Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.10.2019

(avery) #1

SEITE 8·FREITAG, 18. OKTOBER 2019·NR. 242 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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a,da hat der Bundespräsident leider
recht: Man kann nach Anschlägen
wie in Halle nicht mehr von Einzelfäl-
len reden. Es gibt ein tieferes Problem
in Deutschland (und anderen westli-
chen Ländern): Die Übergriffe auf Men-
schen, die „anders aussehen, anders
denken oder anders glauben“, nehmen
zu, und das hat viel mit der Verrohung
der öffentlichen Debatte zu tun, übri-
gens nicht nur im Internet. Man kann
heute seinen Kindern nicht mal mehr
raten, eine Bundestagsdebatte zu verfol-
gen, weil dort vor allem eine Partei mit
Argumenten und einem Vokabular han-
tiert, das zumindest in einem bildungs-
bürgerlichen Haushalt nicht als Vorbild
dienen kann. Steinmeiers Rezept gegen
die täglichen Zivilisationsbrüche, mit
denen alle Menschen delegitimiert wer-
den sollen, die nicht dem engen deut-
schen Kulturbegriff von ganz rechts ent-
sprechen, ist vernünftig: Die Gesetze
müssen durchgesetzt werden, auch im
Digitalen, und wir brauchen in der Tat
eine „gute Streitkultur“, die auf Ver-
nunft und Zivilität gründet. Die kann
man aber nicht anordnen. Die Demo-
kratie lebt davon, dass sie genug Demo-
kraten hat. nbu.


D


er Versuch Bernd Luckes, nach sei-
nem Ausflug in die Politik an die
Universität zurückzukehren, blieb zu-
nächst im Tumult stecken. Den heizten
nicht nur Studierende an, die ihn als
„Nazischwein“ beschimpften, was dar-
auf schließen lässt, dass sie lange Zeit
Nichtstudierende gewesen sein müs-
sen. Auch der Universitätspräsident
und die Wissenschaftssenatorin gossen
Öl ins Feuer, indem sie die Pöbeleien
im Hörsaal zunächst als „diskursive
Auseinandersetzung“ in Schutz nah-
men. Lucke war schlichtweg niederge-
brüllt, bedroht und daran gehindert
worden, das Wort zu ergreifen. Immer-
hin gestand die grüne Senatorin und
stellvertretende Erste Bürgermeisterin
zu, dass der Staat verpflichtet sei, die
Rechte auch eines Bernd Lucke „grund-
sätzlich“ durchzusetzen. Wie das Wört-
chen „grundsätzlich“ zu verstehen ist,
blieb erst einmal unklar – in der Stadt
des Schanzenviertels kann das auch
„mal so, mal so“ heißen. Wie die Dinge
in der Freien und Hansestadt liegen,
ließ dann am Donnerstag die nachge-
schobene Erklärung der Senatorin er-
kennen: „Wir müssen wieder lernen zu
streiten.“ Es wird auch Zeit. kum.


D


onald Trump scheint seine Präsi-
dentschaft nun endgültig als tägli-
che Gameshow zu inszenieren, die
„Trump gegen den Rest der Welt“ hei-
ßen könnte. Die Demokraten können
sich noch so fest vornehmen, als sach-
orientierte, konstruktive Kraft aufzutre-
ten – Trump diktiert die Spielregeln.
Als Präsident und Oberbefehlshaber
kann er den Einsatz nach Belieben
erhöhen. Da gaukelt er vor, sich mit ei-
nem albernen Macho-Brief an den türki-
schen Präsidenten von aller Verantwor-
tung für die verheerenden Folgen des
amerikanischen Rückzugs aus Syrien
reinwaschen zu können. Da lenkt er
von der scharfen Kritik aus den eigenen
Reihen ab, indem er seine Gegenspiele-
rin Nancy Pelosi, immerhin Inhaberin
des dritthöchsten Amtes im Staat, im
Weißen Haus beleidigt. Da kanzelt er
seinen geschassten Verteidigungsminis-
ter James Mattis, den er noch vor kur-
zem als größten Helden seit General
Patton glorifizierte, plötzlich als „völlig
überschätzt“ ab. Und erzeugt mit alle-
dem eine Konfrontation, die viele Wäh-
ler lieber „den Politikern“ übelnehmen
als dem frivolen Entertainer und Anti-
politiker im Oval Office. anr.


