16 LE MONDE^ diplomatique^ | Oktober 2019
Gülens Netzwerk in Europa
von Ariane Bonzon
In der Türkei werden die Anhänger
des Predigers Fethullah Gülen
politisch verfolgt. Viele von ihnen
suchen Zuflucht in Europa und
versuchen, ihre alten Organisationen
wieder aufzubauen – zum Teil
mit zweifelhaften Ambitionen.
S
esamkringel, Gurken, Oliven
und Rührei mit Tomaten. In
seinem gutbürgerlichen Haus
im Londoner Norden serviert
uns Mustafa Yeşil ein türkisches Früh
stück. Der Mittfünfziger ist eine von
vier Personen, deren Auslieferung der
türkische Ministerpräsident Binali Yıl
dım 2017 von Großbritannien ver rı
langt hat.
Die islamischnationalistische Re
gierung in Ankara beschuldigt Yeşil,
der „Fethullahistischen Terrororganisa
tion“ (Fetö) nahezustehen. Gemeint ist
die Bewegung, die sich um den Imam
Fethullah Gülen gebildet hat, der seit
1999 im selbstgewählten Exil in den
USA lebt. In Ankara gilt er als Drahtzie
her des gescheiterten Putschversuchs
vom 15. Juli 2016.^1
Mustafa Yeşil ist einer der wenigen,
die im direkten Kontakt mit dem Hoca
Efendi („Meister“) stehen und in des
sen Namen sprechen dürfen. Yeşil ist
ein Organisationstalent und einer von
jenen Apparatschiks, auf die sich die
Bewegung stützt, die von den Gülen
Anhängern selbst Hizmet („der Dienst“)
genannt wird. Experten beziffern die
Hizmetefolgschaft auf weltweit 4 bis G
8 Millionen Menschen.
Yeşil studierte Ende der 1970er Jah
re Islamische Theologie an der Istan
buler MarmaraUniversität und arbei
tete danach als Religionslehrer. 1983
stieß er auf die Predigten von Fethul
lah Gülen, die ihn „ergriffen wie nichts
zuvor“. Heute ist Yeşil ein Abi („großer
Bruder“) und Vorsitzender des He yet
(„Rats“). Er leitet den europäischen
Zweig der Gemeinschaft, die derzeit
ständig anwächst, weil immer mehr
GülenAnhänger nach Europa fliehen.
Als die Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung (AKP) von Recep Tayyip
Er2002 an die Macht kam, stand do ğan
die HizmetBewegung fest an ihrer Sei
te. Mit ihrer Hilfe konnte der neue Re
gierungschef die Dominanz der repu
blikanischen, nationalistischen, laizis
tischen und kemalistischen Kräfte in
Justiz und Polizei brechen und sogar
den Einfluss der Armee eindämmen.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute
betrachtet das ErdoğanRegime die Hiz
metBewegung als ihren größten Feind.
Bevor der Konflikt zwischen Gülen
Anhängern und ErdoğanParteigängern
offen ausbrach, war er im Staatsappa
rat schon verdeckt zugange.^2 Zwischen
2010 und 2015 spielte Mustafa Yeşil da
bei eine Schlüsselrolle. Er verließ das
Land ein Jahr vor dem Putschversuch,
der die Verhängung des Ausnahmezu
stands auslöste.
Das Ausnahmerecht ermöglichte
die Zerschlagung der gülenistischen
Netzwerke in Armee und Verwaltung:
Vereine wurden verboten, Medien und
Verlage geschlossen, Schulen, Hoch
schulen und zahlreiche Unternehmen,
die in Verbindung zur GülenBewegung
standen, unter die Kontrolle des Staats
gebracht.^3 Nach Angaben der Regie
rung vom Frühjahr 2019 wurden rund
77 Personen wegen Zugehörigkeit 000
zur Fetö festgenommen, 240 000 sehen
einem Prozess entgegen, 30 400 wurden
bereits abgeurteilt. Insgesamt wurden
150 Beamte vom Dienst suspen 000
diert oder entlassen.
