Frankfurter Allgemeine Zeitung - 18.10.2019

(avery) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG, 18. OKTOBER 2019·NR. 242·SEITE 9


Herr Keel, vor ziemlich genau einem
Jahr sagten Sie, Ihnen sei gerade alles et-
was viel.
Das klingt sogar nach mir und gehört
irgendwie zu meinem Leben. Zu viel ist
es doch eigentlich für alle und „etwas we-
niger“ im Grunde das, was der Mensch
permanent anstrebt. Wenn ich Freunde
ärgern möchte, behaupte ich manchmal,
ich wünschte mir das Nichts. Aber würde
ich dort ankommen, wäre mir auf der
Stelle langweilig.

Sie haben für Ihr Haus, den Diogenes
Verlag, eine wagemutige Entscheidung
getroffen. Sie haben die Aktienanteile
von Rudolf C. Bettschart, dem ehemali-
gen Partner Ihres verstorbenen Vaters,
übernommen. Wie kam es dazu?
Er war mein Patenonkel und wie ein
zweiter Vater, vielleicht auch, weil er
selbst keine Kinder hatte. Alle gingen da-
her davon aus, dass nach seinem Tod die
Anteile am Verlag zurück an unsere Fami-
lie gehen würden. Ich habe aber immer
gedacht, dass dieser verrückte und groß-
zügige Mann, der sich mit Leib und Seele
für meinen Vater, den Verlag und unsere
Familie starkgemacht hat, vielleicht et-
was ganz anderes im Schilde führt. Vor
seinem Tod im Jahr 2015 habe ich das
Thema mit den Aktien darum mehrmals
angesprochen und gehofft, dass wir ei-
nen Weg finden, so dass es nachher weni-
ger kompliziert wird. Wichtig war mir
vor allem, dass er weiß, dass ich nicht da-
von ausgehe, seine Anteile einfach zu be-
kommen.

Was also geschah?
Nach Bettscharts Tod erfuhren mein
Bruder und ich, dass die 49 Prozent der
Diogenes-Aktien aus seinem Besitz an
Erben aus seiner Verwandtschaft gingen.
Das hat mich insofern geärgert, als dass
sich durch diese Konstellation automa-
tisch zwei Risiken für den Verlag entwi-
ckelten. Zum einen wäre die Unabhängig-
keit von Diogenes durch einen mögli-
chen Verkauf dieser Anteile nicht mehr
dieselbe gewesen. Zum anderen war
nicht klar, ob Diogenes weiterhin fami-
liengeführt sein würde, denn ich hatte
wenigstens vorübergehend Bedenken, ob
ich einen so großen Einsatz für etwas
bringen und für etwas einstehen möchte,
das uns nur teilweise gehört. Mein Bru-
der hat mir in dieser Zeit sehr geholfen,
der Situation mit einer gewissen Sachlich-
keit zu begegnen, ihm war aber schon
seit dem Tod unseres Vaters klar, dass er
nicht im operativen Geschäft des Verlags
mitwirken möchte.

Aber hätten Sie den Verlag, den Ihr Va-
ter 1952 in einer kleinen Wohnung in
Zürich gegründet hat, tatsächlich wie
angedeutet aufgegeben?
Sicher. Wäre es den Erben und mir
nicht gelungen, dieses Dilemma zu lö-
sen, hätte ich aufgehört. Das war ein Seil-
tanz, eine Auseinandersetzung über den
Verlag zu führen und sich die Freude am
Büchermachen trotzdem nicht nehmen
zu lassen.