Als Donald Trump am Mittwoch mit
dem italienischen Präsidenten Sergio
Mattarella den „East Room“ des Wei-
ßen Hauses betrat, sorgte die Gegen-
wart von Vizepräsident Mike Pence für
Verwunderung. Der Präsident hatte
tags zuvor angekündigt, Pence werde
nach Ankara aufbrechen, um mit dem
türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdogan zu sprechen. Es seien noch Si-
cherheitsvorkehrungen zu treffen ge-
wesen, daher die Verspätung, bemerk-
te Trump. Dann erwähnte der Präsi-
dent, was womöglich das eigentliche
Problem gewesen war: Erdogan habe
zunächst gesagt, er werde Pence nicht
empfangen. Das Treffen mit Erdogan,
dem Trump zuvor geschrieben hatte,
er möge nicht auf „harter Kerl“ ma-
chen und auch „kein Narr“ sein, werde
aber gewiss erfolgreich sein.
Es ist nicht das erste Mal, dass Pence
für Trump einspringen muss. Die Lage
nach dem amerikanischen Rückzug
von der syrisch-türkischen Grenze und
dem Einmarsch türkischer Streitkräfte
in das Nachbarland ist aber so verwor-
ren, dass es seine bislang schwierigste
Mission sein dürfte. Zumal Trump Er-
dogan ausgerichtet hatte, er möge den
amerikanischen Abzug nicht ausnut-
zen, sonst müsse Amerika die türkische
Wirtschaft „zerstören“. Immerhin ist es
Pence schon mal gelungen, mit Erdo-
gan eine befristete Waffenruhe in Nord-
syrien auszuhandeln.
Pence bekam zuletzt in der Ukraine-
Affäre zu spüren, was es heißt, Trumps
diplomatischer Ausputzer zu sein. Am


  1. September hatte er ihn zu den Ge-
    denkfeierlichkeiten aus Anlass des Aus-
    bruchs des Zweiten Weltkriegs vor 80
    Jahren nach Warschau geschickt. Dort
    sollte er ihn auch in einem Gespräch
    mit dem neuen ukrainischen Präsiden-
    ten Wolodymyr Selenskyj vertreten,
    der nach Meinung Trumps seinerzeit
    noch nicht in dem Maße kooperierte,
    wie er sich das wünschte. Was als Kor-
    ruptionsbekämpfung bezeichnet wur-
    de, sollte eigentlich dem Zweck dienen,
    kompromittierendes Material über Joe
    Biden, den demokratischen Präsident-
    schaftsbewerber, zu erhalten.
    Es ist unklar, inwieweit Pence dar-
    über im Bilde war, was das eigentliche
    Ziel der Zurückhaltung amerikani-
    scher Militärhilfe an die Ukraine war.
    Mitarbeiter des Vizepräsidenten ver-
    breiteten später, Pence habe nicht ge-
    wusst, dass Trump eigentlich auf Wahl-
    kampfmunition aus gewesen sei. Das
    freilich muss der Präsident als Distan-
    zierung empfunden haben: Sollte Pen-
    ce darauf setzen, dass er seines Amtes
    enthoben werde und er selbst ins Oval
    Office einziehen könne? Der Vizepräsi-
    dent, der sich des Misstrauens Trumps
    wohlbewusst ist, schritt ein: Es habe
    keinerlei Druck des Präsidenten auf Se-
    lenskyj gegeben, sagte er.
    Pence balanciert durch das Minen-
    feld Washington. Dem 60 Jahre alten
    früheren Gouverneur Indianas und
    langjährigen Abgeordneten im Reprä-
    sentantenhaus kann nicht entgehen,
    wie sehr Trump seine eigene Partei ge-
    gen sich aufgebracht hat – mit dem Ab-
    zug aus Syrien offen, in der Ukraine-
    Affäre weniger offen. Auch sieht er täg-
    lich, wie es um das Nervenkostüm des
    Präsidenten bestellt ist. Die Lage ist vo-
    latil. Und dass Pence weitergehende
    Ambitionen hat, ist ein offenes Ge-
    heimnis. MAJID SATTAR