Tausende Gefolgsleute Gülens sind
deshalb geflohen. Mustafa Yeşil gibt
an, dass 55 000 von ihnen zwischen
2016 und Anfang 2019 in der EU poli
tisches Asyl beantragt haben. Der alte
Kontinent scheint heute – mit den USA
- das „pulsierende Herz“ der Bewegung
zu sein. Das war nicht immer so.
Gülenemeinden hatten sich in G
Europa bereits seit den 1980er Jahren
etabliert, finanziert durch Spenden tür
kischer Unternehmer, die sich in Euro
pa niedergelassen hatten. Aber der stei
le Aufstieg der Bewegung begann erst
nach dem AKPWahlsieg von 2002.
Ein Insider aus der HizmetSzene,
der anonym bleiben will, schildert,
wie das vonstatten ging: „In Europa
und anderswo verlief die Ausbreitung
immer nach demselben Schema. Ein
Imam wurde ernannt, um die Bewe
gung in dem betreffenden Land ,anzu
führen‘, man bildete eine Gruppe für
den interreligiösen Dialog und den Dia
log mit der Zivilgesellschaft, eine ande
re Gruppe kümmerte sich um Wohnun
gen, eine um Schulen, eine um die Un
ternehmer. Für jede große Re gion gab
es einen Imam, in Frankreich beispiels
weise einen für Lyon oder für Seine
SaintDenis.“
Für praktizierende Muslime mit
EUPass bot die GülenBewegung die
Möglichkeit, ihren Glauben, ihre tür
kische Herkunft und ihre Staatsange
hörigkeit miteinander zu versöhnen - und das in Ländern, die dem Islam
nicht immer wohlwollend gegenüber
stehen. „Dank Gülens Botschaft konn
ten wir eine Brücke zwischen unserem
muslimischen Glauben und der moder
nen Welt schlagen“, sagt ein Anhänger
aus London. „Als Alternative zum po
litischen Islam bot er einen zivilen Is
lam, der soziale Verantwortung, Inte
gra tion und Dialog beinhaltet.“
In Europa ist die GülenBewe
gung mit rund 50 Schulen, hunderten
Abendkursen und einer Vielzahl von
Kultur, Berufs und Frauenverbänden
vertreten, am stärksten in Deutsch
land (wo die meisten Anhänger leben),
Belgien, den Niederlanden und Frank
reich. In jedem dieser Länder unterhält
die Bewegung eine „Plattform zur För
derung des interreligiösen Dialogs“.
Über die vergibt sie auch Stipendien,
wobei Moral, Finanzlage und Lebens
gewohnheiten der Bewerber und ihrer
Familien genau überprüft werden. Die
Zeitung der Bewegung, Zaman, wurde
allerdings einige Wochen nach dem
Putschversuch von 2016 eingestellt.^4
Die PRbteilung der Bewegung A
warb zudem eifrig um intellektuelle,
religiöse und politische Kreise. Der Un
ternehmerverband der Bewegung, die
Turkish Confederation of Businessmen
and Industrialists (Tuskon), finanzier
te Konferenzen, häufig in Kooperation
mit Brüsseler Thinktanks. In Belgien
richtete die Universität Leuven einen
FethullahGülenLehrstuhl für Inter
kulturelle Studien ein.
In Frankreich organisierte die Be
wegung ein jährliches Diner in der Na
tionalversammlung. Die meisten Abge
ordneten dachten wohl nicht groß da
rüber nach, wer hinter der Einladung
stand. Die Islamexperten des Innen
ministeriums wusste jedoch genau,
mit wem sie es zu tun hatten, zumal
die GülenAnhänger um gute Kontak
te zu den nationalen Geheimdiensten
bemüht waren.
Die Jungen
fordern Selbstkritik
Im Europäischen Parlament zeigten
sich die Grünen als besonders zugäng
lich. Nach Aussage eines hohen EU
Beamten, der mit der türkischen Poli
tik vertraut ist, unterstützte die grüne
Fraktion etliche Initiativen, „die ein
deutig als gülenistisch erkennbar wa
ren“. Zum Beispiel eine Fotoausstellung
im Europäischen Parlament, die Zaman
2012 zu ihrem 25jährigen Bestehen or
ganisiert hatte.^5
Der EUertreter kommentiert erV
bost: „Zaman zum Symbol der Presse
freiheit zu stilisieren, das war grober
Unfug.“ Auch einer wie Daniel Cohn
Bendit, der als Schirmherr der Ausstel
lung aufgetreten sein soll, hatte damals
keine Berührungsängste.
