Blickpunkt Film Magazin - 21.10.2019

(C. Jardin) #1

EDITORIAL


THOMAS SCHULTZE Chefredakteur


EDITORIAL


La condition


superhumaine


W


er Martin
Scorsese schon
einmal in ei-
nem Interview
oder auf einer
Veranstaltung
sprechen gehört hat, der weiß, dass der
Mann redet wie ein Buch: rasend schnell,
blitzgescheit, präzise, geballtes Wis-
sen, das aus dem 76-Jährigen drängt wie
das, nunja, Wort Gottes. Was Scorsese
sagt, der Schutzheilige des anspruchs-
vollen amerikanischen Kinos, ist Gesetz.
Was wohl der Grund ist, warum sich einer
der Sätze, die er bei einem Q&A anlässlich
der Premiere seines The Irishman gesagt
hat, für die große Marvel-Fangemeinde
angefühlt haben mag wie ein Dolchstoß.
Er sehe sich keine Superheldenfilme
an, sagte er sinngemäß, obwohl er es
versucht habe: Sie seien zweifellos gut
gemacht und die Schauspieler würden im
Rahmen der Möglichkeiten starke Leis-
tungen abliefern, aber sie seien eben kein
Kino, sondern eher mit Themenparks zu
vergleichen. Dass aus dieser doch eher
harmlosen Betrachtung ein Kreuzzug der
Fanboys wurde, befeuert von den Fil-
memachern und Schauspielern auf der
Gehaltsliste von Marvel, die sich zutiefst
getroffen gaben von Scorseses freund-
licher Kritik, als habe der Regisseur von
GoodFellas per Dekret die Produktion
von Comicverfilmungen verboten, mag
unterstreichen, wie tief die Qualität des
Diskurses in den sozialen Medien gesun-
ken ist. Wie man aus einer Mücke einen
solchen Elefanten machen kann, ist irri-
tierend. Erstens ist es nicht das erste Mal,
dass Scorsese sich besorgt über die Zu-
kunft der Art von Kino äußert, mit der
er aufgewachsen ist. Zweitens spricht er
Marvel und Co. nicht die Daseinsberech-
tigung ab - vielmehr versucht er die Auf-
merksamkeit der Öffentlichkeit dahin zu
richten, dass Kino mehr zu bieten hat

als erwachsene Menschen in Capes: Das
Kino, das Scorsese meint, ist das Kino der
Meister (Ozu, Bergman, Fellini, Kurosa-
wa, Sie wissen schon), das sich mit der
Condition humaine auseinandersetzt.
Und drittens ist The Irishman ein Parade-
beispiel für das, was Scorsese meint: Kein
Studio zeigte sich bereit, den Film zu
finanzieren, der jetzt auf den Festi-
vals von New York und London gefeiert
wurde als Triumph des Kinoschaffens.
Und dann im November nur in einer
Handvoll von Kinos zu sehen sein und
einem Publikum vorenthalten wird, das
den vielleicht größten Film des Jahres
auf der großen Leinwand sehen möchte.
Der Mainstream erfreut sich einstweilen
an der Imitation of Life: Joker könnte nie-
mals seinen Erfolgszug durch die Kinos
anstreten, wenn Martin Scorsese mit Taxi
Driver und King of Comedy nicht die Blau-
pause für Todd Phillips’ Film geschaffen
hätte. Der zwar den Goldenen Löwen ge-
winnen konnte, aber nach dem ersten Ju-
bel in Venedig, doch nicht die Gnade der
Filmkritik findet. Dabei ist es einer der
wenigen Comicfilme, denen die Condi-
tion Superhumaine egal ist, sondern der
die Bestie Mensch abbildet in einem un-
geschminkt monströsen Film.
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