelegenen
Zwartsluis. Das Geschäft, das seit 2010 ge-
schlossen ist, wurde am Mittwochabend
von der Polizei durchsucht, genau wie ein
weiterer Betrieb des Vaters. Es gibt Hin-
weise, dass beide Männer einer Sekte an-
gehören. Die österreichische „Kronen-
Zeitung“ zitierte aus Gesprächen mit
zwei Brüdern von Josef B. Er sei 1961 im
oberösterreichischen Waldhausen als ei-
nes von fünf Bauernkindern geboren wor-
den und habe eine Tischlerlehre mit Aus-

zeichnung abgeschlossen. Während sei-
ner Dienstzeit beim Bundesheer in Linz
sei er mit einer Sekte in Berührung gekom-
men. Sein ältester Bruder sagte demnach:
„Er war bei einer Sekte, ist sich selber bes-
ser vorgekommen als der Jesus. Seit zehn
Jahren haben wir keinen Kontakt mehr.
Ich hab ihn verjagt, als er wollte, dass ich
für ihn bürge.“ Bis vor gut zehn Jahren
habe Josef B. im oberösterreichischen
Pabneukirchen gewohnt. Zugleich sei er
in Wien gemeldet gewesen. In jener Zeit
soll er aber auch schon Kontakte in die
Niederlande geknüpft haben. Mit einer Ja-
panerin habe er Zwillingstöchter, die in-
zwischen erwachsen seien. Niederländi-
sche Medien berichteten, dass Josef B.
und der Familienvater des Bauernhofes
Mitglieder der „Vereinigungskirche“ des
Koreaners Moon seien. Die Sekte demen-
tierte das in Österreich aber.
Gegen die Gerüchte, dass die Familie
auf „das Ende der Zeit“ gewartet hätte
und die Kinder eine Phantasiesprache re-
den würden und nicht gewusst hätten,
dass es außer ihnen noch andere Men-
schen gibt, sprechen auch Social-Media-
Beiträge des 25 Jahre alten Sohnes. Er
war nach einer Pause von mehr als neun
Jahren plötzlich wieder im Internet aktiv
geworden, hatte klar und verständlich auf
Niederländisch und Englisch geschrieben
und sich als Manager eines Online-Holz-

handels bezeichnet, der Josef B. gehört
haben soll. Die Mutter der Familie soll
demnach 2004 gestorben sein.
Der Weg von der Kneipe in Ruiner-
wold, in der der junge Mann am Sonntag
Hilfe suchte, zu dem Bauernhof, von dem
er kam, dauert mit dem Auto etwa zehn
Minuten. Es geht auf einer schmalen Stra-
ße vorbei an Schafen, Kühen und Schwei-
nen, irgendwann sind kaum noch Häuser
zu sehen. Die Fernsehkameras, die vor ei-
nem kleinen Fluss aufgebaut sind, verra-
ten aber, wo der Hof liegt. Eine Spezial-
einheit der niederländischen Polizei
durchsucht ihn am Donnerstag noch ein-
mal, alle Räume werden digital erfasst.
Zwei breit gebaute Mitarbeiter eines Si-
cherheitsdiensts lassen außer den Ermitt-
lern niemanden über die kleine Brücke,
die zu dem Grundstück führt.
Etwa 500 Meter entfernt räumt ein
Nachbar gerade sein Auto aus. Er wohnt
mit seiner Familie seit 20 Jahren hier, aus
dem Fenster kann man den Bauernhof se-
hen, in dem offenbar seit Jahren heimlich
eine Familie lebte. „Niemand hier hat et-
was davon mitbekommen, es ist wirklich
unglaublich“, sagt der Mann. Auch nicht
von dem Mieter, der jetzt verhaftet wur-
de? „Doch, den habe ich fast jeden Tag ge-
sehen, wenn er auf dem Weg zu dem
Grundstück war. Zum ersten Mal wahr-
scheinlich vor etwa neun Jahren. Man hat
sich gegrüßt, das war es. Ich dachte, er re-
noviert das Haus und zieht irgendwann
ein.“ Noch am Montag soll Josef B. als
Tischler in einer Werft im wenige Kilo-
meter entfernten Meppel gearbeitet ha-
ben. Sein Chef sagte laut der „Bild“-Zei-
tung nach der Festnahme: „Er war immer
bis um 15 Uhr da, sagte dann, er müsse im
Garten arbeiten oder Heu machen. Dann
kam er um 19 Uhr wieder und arbeitete
bis 23 Uhr.“ Er sei ein „hochangesehener
Handwerker“ gewesen. Und auch der
Nachbar hielt ihn für einen „ganz norma-
len Mann“. Allerdings habe niemand je
wirklich mit ihm gesprochen. „Er wollte
offensichtlich seine Ruhe haben. Das hat
uns nicht gewundert, viele Leute ziehen
her, weil sie ihre Ruhe haben wollen.
Aber eigentlich kennen wir uns alle gut,
insofern war das schon ungewöhnlich.
Wenn ich einen Hammer brauche, gehe
ich zu meinen Nachbarn.“ Jetzt sei er ge-
spannt, was die Ermittlungen ergeben.
An einen Gedanken wird er sich aber
wohl gewöhnen müssen: „Was ich unfass-
bar finde: Meine Kinder sind ungefähr
so alt wie die, die auf dem Nachbargrund-
stück aufgewachsen sind. Gleichzeitig,
jahrelang, ohne dass wir davon wuss-
ten.“ Wie alt er selbst ist? 58, sagt er. Ge-
nau wie der Österreicher Josef B. und
der Vater der sechs Kinder, die jetzt laut
Polizei an einem sicheren Ort sind.