Allerdings stand Gülen 2012 noch
in Erdoğans Gunst. Damals entsandte
Ankara junge Staatsanwälte an den Eu
ropäischen Gerichtshof für Menschen
rechte (EGMR), die eindeutig Güle
nisten waren, berichtet ein hoher tür
kischer Beamter: „Darüber wurde im
Europarat offen gesprochen. Als 2013
der Krieg zwischen Erdoğan und Gülen
ausbrach, wurden sie alle abberufen.“
Nach dem Putschversuch von 2016
wurden mehrere Kader der GülenBe
wegung von türkischen Spezialkom
mandos entführt. Das geschah nicht
nur in Asien und Afrika, sondern auch
europäischen Peripherieländern wie in
der Ukraine, der Republik Moldau und
im Kosovo.^6 Auch innerhalb der EU
werden GülenFunktionäre bedroht:
Fotos ihres Wohnhauses oder ihres Au
tos erscheinen in der regierungsfreund
lichen türkischen Presse. Die Botschaft
ist klar: „Ihr entkommt uns nicht.“
Diese Leute wissen zwar, dass sie
in der EU besser geschützt sind als an
derswo, sind aber auch enttäuscht da
rüber, dass der EGMR tausende von
Beschwerden abgewiesen hat, die tür
kische Staatsbürger nach dem geschei
terten Putsch gegen ihre Verhaftung
oder Entlassung eingereicht hatten.
Viele GülenAnhänger, die ins Aus
land fliehen, landen zuerst in Griechen
land. Wer es nach Europa schafft, zahlt
einen Obolus von 1000 Euro, um wei
tere Flüchtlinge zu unterstützen. Einer
von ihnen war Staatsanwalt am obers
ten Gerichtshof in Ankara.
Der Mann hatte einem Schleuser
10 Euro gezahlt, der ihn dann auf 000
einem Schlauchboot – zusammen mit
zwei syrischen Familien – nachts in
der stürmischen Ägäis seinem Schick
sal überließ: „Wir schöpften ständig
Wasser aus dem Boot“, erinnert sich
der Flüchtling. Als ein riesiges Schiff
in der Dunkelheit auf sie zufuhr, mal
te er sich die Schlagzeilen in den türki
schen Zeitungen aus: „Ein Richter ist
vor der Demokratie geflohen, und er
wurde bestraft.“
In der Türkei wird die Bewegung
unterdrückt. Sie ist finanziell ge
schwächt, ihre Anhänger sind in ihrer
Existenz bedroht. Dennoch hat sie ihr
Hauptziel nicht aufgegeben: Erdoğan
zu stürzen. Aber nicht durch Gründung
einer politischen Partei – was unter den
jetzigen Umständen undenkbar ist –,
sondern durch eine extrem aggressive
Medienkampagne.
„Sie sind nur AntiErdoğan“, sagt
der Journalist Ragıp Duran, der auch
im griechischen Exil lebt: „Ansonsten
sind sie sehr staatsgläubig und, was die
Kurdenfrage betrifft, sehr antidemokra
tisch.“ Positiv sieht er nur, dass sie der
Linken nicht so feindlich gesinnt sind
wie Erdoğan.
Der in Schweden lebende gülenis
tische Autor Abdullah Bozkurt nimmt,
zusammen mit einer Gruppe von Jour
nalisten, den türkischen Staatspräsi
denten ins Visier. Sie publizieren regel
mäßig – vor allem über Twitter – inter
ne Dokumente, die für die Machthaber
in Ankara belastend sind.