Mike PENCE Foto xxx


ZÜRICH,17. Oktober


D


ie Schweizerische Volkspartei
(SVP) ist berüchtigt für ihre provo-
kante Bildsprache. Ob es um
Volksinitiativen gegen den Bau von Mina-
retten, die Abschiebung krimineller Aus-
länder oder Wahlkämpfe geht – mit ihren
aggressiven Plakaten hat die rechtskonser-
vative Partei schon oft für große Aufwal-
lungen gesorgt. So auch vor der Parla-
mentswahl an diesem Sonntag: Im Au-
gust veröffentlichten die Rechtspopulis-
ten ein Wahlplakat, das einen roten Apfel
mit Schweizerkreuz zeigt, der lauter faule
Stellen hat, aus denen Würmer heraus-
kriechen. Diese sollen die politischen
Gegner und die EU symbolisieren. Dane-
ben steht: „Sollen Linke und Nette die
Schweiz zerstören? Lieber SVP wählen.“
Eigentlich eine merkwürdige Parole –
sind die meisten Schweizer doch freundli-
che, also nette Zeitgenossen. Doch nicht
darüber wurde diskutiert. Der Grund für
vernichtende Reaktionen war, dass das ge-
schmacklose Motiv an die Propaganda
der Nationalsozialisten erinnert: In deren
Hetzblatt „Der Stürmer“ erschien 1931
eine ähnliche Zeichnung, in der als Wür-
mer dargestellte Juden aus einem Apfel
kriechen. Selbst aus der SVP hagelte es
Kritik. Dennoch freuten sich die Partei-
oberen über die Debatte, die sie angezet-
telt hatten. Der Sturm der Entrüstung dau-
erte freilich nur einige Tage – was auf sei-
ne Weise zeigt, dass die Rechten nun ei-
nen viel schwereren Stand haben als bei
der Wahl vor vier Jahren.
Unter dem Eindruck der Flüchtlingskri-
se sammelte die SVP damals 29,4 Prozent
der Stimmen ein und erreichte das beste
Ergebnis ihrer Geschichte. Doch der
Strom der Asylbewerber ist zu einem
Rinnsal geworden, und auch die normale
Zuwanderung ist stark geschrumpft. Vori-
ges Jahr wanderten aus der EU netto gut
31 000 Personen in die Schweiz ein. Das
ist weniger als halb so viel wie im Rekord-
jahr 2013, auf das kurz danach der Ab-
stimmungserfolg der SVP in ihrer Initiati-
ve „gegen Masseneinwanderung“ folgte.
Seither hat die Partei keine Initiative
mehr gewonnen, obwohl sie für ihre Kam-
pagnen mutmaßlich deutlich mehr Mittel
zur Verfügung hat als ihre Gegner. Der 79
Jahre alte Milliardär Christoph Blocher,

der die SVP von einer Nischenpartei für
Bauern zur mit Abstand stärksten Kraft
aufgebaut hat, hat zwar keine Ämter
mehr inne. Im Hintergrund zieht er als
Taktgeber und Finanzier aber weiter die
Strippen. Mit welchen Summen Blocher
die Partei finanziert, ist öffentlich nicht
bekannt. Die Schweiz gehört zu den weni-
gen Demokratien, in denen die Parteien
ihre Spendenzuflüsse nicht offenlegen
müssen. Aber auch mit viel Geld ist nicht
dagegen anzukommen, dass die Klimade-
batte viele Schweizer inzwischen mehr be-
wegt als das Lieblingsthema der SVP, die
Migration. Und da die Regierung in Bern
überdies den Rahmenvertrag mit der EU
auf Eis gelegt hat, hilft der SVP auch ihr
zweites Lieblingsthema, die Abgrenzung
von Europa, im Wahlkampf nicht.
Laut jüngsten Umfragen dürfte die
SVP Wähleranteile verlieren. Ihre Positi-
on als stärkste Partei wird sie aber sicher
behaupten, denn der Abstand zu der
zweitstärksten Partei, den Sozialdemokra-
ten (SP), ist groß: Diese brachten es vor
vier Jahren auf knapp 19 Prozent. Dar-
über werden sie dieses Mal wohl auch
nicht hinauskommen. Die großen Gewin-
ner werden voraussichtlich Grüne und