ktr. MÜNCHEN, 17. Oktober. Auch eine
verschärfte Gesetzeslage scheint Stalker
nicht abzuschrecken: Die Anzahl der Be-
troffenen, denen permanent nachge-
stellt wird, ist in den vergangenen 15 Jah-
ren nicht zurückgegangen. Das ist das Er-
gebnis einer Studie für die Stadt Mann-
heim, die das Zentralinstitut für Seeli-
sche Gesundheit in Mannheim (ZI) im
Auftrag der Stiftung der Opferschutzor-
ganisation „Weißer Ring“ erarbeitet hat.
Dabei genügt es für die Strafbarkeit der
Täter mittlerweile, wenn ihre Handlun-
gen „objektiv“ geeignet sind, das Leben
der Betroffenen zu beeinträchtigen. Bis
zur Gesetzesänderung vor zwei Jahren
musste hingegen die schwerwiegende Be-
einträchtigung anhand der Reaktion der
Opfer nachgezeichnet werden, zum Bei-
spiel durch einen Umzug der Betroffe-
nen.

Das ZI hat für die Untersuchung im
vergangenen Jahr tausend Frauen und
tausend Männer in Mannheim ange-
schrieben. Die Daten wurden dann mit
einer Erhebung aus dem Jahr 2003 vergli-
chen. Von den im Jahr 2018 Befragten
haben 10,8 Prozent angegeben, von Stal-
king betroffen zu sein. 15 Jahre zuvor
war dieser Anteil mit 11,6 Prozent fast
identisch. Die Studie ist nach Angaben
des ZI repräsentativ für Mannheim, aber
nicht für ganz Deutschland.
Nach wie vor sind die gesundheitli-
chen Folgen des Stalkings, das überwie-
gend Frauen betrifft, gravierend. „Stal-
king ist psychische Gewalt und eine
schwerwiegende Straftat. Die Opfer lei-
den teils jahrelang unter den Folgen der
permanenten Nachstellung und Belästi-
gung“, kommentierte der „Weiße Ring“
am Donnerstag das Ergebnis der Studie.