Hat Sie das Testament von Bettschart
enttäuscht?
Natürlich war ich enttäuscht, dass ich
ein derart wichtiges Detail mit einem so
guten Freund nicht zeitlebens klären
konnte. Ich bin nicht der Typ, der Dinge
erwartet, aber ich wünsche mir gelegent-

lich etwas. Geschenke in diesen Dimen-
sionen zu bekommen halte ich für unge-
sund. Ebenso wenig habe ich übrigens er-
wartet, Verleger, Künstler oder Vater zu
werden. Aber nach ein paar Jahren Ge-
duld (die ich nicht habe) und mit Unter-
stützung des Verwaltungsrats, der Ge-
schäftsleitung und ein paar Freunden ist
es mir im Juni 2019 tatsächlich gelungen,
die Aktienanteile der Bettschart-Seite zu
kaufen.

Worin lagen die Herausforderungen bei
dem Kauf?
Allein mit den Banken zu verhandeln.
Auch wenn es Diogenes seit 67 Jahren
gibt, musste ich der Bank erst einmal er-
klären, wie dieses Haus funktioniert, wer
unsere Autoren sind, was ein Hardcover
von einem Taschenbuch unterscheidet.
Irgendwie haben die Banker Freude an
unserem Laden bekommen, gemerkt,
dass wir ein bisschen Erfolg haben und
der Kredit irgendwann vielleicht sogar
zurückgezahlt werden kann.

Von welcher Summe sprechen wir?
Natürlich schwingt in meiner Entschei-
dung ein hohes wirtschaftliches Risiko
mit, aber die Leidenschaft, die Geschich-
te von Diogenes weiterzudenken, war
stärker. Zu Ihrer Frage nur so viel, vom
Ersparten konnte ich es mir nicht leisten.

Das ist ja klar, es geht um die Hälfte ei-
nes der größten unabhängigen Belletris-
tikverlage Europas!
Man muss schon an die Leser und den
Handel glauben, um sich auf so etwas ein-
zulassen. Es ist mein Bekenntnis zu Dio-
genes, unserer Mannschaft und unseren
Autoren. Und als hätten die Götter ge-
wusst, was mir blüht, hatten wir nach
Vertragsabschluss vier Bestseller unter
den ersten zehn, von Daniela Krien zu
Martin Walker, von Donna Leon zu Ian
McEwan.

Wie reagieren Ihre Mitarbeiter und
Autoren darauf, dass Sie persönlich ein
so hohes Risiko eingehen für Diogenes?
Die meisten Autoren wissen bis heute
nichts davon, genauso wenig, wie es die
Mitarbeiter bis zu meiner Ankündigung
im Haus wussten, wobei ich das Gefühl
hatte, dass diese persönliche Mitteilung
geschätzt wurde. Überhaupt konnte ich
es kaum glauben, dass nach Bettscharts
Tod nie jemand nachgefragt hat, was
eigentlich mit seinen Anteilen gesche-

hen ist – eine der angenehmeren Kompo-
nenten dieser Geschichte.

Und was bedeutet dieser Schritt für Sie
persönlich?
Dass Diogenes nach sieben Jahren als
Verleger nun tatsächlich wieder ganz un-
ser Verlag ist. Und dass ich für neue Pro-
jekte und meine Kunst dadurch wieder
mehr Zeit bekomme, auch wenn das viel-
leicht widersprüchlich klingt. Wir haben
bei Diogenes vieles verändert, auch die-
ser Aufbruch braucht, wie ein Teenager,
seine Freiheit.

Was heißt das in der Konsequenz?
Ich möchte mich zukünftig vor allem
um all das bei Diogenes kümmern, wo-
von man immer denkt, schade, dass ich
dafür nicht mehr Zeit habe. Trotzdem
bin ich überzeugt, dass jede Unterneh-
mung einen Häuptling oder eine Squaw
braucht, jemanden, der sich für eine Idee
entscheidet, einen Gedanken durchsetzt,
den Stil prägt. Sonst wird es belanglos.
Details interessieren heute fast nieman-
den mehr, weil sie zu viel Zeit in An-
spruch nehmen und nicht rentabel sind.