Grünliberale sein. Laut Umfragen könn-
ten die beiden Parteien insgesamt sechs
Prozentpunkte zulegen und zusammen
auf 18 Prozent kommen. Damit würden
sie die FDP überholen, die auf 15 Prozent
abzurutschen droht. Die Grünen hoffen
angesichts der Klimaproteste, an denen
sich auch in der Schweiz vor allem junge
Menschen beteiligten, dass deutlich mehr
junge Wähler als sonst abstimmen und ih-
nen einen Schub verleihen. Doch ob diese
Rechnung aufgeht, ist offen. „Viele junge
Demonstranten haben mit der konventio-
nellen Politik nichts am Hut, sie setzen
vor allem auf die Kraft der Straße“, sagt
Marc Bühlmann, Professor für Politikwis-
senschaft an der Universität Bern.
Deshalb scheuen die Grünen auch vor
öffentlichen Planspielen zurück, in denen
sie schon mit einem Fuß in der Regierung
stehen. Die Regierung in Bern (Bundes-
rat genannt) wird traditionell nach der so-
genannten Zauberformel gebildet. Dem-
nach besetzen die drei stärksten Parteien
(derzeit SVP, SP und FDP) jeweils zwei
Bundesratssitze; der viertgrößten Partei,
der christlich-demokratischen CVP, steht
ein Bundesrat zu. Gewählt werden die
Bundesräte auf Vorschlag ihrer Parteien

von der Vereinigten Bundesversamm-
lung, also den Mitgliedern der großen
und kleinen Kammer des Parlaments (Na-
tionalrat und Ständerat). Die nächste
Wahl (für vier Jahre) findet voraussicht-
lich Anfang Dezember statt. Wenn ein
amtierender Bundesrat nach der Parla-
mentswahl weitermachen will, wird er üb-
licherweise wiedergewählt.
Sollten Grüne und Grünliberale (GLP)
gemeinsam tatsächlich die FDP überflü-
geln, könnten sie versuchen, den Libera-
len einen der beiden Sitze abzuluchsen
und erstmals in die Schweizer Regierung
einzuziehen. Einfach würde das jedoch
nicht. Zwar dürften SVP und FDP ihre
knappe Mehrheit im Nationalrat verlie-
ren. Aber an dem nur 46 Mitglieder umfas-
senden Ständerat, in dem die Kantone
ihre Interessen vertreten, wird die grüne
Welle wohl weitgehend vorbeigehen. Die
grünen Parteien müssten also die Abge-
ordneten der CVP auf ihre Seite ziehen.
Das ginge nur mit einem Kandidaten, der
nicht allzu weit links steht. Und hier be-
ginnt das nächste Problem.
Denn Grüne und Grünliberale sind
sich in den umweltpolitischen Zielen
zwar weitgehend einig, nicht aber über
den Weg dorthin. Daher gehen sie seit
2004 getrennte Wege. Die Grünen verfol-
gen eine linke Politik, die auf staatliche
Eingriffe und Umverteilung setzt, wäh-
rend die GLP den ökologischen Umbau
mit marktwirtschaftlichen Instrumenten
erreichen will. Deshalb könnte es schwie-
rig werden, sich auf eine gemeinsame
Bundesratskandidatur zu einigen. Doch
allein hat keine der grünen Parteien ge-
nug Stimmen, um der FDP innerhalb der
geltenden Zauberformel gefährlich zu
werden. Selbst wenn es den Ökoparteien
gelingt, einen der Ihren in den Bundesrat
zu lotsen, dürften die Auswirkungen auf
die Schweizer Politik überschaubar blei-
ben.
Der Einfluss der Regierung auf die Ge-
schicke des Landes ist vergleichsweise
schwach. Die wichtigen Entscheidungen
fällt in der Schweiz das Parlament, wobei
das Volk über die Instrumente der direk-
ten Demokratie das letzte Wort hat. Und
das Schweizer Volk neigt nicht zu radika-
len Beschlüssen, schon gar nicht, wenn
diese ans individuelle Portemonnaie ge-
hen könnten.