Stalking werde daher zu einem immer
wichtigeren Thema in der Opferarbeit.
Gezeigt hat die Studie auch, dass in-
zwischen mehr Opfer professionelle Hil-
fe suchen, allerdings nur 34,8 Prozent
der Betroffenen, trotz der gesundheitli-
chen Folgen. 2003 waren es 27 Prozent.
Von Nachstellungen am Arbeitsplatz
oder vor der Wohnungstür abgesehen,
bieten Internet und soziale Medien Stal-
kern zusätzliche Möglichkeiten für ihre
Übergriffe. Die Anzahl der Betroffenen
erhöht sich jedoch laut Studie dadurch
nicht in statistisch signifikantem Um-
fang. Das Hauptproblem sei nach wie
vor, dass es meist ehemalige Partner sei-
en, die Stalker oder Stalkerin werden.
Sie verfügen oft über sensible Informatio-
nen: Sie kennen die Adresse des Fitness-
studios, Passwörter, Arbeitszeiten. Die
neuen rechtlichen Möglichkeiten, gegen

Stalker vorzugehen, werden von rund
der Hälfte der Betroffenen im Jahr 2018
als „nicht ausreichend“ eingeschätzt. Zu-
dem ist es oft schwierig, das Stalking
nachzuweisen.
Der „Weiße Ring“ verweist auf die von
ihm entwickelte App „No Stalk“. Mit der
unentgeltlichen App könnten Fotos, Vi-
deos und Sprachaufnahmen von Über-
griffen erstellt werden. Durch die Doku-
mentation werde eine „authentische Be-
weissammlung“ ermöglicht. Auf diese
Weise könne auch die Verurteilungsquo-
te erhöht werden: 2017 lag sie demnach
bei etwa einem Prozent der in der Polizei-
lichen Kriminalstatistik erfassten Stal-
king-Fälle. Zudem können Betroffene
sich anonym an die Online-Beratung
oder das Opfer-Telefon des „Weißen
Rings“ wenden. Das ZI in Mannheim bie-
tet eine Spezialambulanz für Opfer an.

„Die irre Welt des Keller-Josef“ –
so überschrieb die Krawallzeitung
„Österreich“ ihren entsprechenden
Bericht am Donnerstag. Und Micha-
el Jeannée, Postpoet der „Kronen-
Zeitung“, fabulierte: „Wenn es Sie
beim Lesen dieser Geschichte frös-
telt, geht’s Ihnen wie mir. Josef,
der Österreicher. Ein schwerer Kas-
ten vor einer Tür, hinter der ein
paar Stiegen ins nämliche düstere
Untergeschoss führen. Da werden
Assoziationen wach. Kampusch,
Fritzl.“
Gemeint ist Josef Fritzl, der einst
mit seiner Tochter Enkelkinder
zeugte und diese Familie in Amstet-
ten im Keller seines Hauses ein-
sperrte. Und Natascha Kampusch,
deren Name in der „Krone“ unbe-
kümmert neben dem eines Täters
steht, obwohl sie als Kind Opfer ei-
ner Entführung war und von einem
Täter namens Wolfgang Priklopil
jahrelang in einem Kellerverlies ge-
fangen gehalten wurde. Kampusch
hat gerade erst wieder ein lesens-

wertes Buch herausgebracht.
Darin setzt sie sich mit der seltsa-
men Neigung der „Cyberneider“ aus-
einander, sie entweder als immer-
währendes Opfer oder als sinistre
Täterin sehen zu wollen, aber nicht
als selbstbestimmte und lebenszu-
friedene Erwachsene.
Dabei geht es in dem Fall in Rui-
nerwold, wo der Mann mit dem
Spitznamen „Josef, der Österrei-
cher“ der Freiheitsberaubung ver-
dächtigt wird, gar nicht um einen
Keller, sondern um eine ebenerdige
Kammer. Das hatte sich am Don-
nerstag auch in Österreich schon,
außer bei jenen Zeilenschmieden,
herumgesprochen. Aber es war halt
zu verlockend. „Wo ein Österreicher
ist, glaubt man den Keller nicht
weit“, schreibt Karl Gaulhofer in
der „Presse“. Sein Verdacht: „Wir
liefern einfach zu viel Material für
Assoziationen.“ Die Kapuzinergruft.
Kellergassen in den Weingärten.
Die Bunker der Nazis. Sigmund
Freud. (löw.)

