Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

LE MONDE diplomatique |Oktober 2019 15


S


o zerrissen und gespalten sich
die gegenwärtige Gesellschaft
zeigt, in der Sorge um die De-
mokratie erscheint sie inner-
lich verbunden. Dass es um die demo-
kratischen Verhältnisse nicht gut be-
stellt sei, ist der Tenor des politischen
Diskurses von rechts wie von links.
Die Rede von „post demokratischen“
Zuständen gehört zum Basisrepertoire
der linken Kritik am Neoliberalismus,
aber auch die AfD wirbt neuerdings
mit der rechten Anverwandlung des
Willy-Brandt-Slogans „Mehr Demokra-
tie wagen“. Und sozialwissenschaftliche
Beobachter, die den Rechts-links-Ge-
gensatz für überholt erklären, beschul-
digen die jugendliche Klimaaktivistin
Greta Thunberg der Demokratieverach-
tung: Aus ihrer unbedingten Forderung
nach einer ökologischen Kehrtwende
spreche die autoritäre Missachtung der
Alltagssorgen von Otto Normalflieger.
Als Gegenhorizont dieser vielstim-
mig artikulierten Besorgnisse wird häu-
fig jenes goldene Zeitalter beschwo-
ren, in dem die demokratische Welt
angeblich noch in Ordnung war. Jene
bundesrepublikanischen Jahrzehnte,
als die Leute wählen gingen, um ihre
Stimme den Volksparteien der Mitte zu
geben – und als die Tarifpartnerschaft
von Kapital und Arbeit verlässlich für
geordnete sozialmarktwirtschaftliche
Verhältnisse sorgte.
Dann aber kam die demokratische
Ordnung durcheinander. Schuld wa-
ren, je nach Krisenerzählung, die Glo-
balisierung und die Wirtschaftseliten,
die Fluchtmigration und Angela Mer-
kel, oder aber die neuesten sozialen
Bewegungen mit ihren gesellschaftli-
chen Umgestaltungsfantasien. Und al-
le zusammen ließen sie das grüne Gras
der korporativ-inklusiven Schönwetter-
demokratie seligen Angedenkens ver-
dorren.
Mit dem seligen Angedenken ist
das freilich so eine Sache: Meistens hat
das, was im Nachhinein als makellos
erscheint, bei genauerem Hinsehen al-
lerhand Macken. Das gilt auch für jene
gute alte Demokratie, die heutzutage
gern hochgehalten wird und wahlwei-
se gerettet oder wiederhergestellt wer-
den soll. In Wirklichkeit hat es sie gar
nicht gegeben.
Genau genommen kann man sa-
gen: Wir sind nie demokratisch gewe-
sen. Jedenfalls dann nicht, wenn man
unter Demokratie eine gesellschaft-
liche Lebensform versteht, in der für
alle Bürger und Bürgerinnen die glei-
che Teilhabe an der politischen Ge-
staltung ihrer eigenen Lebensbedin-
gungen gewährleistet ist. Von einem
solch substanziellen Demokratiever-
ständnis waren die realen gesellschaft-
lichen Verhältnisse selbst in ihren bes-
ten, vorpostdemokratischen Zeiten weit
entfernt.
Seit jeher – und bis heute – ist die
Demokratie der westlichen Industrie-
gesellschaften vielmehr geprägt und
umgeben von einem Grenzregime, das
politische, ökonomische und soziale
Berechtigungen äußerst selektiv zu-
weist. Von einem Regime, das für die
einen Berechtigungsräume öffnet, die
es anderen verschließt. Diese Grenzli-
nien zwischen mehr, weniger und gar
nicht Berechtigten verlaufen vornehm-
lich entlang dreier Achsen.
Die Grenzen der Demokratie wer-
den zuallererst von „oben“ gezogen:
von den Auserwählten, die gesellschaft-
liche Herrschaftspositionen bekleiden.
Dass diesen Herrschenden daran gele-
gen ist, das Fußvolk von den Möglich-
keiten politischer Mitsprache und öko-
nomischen Erfolgs, sozialer Teilhabe
und persönlicher Selbstbestimmung
fernzuhalten, ist durchaus nachvoll-
ziehbar.
Machen wir uns nichts vor: Die Vor-
stellung tatsächlicher Volksherrschaft
macht die „oberen Zehntausend“ gru-
seln. Nicht ohne Grund gab es gegen
das wahlpolitische Prinzip des „One
man, one vote“ erbitterten Widerstand.
Und nicht zufällig musste selbst noch
in etablierten Demokratien jahrzehnte-
lang für das Frauenwahlrecht gekämpft
werden. Wobei anzumerken ist, dass

