Blickpunkt Film Magazin - 21.10.2019

(C. Jardin) #1

Inhalten und Texten über Film und Kino.
Als Vertiefung wird auch dieses Jahr an
das Projekt »The Useful Book« ange-
knüpft. Unter dem neuen Namen »Tex-
tur« wird dabei ein Buch präsentiert, das
unterschiedliche Inhalte und Quellen,
Worte und Bilder zusammenbringt. Der
erste Band ist Angela Schanelec gewid-
met.
Um Durchdringung geht es bei der
Viennale: Film ist hier keine tote Materie,
die man sich nur ansieht, sondern ist kre-
ative Knetmasse, die man bearbeiten, neu
formen und in andere Zusammenhänge
setzen kann. Im Hauptprogramm finden
sich so viele Filme, die bereits auf ande-
ren Festivals hohe Wellen geschlagen ha-
ben – siehe Ein verborgenes Leben, Atlan-
tique, Bacurau, Deerskin, Ema, Das
freiwillige Jahr, Giraffe, La Gomera, Jojo
Rabbit, Der Leuchtturm, Marriage Story,
Martin Eden oder Vitalina Varena, um nur
eine Handvoll der Titel zu nennen, die zu-
vor in Cannes, Locarno, Venedig oder
Toronto Weltpremiere gefeiert hatten und
seither weitere Festivals veredeln. Natür-
lich steht es dem Publikum in Wien frei,
einfach nur sie zu entdecken. Aber die ei-
gentliche Stärke des Festivals ist die Ver-
netzung, die Interkonnektivität: Im Zu-
sammenhang mit den Monografien, unter
anderem für Angela Schanelec und Pierre
Creton, und den Beiträgen in der Reihe Ki-
nematografie, u. a. mit dem legendären
Peter Brook (der 94-jährig einen Neu-
schnitt von Meetings with Remarkable
Men persönlich vorstellen wird), ergibt
sich ein lebendiges Bild filmischen Schaf-
fens, das zur Diskussion und Auseinan-
dersetzung einlädt. Und dann wird noch
in Kooperation mit dem Österreichischen
Filmmuseum eine Retrospektive gestar-
tet, die über die Viennale hinaus bis zum



  1. Dezember läuft und den paneuropäi-
    schen Partisanenfilm in den Mittelpunkt
    rückt: Unter dem Titel »O Partigiano!«
    wird über vier Jahrzehnte entstandenes
    Filmschaffen vorgestellt, in dem der Wi-
    derstand gegen Faschismus aus allen
    möglichen Perspektiven beleuchtet wird.
    Verlieren kann man sich nur im Angebot
    der Viennale: Man sollte es auch. Und
    Film aus ganz neuen Augen betrachten.
    Egal wie gut man sich mit der Geschichte
    des Kinos auszukennen glaubt: In Wien
    ist jeder ein Eleve.
    BAS/TS


VIENNALE TIPPS


Die Favoriten der Redaktion


Ulrich Höcherl
Chefredakteur und Herausgeber

Le jeune Ahmed


Ihre verstörenden Porträts »einfacher« Leute
sind das Markenzeichen der Brüder Jean-Pierre
und Luc Dardenne. In Cannes sind die großen
Filmemacher regelmäßig Gast im Wettbewerb.
Für Le jeune Ahmed, einer einfühlsamen und
ausweglosen Studie eines jungen Islamisten,
erhielten sie den Regiepreis. Dem packenden
Film wäre ein großes Publikum zu wünschen,
vielleicht findet er bei uns noch einen Verleih.

Thomas Schultze
Chefredakteur

Martin Eden


Ein erstaunlicher Film ist Pietro Marcello gelun-
gen: Er verlegt mit der Adaption des autobio-
graphischen Schlüsselwerks von Jack London
eine durch und durch amerikanische Geschichte
nach Italien, als könne diese Geschichte eines
Seemanns, der sich aus Liebe zu einer jungen
Frau aus der feinen Gesellschaft Lesen und
Schreiben beibringt und seine Leidenschaft für
die Schriftstellerei entdeckt, nur dort spielen.

Barbara Schuster
Redaktionsleiterin/CvD

La Gomera


Es ist leicht, abgelenkt zu werden von der
Handlung. Denn im Zentrum des von Corneliu
Porumboiu versiert inszenierten vertrackten
Überwachungsthrillers steht eine jahrhunder-
tehalte Pfeifsprache, wie sie nur auf der titel-
gebenden Insel gesprochen wird – und die die
Hauptfigur, ein korrupter rumänischer Polizist,
erlernen muss. Ich hab’s geschafft. Und werde
deshalb von meinen Kollegen gehasst. Kopro-
duziert wurde die viele Haken schlagende
Geschichte von Komplizen Film.

Marc Mensch
Stellvertretender Redaktionsleiter

Jojo Rabbit


Die Frage, ob man über Hitler im Kino lachen
darf, sollte eigentlich als geklärt gelten. Unbe-
dingt – und in diesen Zeiten vielleicht mehr als
je zuvor. Dass der Versuch, sich dem absoluten
Schrecken der Naziherrschaft auf satirische

Weise zu nähern, stets eine Gratwanderung
darstellt, versteht sich indes nahezu von selbst


  • und so ist sich auch die Kritikerschaft nicht
    recht einig, ob Jojo Rabbit nun ein Geniestreich
    oder letztlich zu harmlos ist. Ich halte es mit
    dem Publikum des diesjährigen TIFF, das den
    Film auszeichnete.


Heike Angermaier
Redakteurin

Amazing Grace


Ein mitreißender Musikfilm, der nicht nur das
Publikum und die Chormitglieder der zwei
Gospel-Konzerte, die die Queen of Soul Aretha
Franklin Anfang 1972 in einer Kirche in Los
Angeles gab, zu Tränen rührt. Sydney Pollack
hatte dort mit mehreren Kameras gedreht,
doch der Film konnte wegen technischer Prob-
leme nicht fertiggestellt werden. Er feierte erst
2019 seine Premiere bei der Berlinale und schil-
dert ein spannendes Stück Musikgeschichte.

Michael Müller
Redakteur

Synonymes


Ist der Gewinner des Goldenen Bären von Ber-
lin ein echter Geheimtipp? Noch viel zu
wenige Menschen haben einen der ästhetisch
beeindruckendsten Filme des Jahres gesehen.
Regisseur Nadav Lapid findet über den Hass
und die Flucht seines jungen Protagonisten
wieder die Liebe zu seiner israelischen Heimat.
Im frostigen Paris blickt er tief in die eigene
Seele und in die seiner Landsleute. Hauptdar-
steller Tom Mercier spielt dabei so wild und
begnadet wie ein junger Marlon Brando.

Jörg Rumbucher
Redakteur

Eins, zwei, drei


Der Spiegel würdigte Liselotte Pulver kürzlich
mit der Interview-Schlagzeile: »Ich wollte
immer eine Sexbombe sein.« Anlass war ihr 90.
Geburtstag am 11. Oktober. Die Viennale zeigt
ihren vielleicht furiosesten Film, wenn auch aus
anderen Gründen. Denn die Matinee der
schnellsten Screwball-Komödie aller Zeiten fin-
det zu Ehren des oscarprämierten Produzenten
Eric Pleskow (Rocky, Der mit dem Wolf tanzt,
Das Schweigen der Lämmer) statt, der mit dem
Filmfest viele Jahre eng verbunden war.
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