Der Anak Krakatauin Indonesien rumort
weiter. Der zwischen den Inseln Java und
Sumatra gelegene Vulkan hatte bei einem
Ausbruch im Dezember 2018 einen Tsuna-
mi ausgelöst, der mehr als 430 Menschen
das Leben kostete. Tausende wurden da-

mals verletzt. Durch den Ausbruch im ver-
gangenen Dezember verlor der Anak Kra-
katau („Kind von Krakatau“) einen Groß-
teil seiner sichtbaren Höhe. Die gleichna-
mige Insel war nach der Eruption des Vul-
kans Krakatau im August 1883 entstan-
den. Der Ausbruch damals war so heftig,
dass die bis dahin bestehende Insel im
Meer versank. Mehr als 35 000 Menschen
kamen ums Leben. (dpa)
Die beiden Mitarbeitereines Paketdiens-
tes in Haldensleben sind eines natürli-
chen Todes gestorben. Das habe die Ob-
duktion der Leichen ergeben, teilte die Po-
lizei am Donnerstag mit. Die Untersu-
chungen am Mittwochabend in der
Rechtsmedizin hätten keine Hinweise auf
Vergiftungen ergeben, sagte eine Spreche-
rin. Weitere Angaben wurden nicht ge-
macht. Der Betrieb in dem Hermes-Ver-
sandzentrum ist wieder angelaufen. Zwei
Mitarbeiter waren dort kurz nacheinan-
der tot aufgefunden worden, woraufhin
die Polizei Ermittlungen einleitete. (dpa)

Strengere Gesetze schrecken Stalker offenbar nicht ab


Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ empfiehlt, Übergriffe per App zu Beweiszwecken zu dokumentieren


Als Denis Scheck 13 Jahre alt war, gründe-
te er eine Literaturagentur, um seine Hel-
den der amerikanischen Science-Fiction-
Literatur im deutschsprachigen Raum zu
vertreten. Er verkaufte sogar ein Buch in
die DDR. Inzwischen gehört er mit seiner
Literatursendung „Druckfrisch“ in der
ARD zu den einflussreichsten deutschen
Kritikern. In dieser Woche erschien sein
Buch „Schecks Kanon“ (Piper). Im
F.A.Z.-Podcast „Am Tresen“ spricht
Scheck über seine Kindheit in einem
Dorf, Lesen als Rettung und politische
Korrektheit. (tist./marw.)


Übers Land:„Ich fand die Entscheidung
meiner Eltern furchtbar, aufs Land zu zie-
hen. Die haben mich glücklichen Stadt-
bewohner, Asphalttreter, mit neuneinhalb
Jahren in einer an Robert Louis Stevenson
oder Charles Dickens erinnernden Aktion
entführt, gekidnappt! Gott, wie habe ich
dieses Kaff gehasst, 232 Einwohner. Man
konnte dem Nichts beim nichten zusehen.
Unglaublich öde! Für mich war Literatur
immer die Feile, mit der ich mich befreien
konnte aus dem Gefängnis, das meine El-
tern auf dem Dorf errichtet haben.“


Über Gedichte:„Für mich ist jemand, der
keine Gedichte liest, eine eher unappetit-
liche Erscheinung. Das ist, als ob man
sich nicht die Zähne putzt. Ich kann doch
nicht mit Sprache zu tun haben und auf
Dichtung verzichten.“


Über Sprachgebrauch: „Aus Büchern
von Astrid Lindgren oder Otfried Preuß-
ler heute problematische Begriffe wie ,Zi-
geuner‘ oder ,Neger‘ zu streichen, das ist,
als wenn Menschen mit Farbeimern in die
Museen laufen, um Genitalien zu überma-
len. Wenn wir es nicht aushalten, dass
Sprache eine Entwicklung vollzieht und
man in den fünfziger Jahren gewisse Be-
griffe noch gesagt und geschrieben hat,
die man heute aus guten Gründen nicht
mehr sagt und schreibt, dann müssen wir
eben bedauernd Abschied nehmen von
den Werken Otfried Preußlers und Astrid
Lindgrens und sie durch Bücher ersetzen,
die zu 100 Prozent unser Wertesystem
spiegeln. Wir dürfen aber nicht wie das Or-
wellsche Wahrheitsministerium die Ver-
gangenheit umschreiben und dann noch
behaupten, das sei Lindgren oder das sei
Shakespeare. Das halte ich für irrwitzig.“