Wie viel hat es mit Ihrem Vater, dem
Diogenes-Gründer und Verleger Daniel
Keel, zu tun, dass Sie es am Ende doch
nicht übers Herz brachten, den Verlag
seinem Schicksal zu überlassen?
Alles hat mit allem etwas zu tun, hat
er immer wieder gesagt. In schwierigen,
aber auch in glücklichen Momenten den-
ke ich an diesen Satz. Je mehr ich an un-
sere Geschichte denke, desto mehr wur-
de mir bewusst, dass nichts an ihr über-
raschend ist. Man hört doch immer wie-
der von solch fahrlässig geregelten An-
gelegenheiten und denkt dann, so etwas
Dummes passiert mir mit meinen Kin-
dern sicher nie. Erstaunlich eigentlich,
wie Erwachsene, die ihre Kinder lieben
und ihnen alles zutrauen, sich in den
seltensten Fällen vorstellen können, dass
ihre Figur auf dem Schachbrett quasi
durch die Figur des Kindes ausgetauscht
wird, dass das Feld geräumt werden
muss.

Warum, glauben Sie, fällt das so
schwer?
Meine Eltern haben mich für fast jede
Kritzelei gelobt, für fast jede Idee. Sie
dachten, ich würde der größte Regisseur
nach John Ford oder der größte Künstler
nach Matisse. Aber sie konnten sich

nicht vorstellen, dass ich einmal ihren
Verlag übernehmen würde. Und weil sie
es sich nicht vorstellen konnten, konnten
wir Kinder es uns auch nicht vorstellen.
Auch deshalb haben mein Bruder und
ich erst ein halbes Jahr nach dem Tod un-
seres Vaters über die Zukunft von Dioge-
nes entschieden. Wenn ich jetzt darüber
nachdenke, wie viele neue Autoren uns
ihre Weltrechte anvertrauen, dass wir im-
mer noch Kunstbände und Kinderbücher
drucken, dass wir zum hundertsten Ge-
burtstag von Patricia Highsmith und
Friedrich Dürrenmatt nicht nur ihr Werk
überarbeiten, sondern echte Entdeckun-
gen und Unveröffentlichtes vorbereiten,
würden sie wahrscheinlich vom Himmel
fallen.

Aber Ihre Eltern haben Ihnen und Ih-
rem Bruder ihre Anteile vererbt. Dann
mussten sie Ihnen doch vertraut haben,
sonst hätten sie das anders geregelt.
Das hieß noch lange nicht, dass sie uns
die Aufgabe, die dieses Erbe in sich hat,
„antun“ wollten. Egal, aber sie haben be-
stimmt nicht damit gerechnet, dass wir
tatsächlich ins Verlagsgeschäft einstei-
gen würden. Dazu kam, dass ich damit
konfrontiert wurde, beide Aufgaben zu
übernehmen, die meines Vaters und die
von Bettschart (nämlich als Verleger und
leitender Geschäftsführer). Und so befin-
de ich über Manuskripte ebenso wie zum
Beispiel über die Zusammensetzung des
Verwaltungsrats – und das, obwohl ich
praktisch keine Ahnung von Betriebs-
wirtschaft habe.

Das klingt, als wären Sie ein naiver
Autodidakt.
Die beiden Hüte aufzuziehen war in
der Tat aufregender als gesund. Aber wir
haben zum Glück ein Team, das genauso
für Diogenes lebt wie unsere Familie.

Einmal abgesehen von Bestsellerauto-
ren wie Leon, Suter oder Noll – können
Sie sich die Unabhängigkeit denn wei-
terhin leisten?
Eigentlich nicht. Wenn es nicht besser
wird, frage ich Samsung.

Im Ernst?
Wenigstens in meiner Phantasie. In
der Realität freue ich mich, wenn viele
Menschen das neue Buch von Doris Dör-
rie lesen. Es heißt „Leben, schreiben,
atmen“ und ist für mich der vielleicht
schönste Text, den sie je geschrieben hat.