es auch bei uns noch kein Wahlrecht
für die vielen Millionen ausländischer
„Mitbürger“ gibt, deren Entrechtung
heute kaum jemand als skandalös
empfindet.
Zugleich haben die ökonomisch
Herrschenden nie einen Zweifel dar-
an gelassen, wer in dieser Gesellschaft
nach wessen Pfeife zu tanzen hat: Wer
kein Kapital besitzt, sondern lohnab-
hängig ist, verfügt in dem zentralen
Lebensbereich – dem der vergesell-
schafteten Arbeit – über herzlich weni-
ge Möglichkeiten zur Gestaltung der ei-
genen Lebensumstände. Im Normalbe-
trieb einer kapitalistischen Ökonomie
gilt es bis heute als selbstverständlich,
dass die Demokratie vor den Werks-
toren, Bürotürmen und virtuellen Ar-
beitswelten haltmacht.
Die Begrenzung von Berechtigungs-
räumen in modernen Demokratien er-
schöpft sich allerdings nicht im Be-
mühen der Herrschenden, die gesell-
schaftlichen Gestaltungschancen der
Beherrschten zu beschneiden. Quer zu
dem, was man als die Logik der Klas-
sengesellschaft bezeichnen könnte,
liegt die Logik der Konkurrenzgesell-
schaft, liegen die vielfältigen Arten der
Grenzziehung, zu denen die Beherrsch-
ten selbst durch die Gesetze der Markt-
ökonomie gezwungen sind.
Auf den mittlerweile in sämtlichen
Lebenssphären etablierten Marktplät-

Wir sind nie

demokratisch gewesen

von Stephan Lessenich

zen kämpfen die Besitzlosen um Teil-
habe, tobt der alltägliche Wettbewerb
um den Rest vom Kuchen und ein
paar relative Privilegien. Hier kämp-
fen alle um die attraktiven Positionen
in der materiellen und symbolischen
Statushierarchie: Männer, die Frauen,
Einheimische, die Zugewanderte oder
Junge, die Alte draußen halten wollen
(und umgekehrt). All das gehört in der
Konkurrenzgesellschaft zum demokra-
tischen Gang der Dinge: Berechtigung
erscheint als knappes Gut, und wer es
einmal in den Kreis der Berechtigten
geschafft hat, übernimmt fraglos die
Überzeugungswelt der Etablierten. Das
hab ich mir verdient! Das Boot ist voll!
Genau dies ist freilich auch – und
erst recht – die kollektive Parole, mit
der die Bürger und Bürgerinnen demo-
kratischer Gemeinwesen das Berechti-
gungsbegehren Außenstehender abzu-
wehren, ja möglichst schon im Keim
zu ersticken trachten. Wenn auch noch
„Dahergelaufene“ (im wahrsten Sin-
ne des Wortes) Einlass in die heiligen
Hallen der Staatsgesellschaft begehren
und den Raum demokratischer Berech-
tigung mitbevölkern wollen, dann zei-
gen sich die Grenzen der Demokratie
ganz schnell und überdeutlich. Dann
nämlich wird diesen Möchtegernen
klargemacht, dass sie im Haus der De-
mokratie, das angeblich „für alle offen“
ist, unerwünscht sind.

Und diese Botschaft geht keines-
wegs nur von den Unterprivilegierten
aus, von den objektiv oder subjektiv
„Abgehängten“ der Marktgesellschaft.
Vielmehr ist es das quer zu Klassenla-
gen und Statuspositionen sich konsti-
tuierende „Wir“ der nationalen Berech-
tigungsgemeinschaft, das den unge-
betenen Gästen in bemerkenswertem
sozialem Einklang die Türe weist. Die-
ses „Wir“ versteht in Sachen Öffnung
keinen Spaß und gebietet: Ihr müsst
leider draußen bleiben.
Als Klassen-, Konkurrenz- und na-
tional organisierte Gesellschaft ist die
moderne Demokratie mithin ein viel-
schichtiges Arrangement der sozia-
len Begrenzung von Berechtigungsan-
sprüchen. Dabei sind die Mitglieder
des Gemeinwesens, über alle inneren
Spaltungen und Differenzen hinweg,
vereint nicht allein im Willen zur Ab-
schließung des nationalen Berechti-
gungsraums nach außen. Das moder-
ne demokratische Grenzregime basiert
auch auf dem gesellschaftlichen Kon-
sens, dass es keine Grenzen der Natur-
beherrschung gibt.
Noch grundsätzlicher formuliert:
Das gesamte demokratische Berechti-
gungsarrangement setzt voraus, dass
sich die Gesellschaft permanent und
unaufhörlich natürliche Ressourcen
einverleiben und die Rückstände ih-
res Verbrauchs bedenkenlos entsor-