Über Bestechung:„Autos, Immobilien,
Luxusreisen: Was habe ich mir überlegt,
als ich diesen Beruf ergriff, wie man mich
bestechen würde! Was soll ich Ihnen sa-
gen – nichts gab es bisher. Was mache ich
falsch?“


Über den Nobelpreis:„Peter Handke hat
sich mit seinen politischen Äußerungen,
mit seinem Engagement im Serbien-
Krieg, vollkommen vergaloppiert. In
Schweden ist man aber zur Erkenntnis ge-
langt, dass man sich politisch total in die
Nesseln setzen kann und trotzdem ein
künstlerisches Werk von titanischer Grö-
ße schaffen. Diese Ambiguität auszuhal-
ten, das lehrt ja gerade die Literatur. Kön-
nen böse Menschen gute Literatur schrei-
ben? Caravaggio war ein Mörder. Ich
möchte trotzdem auf ihn als Künstler
nicht verzichten. (.. .) Was für eine An-
sammlung von Lügnern, Betrügern,
Hochstaplern und Hurenböcken sind die
Menschen, denen wir die Weltliteratur
verdanken. Vom Kinderglauben, dass das
alles reine Seelen waren, müssen wir uns
verabschieden. Wir müssen den mensch-
lichen Makel in der Kunst akzeptieren.“


Den F.A.Z.-Podcast „Am Tresen“können Sie über
iTunes, Spotify und alle gängigen Player abonnie-
ren. Mehr unter http://www.faz.net/amtresen.


bin. HANNOVER, 17. Oktober.Die Zahl
der Autodiebstähle ist weiter stark rückläu-
fig. Der Gesamtverband der Deutschen
Versicherungswirtschaft (GDV) sprach
am Donnerstag angesichts der neuen Zah-
len für das Jahr 2018 von einem „Rekord-
tief“. Nach Angaben des Verbands sind im
vergangenen Jahr 15 037 kaskoversicherte
Fahrzeuge gestohlen worden. Das sind
14 Prozent weniger als 2017. Mitte der
neunziger Jahre lagen die Zahlen noch um
ein Vielfaches höher. Damals wurden rund
100 000 Fahrzeuge im Jahr gestohlen.
Das Risiko, Opfer eines Autodiebstahls
zu werden, verteilt sich weiterhin regional
sehr unterschiedlich. Am höchsten ist die
Gefahr in Berlin. In der Bundeshauptstadt
wurden im vergangenen Jahr 2877 Fahr-
zeuge gestohlen. In den beiden großen
Ländern Bayern und Baden-Württemberg
wurden damit zusammengenommen nicht
einmal halb so viele Fahrzeuge gestohlen
wie in Berlin. Die Quote von Diebstählen
je 1000 kaskoversicherter Fahrzeuge lag
in Berlin bei 3,1. Ein hohes Risiko ermittel-
te der GDV auch für die Städte Leipzig
(1,5), Hamburg (1,4) sowie Hannover
(1,0). Besonders häufig entwendet wur-
den teure Limousinen und SUVs. Das am
häufigsten gestohlene Modell war der
SUV Mazda CX-5 2.2. AWD. Auch SUVs
von BMW wurden häufig gestohlen. Die
Versicherer mussten für die gestohlenen
Fahrzeuge im Schnitt 19 800 Euro zahlen,
das sind rund sieben Prozent mehr als im
Vorjahr. Insgesamt lag der Schaden bei
298 Millionen Euro.

