Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

Deutsche Ausgabe


Oktober 2019
10/25. Jahrgang
Deutschland: 4,70 EUR
Ausland: 5,00 EUR


Deutsche Ausgabe


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10


W


embley connected – die
blaue Leuchtreklame
erstrahlt vor dem grau-
en Himmel Londons.
Das Stadion im Nordwesten der Stadt,
von 2003 bis 2007 zum Eventtempel
umgebaut, ist gigantisch. Ein paar
Hochhausbaustellen in der Nähe ver-
leihen der Gegend ein wenig City-At-
mosphäre. Man kann sich kaum vor-
stellen, dass das hier eines der ärms-
ten Viertel Londons ist. Man merkt es,
wenn man die Circular Road überquert,
die den Stadtteil Brent in zwei Welten
teilt. Die südliche Hälfte ist bar jeder
Business-Ästhetik, stattdessen stehen
Buden auf den Bürgersteigen. Die Nähe
zum Zentrum hat die Wohnungsprei-
se explodieren lassen, viele Menschen
hier sind auf der Straße gelandet.
In London ist die Zahl der Woh-
nungslosen seit 2010 um 169 Prozent
gestiegen. Im ersten Quartal 2018
schlief einer von 200 Briten im Frei-
en oder in einer Notunterkunft.^1 Die
Stadtverwaltung von Brent hat sich ent-
schlossen, das Problem mithilfe eines
„Sozialen Wirkungskredits“ (SWK) an-
zugehen: Anstatt die Arbeit der beiden
Wohlfahrtsverbände vor Ort (Thames
Reach und Crisis) direkt zu subven-
tio nieren, wurde der Single Homeless
Prevention Service (SHPS) durch eine
solchen Kredit mit einem Budget von
2 Millionen Pfund (2,3 Millionen Euro)
ausgestattet. Damit soll verhindert wer-
den, dass Menschen in Geldnot auf der
Straße landen.
Der Kredit kommt von einem pri-
vaten Investor namens Bridges Ven-


tures. Vertraglich ist genau festgelegt,
wie viele Bedürftige über welchen Zeit-
raum unterstützt werden müssen. Der
Staat zahlt den mit 6 Prozent verzinsten
Kredit für das Projekt nur dann zurück,
wenn sämtliche Zielvorgaben erreicht
sind. In manchen Fällen liegt der Zins-
satz für einen SWK, die in Großbritan-
nien als Social Impact Bonds (SIB) be-
kannt sind, bei bis zu 15 Prozent. Wer-
den die Zielvorgaben nicht erreicht,
bekommen die Investoren ihr Geld
nicht zurück. Ob und wann dieser Fall
eintritt, wird von unabhängigen Gut-
achtern entschieden.
„Die Kommune Brent hat kein
Geld, um Programme gegen Woh-
nungsnot aufzulegen“, erklärt Steve
Mars land, der Leiter des Projekts. „Vor
2017 waren wir gesetzlich nur verpflich-
tet, Minderjährige und Personen über
65 unterzubringen. Heute besorgen wir
den Sozialträgern über einen SWK das
nötige Kapital, damit sie sich um alle
Menschen kümmern können, die von
Obdachlosigkeit bedroht sind. Und der
Staat muss das Geld nur dann zurück-
zahlen, wenn es gelingt, die Situation
zu verbessern.“
Ein Win-win-win-System, begeis-
tern sich die Anhänger dieses Modells:
Die Wohlfahrtsverbände können ihrer
Arbeit nachgehen, der Staat verschwen-
det keine öffentlichen Mittel, und die
Investoren bekommen Zinsen, die dem
finanziellen Risiko entsprechen.
Großbritannien ist mit fast 50 So-
zia len Wirkungskrediten innerhalb der

Soziale Profite

Ein Riss geht

durch Argentinien

Ein neues Wohlfahrtsmodell macht Schule


Das wirtschaftliche Scheitern von
Präsident Macri ist spektakulär.
Deshalb hat bei den Wahlen
am 27. Oktober das peronistische
Lager der linken Mitte mit
Ex-Präsidentin Kirchner als Vize
die besten Aussichten, wieder
die Regierung zu übernehmen.
Deren erste und dringlichste
Aufgabe wäre die Neuverhandlung
der Staatsschulden.

von José Natanson

Schätze


unter dem schmelzenden


Eis: Michael T. Klare über


Trumps gar nicht so abwegiges


Interesse am Kauf von Grönland


S. 4/


Enteignung

ohne Entschädigung: Cédric
Gouverneur über die Versprechen
des ANC und die ungelöste
Landfrage in Südafrika
▶ S. 12/

Konkurrenz

statt Teilhabe: Stephan Lessenich
über die unterentwickelte
Demokratie unserer entwickelten
Gesellschaften
▶ S. 15

Hizmet

heißt Dienst: Ariane Bonzon
über die Netzwerke des
türkischen Predigers Fethullah
Gülen im europäischen Exil
▶ S. 16

Handstreich

der Hindu-Nationalisten in
Delhi: Vaiju Naravane über
das Ende der Eigenständigkeit
von Kaschmir und Jammu
▶ S. 20/

Yellow Blanket, 2018, Öl auf Leinwand, 160 x 205 cm Foto: Nick Ash
(zum Künstler siehe Seite 3)