Ein Sachbuch, das findet man selten
bei Diogenes.
Das stimmt nicht, es gab schon immer
Sachbücher bei uns, sie waren nur nicht
so deklariert. Unabhängig davon ist das
ein Terrain, das wir künftig noch häufi-
ger betreten möchten: Sachbücher, die zu
uns passen, die einen literarischen
Sound haben. Zum Beispiel „Ein Jahr vol-
ler Wunder“ von Clemency Burton-Hill
oder „Rendezvous mit einem Octopus“
von Sy Montgomery.

Was, würden Sie sagen, macht Sie als
Verleger aus?
Dass ich mir nie vorstellen konnte,
einer zu sein. Und lesen Sie bitte unbe-
dingt „Allmen und der Koi“ von Martin
Suter, „Drei“ von Dror Mishani, „Der
Sprung“ von Simone Lappert und „Wol-
kenbruchs waghalsiges Stelldichein mit
der Spionin“ von Thomas Meyer – Ent-
schuldigung.
Das Gespräch führteSandra Kegel.

Gespräch mit dem Verleger Philipp Keel


DieBuchmesse ist natürlich auch dies:
eine geölte Maschine der Selbsteuphori-
sierung. Die meisten Autorengespräche
auf den grünen, gelben oder blauen So-
fas stehen ja nicht unter den strengen Er-
wartungen eines kritischen Rezensions-
wesens, sondern sind lässige, die Kunst
des diskreten Schmeichelns unterschied-
lich gut beherrschende Beredungen des
jeweiligen Buchs, bei denen jedenfalls
niemand der Beteiligten etwas wirklich
Böses zu befürchten hat. Manche Messe-
stände wirken denn auch wie kleine, sä-
kulare Lourdes-Grotten, wo man sich ge-
genseitig mehr erscheint als begegnet
(der „großartige“ Soundso, die „wunder-
bare“ Soundso). Die Bereitschaft, sich
als Erleuchtete zu echauffieren und –
ein Wort gibt das andere – sich in Bedeu-
tungen hineinzureden, sitzt an solchen
Erscheinungsorten psychisch doch er-
heblich lockerer als außerhalb des Frank-
furter Grottenwesens. Es gilt für den
Messeauftritt im Zweifel die Meinung
des Philosophen Andreas Urs Sommer,
der es mit bedenkenswerten Gründen
für eine anfechtbare Sicht hält, dass Spra-
che je auf Erkenntnisgewinn gepolt ge-
wesen sei; stattdessen mache sie doch
eher als Weise der Welterzeugung von
sich reden. Tatsächlich ist das Ergriffen-
sein beim Hören der eigenen Worte, die
sprachliche Selbstentzündung, den Auto-
ren und ihren Moderatoren nicht nur er-
laubt, sondern vielfach treibende Kraft
des Auftritts. Wobei, sieht man recht, al-
lein Sophie von Maltzahn den entzück-
ten Sound, mit dem sie am Stand von
Kiepenheuer & Witsch von ihrem neuen
Roman erzählt, aus der Sache selbst ab-
leiten kann, über die sie geschrieben
hat: „Liebe in Lourdes“. Sie hat die Ur-
Grotte besucht, aus der heraus sie sich in
Frankfurt sprechen hört. gey