Foto dpa


MÜNCHEN, 17. Oktober (dpa).Die Wahl
zum „Jugendwort des Jahres“ fällt in die-
sem Jahr aus. Das bestätigte der Leiter des
Pons-Verlags, Erhard Schmidt, am Don-
nerstag. Ob es sich um ein endgültiges Aus
für die stets medienwirksam inszenierte
Wahl oder nur um eine Pause handelt sei
noch unklar. Hintergrund ist eine Umwäl-
zung in der Verlagslandschaft. Jahrelang
hatte der Langenscheidt-Verlag das Jugend-
wort gesucht, um damit Werbung für sein
Lexikon „100 Prozent Jugendsprache“ zu
machen. Eine Jury kürte Wortneuschöp-
fungen wie „Smombie“, ein Kunstwort aus
Smartphone und Zombie, den Satz „Läuft
bei dir“, „Babo“, was so viel bedeutet wie
Boss, und „Yolo“ für „You only live once“.
In diesem Frühjahr aber hatte die Konkur-
renz, der zur Klett-Gruppe gehörende
Pons-Verlag, die Marke Langenscheidt
übernommen. „Der Deal kam für das Pro-
dukt zu einem ungünstigen Zeitpunkt“,
sagt Pons-Chef Schmidt. Der Zustand des
Lexikons „war nicht so, dass wir das Pro-
dukt in diesem Jahr in einem vernünftigen
Zustand zu Ende führen konnten“. Des-
halb fällt jetzt auch die Werbung dafür aus.


pwe. TOKIO, 17. Oktober.Aus Respekt
vor den Opfern der Überschwemmungen
nach dem gewaltigen Taifun Nummer 19
in Japan wird die für den kommenden
Dienstag geplante Parade zur Inthronisie-
rung des neuen Kaisers Naruhito auf den


  1. November verschoben. Das gab Minis-
    terpräsident Shinzo Abe am Donnerstag
    bekannt, während er die vom Taifun getrof-
    fenen Gebiete im Nordosten des Landes be-
    suchte. Die Regierung wolle sich zunächst
    um die Überschwemmungskatastrophe
    kümmern. Die anderen Feiern zur Inthro-
    nisierung sollen aber wie geplant stattfin-
    den. Naruhito, der schon am 1. Mai nach
    dem Rücktritt seines Vaters Kaiser gewor-
    den war, wird am Dienstag vor Dutzenden
    Staatsgästen formal Japan und der Welt
    den Wechsel auf dem Chrysanthemen-
    thron verkünden und in den Tagen danach
    mehrere Bankette abhalten. Die Vorberei-
    tungen für die Zeremonien, so vermuten
    Beobachter des Kaiserhauses, haben bis-
    lang verhindert, dass Naruhito in die Kata-
    strophengebiete gereist ist. Sein Vater, Aki-
    hito, hatte es zur informellen Aufgabe des
    Kaisers gemacht, nach Naturkatastrophen
    den Opfern Trost zu spenden.
    Nach jüngsten Zählungen kamen durch
    Taifun Nummer 19 mindestens 77 Men-
    schen ums Leben. Die heftigen Regenfälle
    hatten an mehr als 100 Stellen Flussdäm-
    me brechen lassen und Wohngebiete und
    Felder überschwemmt. Die Zahl der be-
    schädigten oder zerstörten Häuser wird
    mit mindestens 1700 angegeben. Mehr als
    33 000 Häuser standen unter Wasser.
    Rund 100 000 Haushalte waren am Don-
    nerstag noch ohne Wasserversorgung.


Denis Scheck „Am Tresen“


Österreichische Keller


Zahl der


Autodiebstähle


auf Rekordtief


Kurze Meldungen


Auf „I bims“ und „Yolo“


folgt kein Jugendwort


Kaiser-Parade nach


Taifun verschoben


„Lügner, Betrüger


und Hurenböcke“


„Niemand hier hat etwas mitbekommen“


Im Gespräch:DenisScheck Foto Timo Steppat


Auch die Einwohner


des niederländischen


Dorfes Ruinerwold


blicken fassungslos


auf die mutmaßliche


Freiheitsberaubung


einer ganzen Familie.


Von Sebastian Eder


Beschaulich:das Dorf Ruinerwold im Osten der Niederlande Foto Epa

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