Steinmeiers Streitkultur


WIEN, 17. Oktober
Die ungarischen Kommunalwahlen am vo-
rigen Sonntag haben der Opposition eini-
ge aufsehenerregende Erfolge über die na-
tionalkonservative Partei Fidesz von Mi-
nisterpräsident Viktor Orbán eingebracht.
Deutet sich damit eine Schwächung des
bisher unangreifbar scheinenden Regie-
rungschefs an? Oder handelt es sich um ei-
nen Ausrutscher? Argumente gibt es für
beide Sichtweisen.
Der wichtigste Sieg der Opposition ist
der des linken Kandidaten Gergely Ka-
rácsony in der Hauptstadt Budapest über
den langjährigen Bürgermeister István Tar-
los, der von Orbán selbst überredet wor-
den sein soll, ein weiteres Mal zu kandidie-
ren. Der formal parteilose Tarlos genoss
über die engere Fidesz-Anhängerschaft
hinaus Ansehen als integrer Mann; auch
der Wahlsieger flicht ihm Kränze und will
ihn zum Ehrenbürger ernennen. Doch er
unterlag Karácsony überraschend deut-
lich mit 44 gegen 51 Prozent.
Auch im Stadtrat erlitt der Fidesz Rück-
schläge, er stellt nurmehr neun der 23 Be-
zirksbürgermeister; zuvor waren es 17.
Und gewann der Fidesz vor fünf Jahren
noch die Bürgermeisterwahlen in 20 der
23 sogenannten Komitatsstädte, waren es
jetzt nurmehr 13. In vielen Städten hatten
sich die Oppositionsparteien von links bis
rechts, also von der sozialistischen MSZP
bis hin zur Jobbik-Partei, die von der
rechtsextremen Ecke in die bürgerliche
Mitte strebt, in formellen oder informel-
len Bündnissen hinter einem Kandidaten
vereinigt.
Auf das ganze Land bezogen sieht das
Bild jedoch anders aus. Die Regierungs-
partei behauptete ihre Führungsrolle in
der großen Mehrzahl der Dörfer und

Kleinstädte, baute sie teils sogar aus. In al-
len 19 Komitatsversammlungen (etwa ver-
gleichbar mit Kreistagen) hielt sie die
Mehrheit. Wie Fidesz-Leute vorrechne-
ten, haben insgesamt 1,8 Millionen Wäh-
ler für den Fidesz gestimmt und nur 1,
Millionen für Oppositionsparteien. Die
Wahlbeteiligung stieg in Rekordnähe auf
48,5 Prozent.
Eine Rolle spielte offensichtlich eine Af-
färe des Bürgermeisters von Györ, Zsolt
Borkai (Fidesz). In der Woche vor der
Wahl wurde von einem anonymen Blog-
ger ein Video ins Internet gestellt, das vor
einem Jahr auf einem Boot in der Adria
aufgenommen worden sein soll. Es zeigt
Borkai in sehr expliziten Bildern beim au-
ßerehelichen Umgang mit jungen Frauen.
Die Orgie feierte er mit Geschäftspart-
nern, die mit unlauteren Insider-Immo-
biliengeschäften Millionengewinne ge-
macht haben sollen – auf Kosten der Stadt
sowie des Audi-Konzerns, der in Györ ein
Werk hat. Borkai konnte trotz schwerer
Verluste seinen Sessel im Rathaus von
Györ knapp behaupten. Erst nach der
Wahl musste er die Partei verlassen. Or-
báns rechte Hand Gergely Gulyás sprach
ihm nun sarkastisch die „Goldmedaille
der Opposition“ zu.
Was waren die Gründe für den Wahlaus-
gang, und was bedeutet er für künftige
Wahlen? Agoston Mráz vom regierungs-
nahen Institut Nézöpont und Péter Krekó
vom oppositionsnahen Institut Political
Capital kommen zu teils ähnlichen Er-
kenntnissen, wenn auch entgegengesetz-
ten Folgerungen.
Beide betonen die Bedeutung der Affä-
re aus Györ für den Wahlausgang auch in
den anderen Städten. Mráz spricht von ei-
ner „großen Wende“ in der letzten Woche