D

ie „New York Times“ berichtete
neulich von der Mühe, welche die
Metropolitan Opera mit einer wieder
ins Programm genommenen Produkti-
on von „Porgy and Bess“ hatte: Die
Übersetzung des Librettos in andere
Sprachen, die fremdsprachigen Besu-
chern der Met als Übertitel eingeblen-
det werden, stellte die Verantwortli-
chen nämlich vor kniffelige Aufgaben.
Wie etwa gibt man schwarzen amerika-
nischen Slang so wieder, dass er sowohl
verständlich, halbwegs texttreu und
obendrein exakt so anstößig ist, dass
dem Inhalt der Oper gedient, aber der
Zuhörer nicht schockiert wird? Ant-
wort: Man wurschtelt sich so durch; am
Ende stehen Annäherungen und Kom-
promisse. Doch das Problem geht tie-
fer, denn die Originalsprache der wei-
ßen Librettisten Ira Gershwin and Du-
Bose Heyward reproduzierte 1935 et-
was, was damals als „Negro Slang“
durchging, heute aber wohl eher als kli-
scheegesättigte Aneignung („appropria-
tion“) durch die Herren des kulturellen
Diskurses gilt. Die Met entschied sich
schließlich dafür, den Operntext mit
Genehmigung von Gershwins Erben
zu modifizieren – den geschriebenen,
nicht den gesungenen. Wer darin aller-
dings vorschnell eine Kapitulation vor
politischer Korrektheit sieht, sollte
noch einmal nachdenken. Etwa über
die Angemessenheit, ein ausgelatsch-
tes Stereotyp durch andere Formen zu
ersetzen, damit Menschen nicht in das
immer gleiche historische Raster ge-
presst werden, obendrein eines, das sie
an Versklavung und Tausende unge-
sühnte Morde erinnert. Oder um ein
viel harmloseres, der deutschen Seele
aber näher liegendes Beispiel zu bemü-
hen: Wäre es nicht schön, als Deut-
scher in der britischen Presse einmal
nicht mit rollenden Panzern und Hit-
ler-Schnurrbart dargestellt zu werden?
Was nun die Missgriffe, Patzer und
Peinlichkeiten im Sprachtransfer be-
trifft, empfiehlt sich allgemein eine
niedrige Brennweite, möglichst noch
gepaart mit Humor. Allein die Fallstri-
cke des auf mehreren Kontinenten ge-
sprochenen Spanischs reichen aus, um
den Irrtum für wahrscheinlicher zu hal-
ten als Korrektheit. Vokabeln wie „em-
barazoso“ (peinlich) und „embaraza-
da“ (schwanger) etwa liegen so nahe
beieinander, dass sie schon für unzähli-
ge Lacher gesorgt haben. Ein und das-
selbe spanische Verb, „coger“, bedeutet
in Spanien „nehmen“ und „ergreifen“,
etwa den Bus oder ein Glas Wasser,
während man seine Bedeutung in La-
teinamerika zutreffend mit „vögeln“
umschreibt. Zu schweigen von „bi-
chos“, die sowohl in Spanien als auch
in Mexiko „Ungeziefer“ bedeuten, in Pu-
erto Rico dagegen „Penis“, was seiner-
seits überraschend weite Ausblicke in
die Abgründe der menschlichen Angele-
genheiten erlaubt. Sprechen wir die
Sprache? Oder spricht sie uns? Jeden-
falls sind Peinlichkeiten garantiert. Es
ist zum Lachen, nichts sonst. P.I.

Um jeden, noch so hohen Preis


Familienbande: Daniel Keel (1930 bis 2011, links) gründete Diogenes als Zweiundzwanzigjähriger, sein
Sohn Philipp, Jahrgang 1968, übernahm die Verlagsleitung 2012. Fotos Serge Cohen/Agentur Focus, Keystone Schweiz

1952 gründet Daniel Keel Diogenes,
zwei Jahre später stößt Rudolf C.
Bettschart dazu. Mehr als sechs Jahr-
zehnte wird er als Geschäftsführer
und späterer Anteilseigner gemein-
sam mit Keel den Verlag prägen, der
mit Autoren wie Highsmith, Dürren-
matt, Chandler und Simenon sowie
den Zeichnern Sempé, Loriot und
Ungerer zu einem Haus von europäi-
schem Rang aufsteigt. Die beiden er-
gänzen sich gut. Seit der Kindheit in
Einsiedeln engste Freunde, die am
selben Tag geboren wurden, scheuen
sie auch Konflikte nicht. Legendär ist
ihr Streit über Solschenizyn: Bett-
schart will „Archipel Gulag“ unbe-