gen kann. Dies ist gleichsam eine wei-
tere, vierte Achse demokratischer Öff-
nungs- und Schließungspraktiken: Die
Bürger und Bürgerinnen finden sich,
so ungleich ihre Berechtigungspositi-
onen auch sein mögen, in der wechsel-
seitigen Zuerkennung gleicher Rech-
te auf Naturentrechtung zusammen.
Peinlich, aber wahr: Die gemeinsame
Ermächtigung zur uneingeschränkten
Inanspruchnahme der gesellschaftli-
chen „Umwelt“, die selbstverliehene
ökologische Lizenz zum Töten, ist die
implizite Geschäftsgrundlage der mo-
dernen Demokratie.
Was gegenwärtig geschieht und die
kapitalistischen Demokratien des Wes-
tens ebenso aufwühlt wie ihre einst
hoffnungsfrohen Nachahmersysteme
im Osten Europas, ist die Tatsache,
dass dieses demokratische Grenzre-
gime zunehmend offensichtlich wird.
Und dass es sich gerade in seiner Offen-
sichtlichkeit zunehmend als unhaltbar
erweist.
Genau dieser Umstand, die Gleich-
zeitigkeit vielfältiger demokratiepoliti-
scher Erschütterungen, ist die Krisensi-
gnatur unserer Zeit. Wer diese auf den
aufhaltsamen Aufstieg des „Rechtspo-
pulismus“ reduzieren will und nach je-
dem einschlägigen Wahlerfolg in die
wohlfeile, parteiübergreifende Sorge
um die Demokratie einstimmt, mag
sich zwar automatisch auf der richti-
gen Seite wähnen, hat aber die Tiefe
der Zeitenwende nicht begriffen.
Denn die Grenzen der so lange
so gut funktionierenden demokrati-
schen Schließungen werden immer
deutlicher sichtbar. Sie zeigen sich im
rechtspopulistischen Establishment-
Bashing wie in der linkspopulären
Skandalisierung des „einen Prozent“
der Superreichen; in den erkennbar
wahnwitzigen Auswüchsen der sozialen
Statuskonkurrenz wie in der erschre-
ckenden Selbstverständlichkeit eines
ungeschminkten Alltagsrassismus; in
den humanitären Kosten der polizei-
lich-militärischen Abschottungspoli-
tik wie in den spürbaren ökologischen
Folgen des global verallgemeinerten
Wachstumskapitalismus.
Es ist die dunkle Ahnung, dass die
Grenzen des demokratischen Grenzre-
gimes tatsächlich erreicht sein könn-
ten, die den Herren und Hütern, den
großen und kleinen Profiteuren, den
politischen Apologeten und intellektu-
ellen Verteidigern dieses Regimes glei-
chermaßen Sorge bereitet.
Dabei geht es auf den vielen Stufen
der Sozialhierarchie all den selbster-
klärten Sorgeberechtigten darum, ihre
bedrohte materielle oder symbolische
Vorrangstellung zu sichern. Einheimi-
sche und Alteingesessene, „alte weiße
Männer“ und die „hart arbeitende Be-
völkerung“, der luxurierende Geldadel
und die wohlbestallten Deutungseliten


  • sie alle verteidigen, jeweils mit ihren
    Mitteln, den Status quo einer Demokra-
    tie, die sich in ihrer Berechtigungslogik
    als multipel geschlossene Gesellschaft
    erweist.
    All diese Gruppen wenden sich
    auf jeweils ihre Weise – ob per sozial-
    medialer Hetze oder eloquenter Dis-
    kurspolitik – gegen jede Regung einer
    systemüberschreitenden, der sozialen
    Entgrenzung und ökologischen Be-
    grenzung der Demokratie verschriebe-
    nen Fantasie. Hauptsache, man bleibt
    unter sich – und alles bleibt so, wie es
    war.
    Man kann über diese vielstimmige
    und vielförmige Herrschaft des demo-
    kratischen Ressentiments verzweifeln,
    achselzuckend hinweggehen oder in
    Rage geraten. Aber egal wie man sich
    dazu verhält, der Blick auf die geistige
    Situation der Zeit vermittelt eine Leh-
    re, und die lautet: So sehen Krisen aus.
    Allerdings muss die Krise dessen, was
    wir „Demokratie“ zu nennen uns an-
    gewöhnt haben, nicht das Schlechtes-
    te sein.


Amoako Boafo, Blondy, 2019, Öl auf Leinwand, 99 x 70 cm Foto: Nick Ash

Stephan Lessenich lehrt Soziologie an der Ludwig-Maxi-
milians-Universität München. Gerade erschien von ihm
„Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungspro-
blem“, Stuttgart (Reclam-Verlag) 2019.
© LMd, Berlin
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