Amoako Boafo


A


m Morgen des 18. Mai, um
9 Uhr 20, lief das Telefon von
Alberto Fernández heiß. In-
nerhalb von zehn Minuten
zeigte sein Smartphone mehr als hun-
dert ungelesene Whatsapp-Nachrich-
ten an, ein Anruf folgte auf den nächs-
ten. Es waren Verzichtserklärungen
seiner peronistischen Mitbewerber für
die Spitzenkandidatur, und Gewerk-
schaftsführer, Geschäftsleute, Intellek-
tuelle und Gouverneure, die bis dahin
über ihre Präferenzen geschwiegen hat-
ten, versprachen ihn zu unterstützen.
Alle stellten sich hinter ihn, als folgten
sie einer spontanen Choreografie.
Die große Nachricht einige Minu-
ten zuvor, die das politische Szenario
radikal veränderte und die Präsident-
schaftswahlen entscheidend prägen
sollte, kam allerdings nicht von Alber-
to Fernández selbst, sondern von Cris-
tina Kirchner.
Die Ex-Präsidentin (2007–2015) und
Anführerin der wichtigsten peronisti-
schen Gruppierung war bis zu diesem
Zeitpunkt die prominenteste Kandida-
tin; doch dann beschloss sie, sich hin-

ter Fernández als mögliche Vizepräsi-
dentin in die zweite Reihe zu stellen.
Bis dahin war der Wahlkampf auf
eine Neuauflage des früheren Duells
zwischen der Linksperonistin Kirch-
ner und dem neoliberalen Präsidenten
Mauricio Macri zugesteuert. In den
Umfragen führte Cristina Kirchner
mit einem Drittel der Wählerstimmen.
Doch es gab ein Problem: So groß die
Unterstützung für sie als Person war,
so stark war gleichzeitig die Ablehnung
gegen sie als Politikerin.
Diese Hassliebe – die Argentinier
sagen „la grieta“ (der Riss) – geht zu-
rück auf das Jahr 2008. Damals traf die
Präsidentin, die ihrem Mann Nestor
Kirchner im Amt nachgefolgt war, eine
in der Folge höchst umstrittene Ent-
scheidung in Sachen Agrarpolitik: Cris-
tina Kirchner wollte die Exportsteuern
auf Sojabohnen und Getreide erhöhen.

Agrobusiness
gegen Linksperonisten

Wie die anderen lateinamerikanische
Länder exportiert Argentinien vor al-
lem Rohstoffe. Dabei ist das Land nicht


  • wie Venezuela, Peru oder Chile – reich
    an Erdöl oder Mineralien, sondern der
    Wohlstand beruht auf Soja, dem „grü-
    nen Gold“ der Pampa.
    Argentinien ist weltweit der zweit-
    größte Sojaexporteur. Mitten im Super-
    boom der Rohstoffe, als eine Tonne So-
    ja auf dem Weltmarkt über 600 Dollar
    kostete (heute sind es 300 Dollar), be-
    fand Cristina Kirchner, es sei an der
    Zeit, mehr von der „Superrendite“ des
    mächtigen Agrarsektors einzubehalten,
    um den Staat zu stärken, die Sozialpo-
    litik voranzutreiben und die einheimi-
    sche Industrie zu fördern.


Allerdings unterschätzte sie, wel-
che Reaktionen das in den betroffenen
Regionen hervorrufen würde. Cristina
Kirchners Regierung hatte eine Vorstel-
lung vom ländlichen Raum, die längst
überholt war. Sie glaubte, es mit quasi-
feudalen Strukturen zu tun zu haben,
mit Großgrundbesitzern und Tagelöh-
nern. In Wirklichkeit aber war der Ag-
rarsektor längst in der Globalisierung
angekommen. Dort war nicht nur viel
ausländisches Kapital im Spiel, es war
auch eine breite ländliche Mittelschicht
entstanden, die enge Beziehungen zur
Finanzwelt, zur Industrie und zu den
Medien pflegte.
„Der landwirtschaftliche Sektor ist
keineswegs mehr traditionalistisch
und rückständig“, erklärt die auf rurale
Themen spezialisierte Soziologin Carla
Gras.^1 Der ländliche Raum (el campo)
habe eine große Modernisierung und
technologische Neuerungen erfahren.
„Heute stehen diese Regionen für Wett-
bewerbsfähigkeit und Dynamik. Sie
mussten zwangsläufig über kurz oder
lang auch politisches Gewicht bekom-
men.“^1
Auf die geplante Steuererhöhung
von Cristina Kirchner reagierten die
Agrarunternehmer mit Straßensperren
und Lieferstopps von Lebensmitteln.
Drei Monate dauerte der Protest an,
und am Ende setzten sich die Agrarin-
teressen im Kongress durch. Cristina
Kirchner erholte sich zwar von dieser
Niederlage und wurde 2011 wiederge-
wählt, doch der politische Riss war da.
Die Polarisierung verstärkte sich sogar
noch, denn der Konflikt, der in dem
Steuerstreit hochkochte, liegt tiefer. Er
ist Ausdruck eines langen historischen

von Margot Hemmerich und Clémentine Méténier


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