dingt publizieren, Keel verweigert
diesmit Hinweis auf das Verlags-
credo, wonach Diogenes nur Auto-
ren verlege, keine Einzelbücher. Ein
Jahr reden sie nicht miteinander,
dann finden sie aufs Neue zusam-
men. Nach Keels Tod 2011 wird des-
sen jüngerer Sohn Philipp Dioge-
nes-Verleger. Bettschart stirbt 2015.
Lange bleibt unklar, was mit dessen
Verlagshälfte geschieht. 2019 ge-
lingt es Philipp Keel, den Bett-
schart-Erben ihren Aktienanteil in
Höhe von 49 Prozent abzukaufen.
Seither befindet sich die Diogenes
AG wieder zu hundert Prozent in Fa-
milienbesitz. Bis heute hat Diogenes
gut dreihundert Millionen Bücher ver-
kauft und 7600 Titel verlegt. (S.K.)

Leonardos „Vitruvianischer Mensch“
darf nach Paris reisen: Das Gericht in
Venedig hat den Einspruch der Heimat-
schutzorganisation „Italia Nostra“, die
eine Leihgabe für illegal hält, zurückge-
wiesen. In Paris und in Rom ist die Er-
leichterung groß. Denn bis zur Urteils-
verkündung setzten die Richter das ge-
samte Austauschabkommen aus, das
die Kulturminister beider Länder Ende
September unterzeichneten; es umfasst
auch weitere Ausstellungen. Bemer-
kenswert ist die Urteilsbegründung:
„Italia Nostra“ habe nicht genügend Be-
weise für den „identitären“ Charakter
des Werks vorgelegt, die ein Ausfuhrver-
bot rechtfertigen würden. Die Richter
unterstreichen dagegen die „weltweite
und außergewöhnliche Bedeutung“ der
Louvre-Ausstellung zum 500. Todestag
von Leonardo da Vinci, die am 24. Okto-
ber beginnt. Es sei im Interesse Italiens,
das „Potential seiner Kulturgüter maxi-
mal auszuschöpfen“. Die Ausleihe der
kleinen Zeichnung, die in der Galleria
dell’Accademia in Venedig aufbewahrt
wird, ist an strenge Auflagen gebunden.
Noch steht nicht fest, wann sie nach Pa-
ris entsendet wird. Mehr als acht Wo-
chen darf sie nicht bleiben. J.A.

Entzückungen


Bis der Wecker klingelt, ist nur das Krat-
zen der Stifte und das Rascheln des Pa-
piers zu hören. Die konzentrierte Stille
ist bemerkenswert inmitten einer aufge-
kratzten Buchmesse. Fünfhundert Möch-
tegern-Autoren sind ins Schauspiel
Frankfurt gekommen, um an der viel-
leicht größten Schreibwerkstatt teilzu-
nehmen, die je stattfand. Jeder Teilneh-
mer erhält ein leinengebundenes Schreib-
heft: Mitmachen, aufschreiben, „nicht
schämen“ lautet die Devise des Abends
mit der Autorin und Filmemacherin Do-
ris Dörrie vorn am Pult. Sie fordert ihr
überwiegend weibliches, überwiegend
junges Publikum zur Betrachtung der ei-
genen Füße auf. Diese seien einmal Kin-
derfüße gewesen, und damit sollen nun
alle das uferlose Reich der Erinnerung
betreten: Gehen Sie durch die Wohnung
der Eltern, betreten Sie den kratzigen
Teppich, das Bad mit den kalten Fliesen
oder verlassen Sie das Haus und tapsen
Sie durch den Garten. Wir sollen schrei-
ben, nur schreiben, „ohne Pause, ohne
nachzudenken, ohne zu werten“, heißt
es zum Auftakt. Für Dörrie ist dies der
Schlüssel zur Schatzkiste der eigenen Ge-
schichte, weil jeder nicht nur eine einzig-
artige, unverwechselbare Biographie
habe, sondern jede zudem erzählens-
wert sei. Knausgård hätte seine Freude
an diesem Kursus. Auch wenn Autofik-
tion nicht jedermanns Sache ist, die der
Dörrie-Schüler ist es! Erste Schreibversu-
che werden vorgetragen, die von einsa-
men Jungs handeln, die sich Pommes auf
der Heizung zubereiten, von Großmüt-
tern und ihren Suppen bis hin zum früh-
kindlichen Trost durch Schokolinsen
und der Sorge der Autorin, die Produk-
tion der Süßigkeit könnte irgendwann
eingestellt werden. Lacher und Applaus
folgten prompt. Das war für manche si-
cher mehr als nur ein Achtungserfolg.
Fünfhundert Zuhörer, wer hat die denn
sonst schon? S.K.


