Blickpunkt Film Magazin - 21.10.2019

(C. Jardin) #1

KINO


Aus den USA erreichen uns derzeit wenig
große romantische Komödien wie früher
Schlaflos in Seattle oder Während Du
schliefst. Diese RomComs gibt es nicht
mehr, weil man in Russland und China
mit Komödien weniger anfangen kann.
Dort kommen Action und Helden besser
an. Der deutsche Kinomarkt ist nicht
mehr der wichtigste oder zweitwich-
tigste Markt in Europa wie noch vor 25
Jahren. Heute sind wir, ähnlich wie im
Fußball, nur noch Top ten. Aber wir
haben tolle Kinos, und ich finde es
spannend, wie einzelne mittelständische
Betreiber ans Kino glauben und ins Kino
investieren. Es ist ein großer Unter-
schied, Bohemian Rhapsody im Astor
oder zuhause zu sehen. Wir müssen ein
bisschen mutiger sein und uns dieser
Herausforderung stellen, nicht jammern
und nach neue Regeln rufen, sondern
selbstbewusst damit werben, dass Kino
mit tollem Bild und Sound das beste
Erlebnis bietet. Dann kommt das Publi-
kum auch (wieder).

Können sich die Kinos in Zukunft gegen
die Streaminganbieter behaupten?
Wir sollten den Mut haben, gemeinsam
neue Wege zu gehen. Ich plädiere für die
Freiheit des Programms. Diese Filme sind
Angebote, die im Kino gesehen werden
wollen, aber sicher nicht das herkömmli-
che Abspiel von Filmen behindern oder
in Frage stellen. Und ich teile auch nicht
die Sorge, dass deswegen künftig
Arthouse-Filme oder Blockbuster nur
noch eine Woche im Kino laufen und
dann auf einer Streamingplattform
auftauchen. Das kann sich kein Studio
leisten. Die weltweiten Kinoeinnahmen
sind ein Milliardengeschäft. Netflix ist
mit seinem Geschäftsmodell auf diese
Finanzierung nicht angewiesen, aber alle
Studios schon. Als kleiner Independent-
Vertrieb muss ich versuchen, auf dem
freien Markt das Programm zusammen-
zustellen, mit dem wir glauben, unsere
Firma am Leben erhalten zu können. Mit
anspruchsvollem, klassischem Arthouse
ist das fast nicht mehr zu schaffen. Das
erleben gerade alle, auch die Förderinsti-
tutionen. Alle machen sich Gedanken.
Wir sollten aus den Erfahrungen anderer
Branchen lernen. DieEntscheidung, an
Gewohnheiten festzuhalten, hat sich im
digitalen Wandel nirgends ausgezahlt.
ULRICH HÖCHERL

Digitalisierung ein Segen. Jeder große
Hollywoodfilm läuft heute in zig OmU-
Fassungen. Man muss dankbar sein, dass
das jetzt per Knopfdruck möglich ist.

Die Medienwelt verändert sich. Die
großen Filmkünstler arbeiten immer
öfter für weitere Auftraggeber wie die
Streamingplattformen. Müssen sich
Kinobetreiber, die ihrem Publikum die
besten Filme zeigen wollen, nicht
auch dieser Herausforderung stellen?
Die Kinos zeigen ja längst auch andere
Programme als Alternative Content. Am
letzten Septemberwochenende liefen
zwei Folgen von Paw Patrol sonntags in
vierhundert Kinos als Event mit mehr als
80.000 Zuschauer*innen – fast in der
Liga von Shaun das Schaf oder Everest.
Hätte man die letzte Staffel von Game
of Thrones im Kino zeigen können,
eine Woche vor Ausstrahlung und nur
samstags, wären alle Kinos ausverkauft
gewesen. Es ist doch fantastisch, wenn
das Publikum auch andere Programme
unbedingt im Kino mit seiner besonde-
ren Magie sehen will. Natürlich hat das
reguläre Programm Vorrang und leidet
auch im Regelfall nicht darunter. Wenn
aber zwei Trickfilme an einem Wochen-
ende starten, und am Sonntag die Kinos
parallel zwei Folgen einer Zeichentrick-
serie zeigen, dann schadet das der
regulären Auswertung schon. Darüber
hat sich allerdings keiner aufgeregt.

Müssen sich die Kinobetreiber neu
orientieren? Leute, die viel streamen,
gehen gern ins Kino.
Eine neue Erhebung zeigt, dass Leute,
die 15 Stunden in der Woche streamen,
zwölf mal im Jahr ins Kino gehen. Leute,
die nicht streamen, gehen nie ins Kino.
Wer ist hier der Feind? Aber nochmal, ich
kämpfe nach wie vor dafür und nehme
die Einwände ernst: Natürlich wäre es
super, wenn ein großer Eventfilm einen
Vorlauf von vier Monaten hätte. Am
Ende ist alles eine Frage der Finanzie-
rung und wie ein Film produziert wird.

Deutschland angesprochen. Das alles
passiert natürlich sehr kurzfristig: Die
Filme laufen in Venedig, Toronto oder
Telluride und kommen nun ein paar
Wochen später ins Kino. Das ist auch für
mein Team ein Riesenakt.


Warum gibt es in Deutschland zwei
Wochen Vorlauf, in England drei und in
den USA sogar vier?
Das weiß ich nicht. Ich habe mich um
einen längeren Vorlauf bemüht, aber
es handelt sich um ein europaweites
Fenster. Nach zwei Wochen kommen
die Filme in ganz Europa auf Netflix.


Alle Filme laufen in Originalfassung oder
im Original mit Untertiteln in den
Kinos. Wird damit ein großes oder gar
ein neues Publikum angesprochen?
Heutzutage ist auch ein Publikum von 60
Jahren aufwärts zu einem viel höheren
Prozentsatz englischsprachig, als es noch
unsere Eltern waren. Wir erleben, dass
OmU-Fassungen im Kino wichtiger
werden und sich Zuschauer*innen sogar
ausdrücklich Filme im Original wün-
schen. Schließlich zeichnet sich jeder
Schauspieler nicht nur durch seine
Mimik, sondern auch durch seine
Stimme aus. Trotzdem laufen Original-
fassungen nur in einer begrenzten
Anzahl von Kinos und haben keine signi-
fikanten Auswirkungen auf den Gesamt-
markt. Für die Programmvielfalt ist die


»Wir sollten den Mut


haben, gemeinsam


neue Wege zu gehen.«


DIE TOP FÜNF
Die fünf aktuell
wichtigsten Movie
Originals von Netflix
dürfen sechs
Monate lang auch in
deutschen Kinos
gezeigt werden.
»The Irishman«
startet am 14.
November.
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