  • sein Institut hatte zuvor in Umfragen ei-
    nen deutlichen Vorsprung für den Buda-
    pester Bürgermeister Tarlos gemessen.
    Auch oppositionsnahe Demoskopen sa-
    hen in der Hauptstadt allenfalls ein Kopf-
    an-Kopf-Rennen voraus und nicht einen
    deutlichen Sieg Karácsonys.
    „Es sind nicht die Fidesz-Wähler zu
    Hause geblieben, sondern die Gegner wur-
    den durch den Skandal mobilisiert“, sagt
    Mráz. „Entscheidend waren nicht die Kor-
    ruptionsvorwürfe gegenüber Borkai. Kor-
    ruption ist für die Wähler in einem gewis-
    sen Maß eingerechnet, mit diesem Begriff
    kann man weder Politik noch eine Web-
    site interessant machen. Einen Korrup-
    tionsvorwurf kann man mit einer Gegen-
    these konterkarieren, ein Porno-Video
    nicht.“ Krekó verweist auf „gute Kandida-
    ten“ der Opposition, die breite Wähler-
    schichten angesprochen hätten, und auf
    die Strategie der Zusammenarbeit. Aber
    auch für ihn ist der wichtigste Faktor die
    „Sex and Drugs and Corruption“-Affäre:
    „Das Video ist in den sozialen Medien in
    Ungarn geradezu explodiert. Es war das
    Thema Nummer eins. Das hat die Wähler
    der Opposition mobilisiert und die Wäh-
    ler der Regierungspartei demobilisiert, ins-
    besondere in den großen Städten.“
    Eine Rolle mag auch gespielt haben,
    wie der Fidesz mit der Affäre umgegangen
    ist. Mráz sagt: „Es war eine schwierige
    Lage, eine Entscheidung zwischen Identi-
    tät der Partei und Taktik. Wäre Borkai zu-
    rückgetreten, dann hätte das bedeutet,
    dass die Oppositionskandidatin praktisch
    allein angetreten wäre, gegen nur zwei
    Zählkandidaten.“ Krekó hält es für einen
    Fehler des Fidesz, sich nicht sofort von
    Borkai getrennt zu haben. Es sei Orbáns
    Entscheidung gegen den Rat seiner Leute
    gewesen, also auch sein persönlicher Feh-


ler. „Auch das ist eine sehr wichtige Bot-
schaft dieser Wahl: dass der Mythos von
Viktor Orbán, er sei perfekt, dahin ist.
Auch der Mythos, dass der Fidesz unbe-
siegbar in Wahlen sei, ist dahin. Deshalb
hat diese Wahl auch psychologisch große
Folgen.“
Allerdings verweisen beide Institutsdi-
rektoren auf die sogar gewachsene Stärke
des Fidesz auf dem Land. Krekó erklärt
die Kluft mit der konservativen Grundhal-
tung auf dem Land sowie einem fakti-
schen Informationsmonopol des Fidesz
mit Staatsmedien und Lokalzeitungen, in
denen von Borkai kaum die Rede gewesen
sei. Ferner gebe es Abhängigkeiten im „se-
mifeudalen Fidesz-System“: Es komme in
kleinen Kommunen stark darauf an, dass
man sich mit dem Bürgermeister gut stel-
le, und der wiederum mit der Regierung.
Krekó appelliert an die Europäische
Union, Mechanismen zu entwickeln, um
Förderungen direkt an Kommunen verge-
ben zu können, damit die Regierung die
Bevölkerung nicht mit der Drohung er-
pressen könne, Ortschaften bei „fal-
schem“ Wahlverhalten finanziell auszu-
trocknen. „Die andere wichtige Nachricht
an die westliche Welt und auch an
Deutschland ist, dass Viktor Orbáns Herr-
schaft nicht ewig währt. Die Aufwärm-
übungen in den deutsch-ungarischen Be-
ziehungen in den vergangenen Monaten
sollten überdacht werden. Es gibt eine star-
ke proeuropäische und prowestliche Wäh-
lerschaft in Ungarn, aber die unterstützt
nicht Viktor Orbán.“ Anders sieht das
Mráz. Nézöpont habe das Wahlergebnis
umgerechnet in eine fiktive Parlaments-
wahl. Dann hätte der Fidesz 78 von 106
Wahlkreisen gewonnen. Zusammen mit
den Listenmandaten wären das 129 Sitze
im Parlament, fast wieder zwei Drittel.

Ausputzer


Lucke im Tumult


Showmaster-in-Chief


Die Orgie des Bürgermeisters von Györ


Sex, Drogen und Korruption: Was der Ausgang der Kommunalwahlen in Ungarn bedeutet / Von Stephan Löwenstein


Aufwind für die „Linken und Netten“


Beider Parlamentswahl in der Schweiz können die Grünen auf deutliche Gewinne hoffen / Von Johannes Ritter


Zieht nicht mehr so gut:Ein Plakat der Schweizer Volkspartei Foto Reuters


Die wichtigen Themen. Kompakt aufbereitet und eingeordnet.


Kürzer gefasst. Weiter gedacht.



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