Gäbe es die oft beschworene strengere
Literatur noch, die mehr sein will als
breitgetretenes Meinungsprotokoll oder
putziges Erlebnisbildchen irgendeiner
stets interviewbereiten Urheberschafts-
attrappe, die eh weiß, dass sie nicht gele-
sen, wohl aber porträtiert werden wird,
wenn die Reklame ihre Arbeit tut, dann
zöge sich diese strengere Literatur auf
der Messe in die Tiefen der Halle 4.2 zu-
rück, wo weder gemeint noch berichtet
wird, sondern geforscht und gewusst. Da
treibt man Medizin bei Thieme, Mathe-
matikmethodik bei General Onologic
Soft, Chemie (und leider auch Didaktik)
bei Wiley – wer jedoch nach Internetaus-
kunft den Stand der edlen American Ma-
thematical Society in der Nische F
sucht, findet die Nummer nicht, weil das
ein Menschenversuch der Messeleitung
an Personen ist, die sich zwar Zahlen
merken können, aber dauernd von der
Wirklichkeit damit vor den Kopf geschla-
gen werden, dass rechnender Vernunft
in einer von Idioten organisierten Reali-
tät längst nichts mehr entspricht. Zwei
letzte Vernünftige stehen also in dieser
melancholischen Weihehalle der Ratio-
nalität herum, und einer sagt zum an-
dern: „Für die unkooperative Spieltheo-
rie gibt es begehrte Anwendungen in
Wirtschaft und Politik. Für die kooperati-
ve derzeit kaum.“ Wie wahr. dda


Die Schwedische Akademie hat ihre
Entscheidung verteidigt, den Literatur-
nobelpreis an Peter Handke zu verlei-
hen. Man habe „natürlich nicht die Ab-
sicht, einen Kriegstreiber und Leugner
von Kriegsverbrechen oder Völkermord
auszuzeichnen“, schrieb der Ständige
Sekretär der Akademie, Mats Malm, in
der Zeitung „Dagens Nyheter“. In Hand-
kes 1996 veröffentlichtem Bericht über
eine „winterliche Reise zu den Flüssen
Donau, Save, Morawa und Drina“ stelle
dieser „das Massaker in Srebrenica
nicht in Frage“, erklärte Malm. Die Aka-
demie habe auch keine Belege dafür ge-
funden, dass Handke mit der Teilnahme
an der Beerdigung Slobodan Miloševićs
dem Blutvergießen Tribut gezollt, ein
Monster verehrt oder Kriegsverbrechen
geleugnet habe. dpa/F.A.Z.

Buchmesse-Skizzen


Wer schreibt, bleibt


Wer spricht?


Vernunftversteck


Diogenes


Keine Belege


Akademie hält an Handke fest


Leonardo-Zeichnung


Reist nach Paris in den Louvre


Jahrelang hat Philipp


Keel verhandelt, um


die zweite Hälfte


des Schweizer


Diogenes-Verlags aus


einem komplizierten


Erbe zu kaufen. Hier


erzählt er erstmals,


wie es dazu kam.

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