Ein scharfer Kritiker solche Prakti
ken ist der türkischschwedische Poli
tikwissenschaftler Halil Karaveli: „Die
GülenAnhänger haben gezeigt, dass
sie Feinde der Demokratie sind: Das be
legt der Putschversuch, aber noch mehr
ihre finsteren Pläne, den türkischen
Staat zu erobern, und ihre wahrschein
liche Verwicklung in den Mord an dem
armenischen Journalisten Hrant Dink.
Daran, dass die Türkei sich zu einem
autoritären Staat entwickelt, haben sie
genauso viel Schuld wie Erdoğan.“
Auch der GülenAnhänger Ahmet
Dönmez lebt in Stockholm. Der junge
Journalist will mehr über die Rolle her
ausfinden, die Gülenisten bei dem ver
suchten Militärputsch gespielt haben.
Ihn plagt wie viele andere, die in der
Bewegung ernsthaft engagiert waren,
das bittere Gefühl, getäuscht worden
zu sein (was sie Ausländern gegenüber
nicht immer zugeben).
An verschiedenen Orten in Europa
wurden interne Versammlungen ab
gehalten, an denen sowohl „Alte“ wie
Mustafa Yeşil als auch die junge Gene
ration teilgenommen haben. Glaubt
man den Berichten zweier Teilnehmer,
so gab es heftigen Widerspruch, als ei
ner der Veteranen vorschlug, die Bewe
gung solle, ähnlich wie in der Türkei,
auch in Europa versuchen, staatliche
Institutionen zu infiltrieren.
Mustafa Yeşil spielt solche inneren
Differenzen herunter: „In Europa agiert
die GülenBewegung absolut transpa
rent. Die Angehörigen von Hizmet, die
in den letzten Jahren nach Europa ge
kommen sind, haben in der Türkei ei
nen hohen Preis bezahlt. Ihre Integra
tion braucht einfach Zeit.“
In einem Punkt sind sich freilich al
le Gülenisten einig: Europa ist die Re
gion, wo sie hoffen können, ihre Netz
werke wieder aufzubauen. Hier sind
ihre Vereinigungen ganz offiziell zuge
lassen. Doch die jungen Kader sehen
die Zeit der Selbstkritik und der Neu
orientierung gekommen.
Ein junger GülenAnhänger formu
liert es so: „Wir haben immer gesagt,
dass wir eine zivilgesellschaftliche Be
wegung sind, aber wir waren auf den
Staat fixiert. Wir haben gesagt, dass
wir unpolitisch sind, aber wir haben
eine politische Partei unterstützt. Jetzt
müssen wir erst mal vor unserer eige
nen Haustür kehren.“
Ein anderer „Dissident“ meint aller
dings, die internen Diskussionen führ
ten zu nichts. Im Übrigen seien die Tra
ditionalisten immer noch stärker als
die Modernisierer: „Solange Fethullah
Gülen lebt, wird sich nichts tun. Und
danach? Da wird die Bewegung implo
dieren.“
Amoako Boafo, Aketch Joy Winne, 2019, Öl auf Leinwand, 99 x 84 cm Foto: Nick Ash
(^1) Siehe Günter Seufert, „Anatomie eines Putsches“,
LMd, Oktober 2016.
(^2) Zum Verlauf dieses Konflikts siehe Günter Seufert,
„Der mächtige Herr Gülen“ , LMd, Februar 2014.
(^3) Siehe Jean Marcou, „Die Welt aus der Sicht Erdoğans“,
LMd, Mai 2017. Von einem „Gegenputsch“ spricht Yavuz
Baydar in seinem „Brief aus dem Exil“, LMd, Oktober 2016.
(^4) Zaman erschien in zwölf EU-Ländern und erreichte
eine Gesamtauflage von bis zu 50 000 Exemplaren.
(^5) Es handelte sich um eine Wanderausstellung mit Fo-
tos berühmter türkischer Fotografen, die auch in Wien,
London und Athen gezeigt wurde.
(^6) „Die Entführung von sechs Personen aus Pristina am
- März 2018 ist dokumentiert unter: http://www.zdf.de/po-
litik/frontal-21/die-verschleppten-100.html.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Ariane Bonzon ist Journalistin und Verfasserin des
Buchs „Turquie. L’heure de vérité“, Tharaux (Éditions
Empreinte) 2019.