Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

LE MONDE diplomatique |Oktober 2019 19


V


iele westliche Kommentato­
ren sind der Meinung, dass
sich Russland an eine inter­
nationale Ordnung klam­
mert, die es nicht mehr gibt. Gemeint
ist das im Februar 1945 begründete
„System von Jalta“, das dem damals
sowjetischen Russland eine Einfluss­
sphäre in Osteuropa sicherte.
In dieser westlichen Sichtweise ist
die aktuelle Politik Russlands, sprich
die Annexion der Krim und die Unter­
stützung der Donbass­Rebellen, die
mihe Antwort auf den „Verlust“ litärisc
der ehemaligen Sowjetrepublik Ukrai­
ne. Ein Beispiel: Der Jahresbericht 2017
zur nationalen Sicherheitsstrategie der
USA (NSS) kennzeichnet Russland als
„revisionistische Macht“, die darauf aus
sei, das existierende internationale Sys­
tem zu zerstören.
Nach dem gängigen westlichen
Russland­Bild herrscht in Moskau ein
schwaches autoritäres Regime, das
durch riskante außenpolitische Unter­
nehmungen von den Problemen im In­
nern ablenken will. Und das zugleich
versucht, sein autoritäres Modell zu
exportieren, was auch die „Allianz der
Autokratien“ mit China beweise. Die
Konfrontation mit dem Westen hat das
Land eine Zeitlang tatsächlich innen­
politisch stabilisiert. Aber die russische
Politik allein auf diese Motive zurück­
zuführen, wäre falsch.
Was also will das Land wirklich,
und was genau hat seine Wiederannä­
herung an China zu bedeuten? Russ­
lands zentrales Bestreben geht dahin,
in der internationalen Politik wieder
als mitbestimmende Kraft anerkannt
zu werden. Es ist dies der Anspruch auf
eine Rolle, die dem Land nach dem En­
de des Kalten Kriegs versagt wurde.
Damals wollte die Sowjet union –
und später Russland – die Umwand­
lung dessen, was man den „histori­
schen Westen“ nannte, in einen „grö­
ßeWesten“ unter Einschluss ren
Russ lands.^1 Damit hätte sich der his­
tori sche Westen organisatorisch wie
ideologisch aus seinem im Kalten
Krieg entstandenen transatlantischen
Bezugsrahmen befreit und eine neue
Kultur des politischen Dialogs und des
kreativen Zusammenwirkens entwi­
ckeln können.
Es ist anders gekommen. Was der
Westen der Sowjetunion damals anbot,
war lediglich eine Osterweiterung des
bestehenden Systems. Das bedeutete,
da die Sowjetunion keine militärische
und ideologische Bedrohung mehr
darstellte, die rasche Ausweitung der
US­amerikanischen Einflusssphäre
auf den gesamten Globus. Für andere
Muster eigenständiger Staats­ oder Ge­
sellschaftsordnungen blieb kein Raum.
Und so wurde der Liberalismus nach
dem Modell der USA zu einer Art uni­
verseller Monroe­Doktrin.
Dieser universelle Anspruch wurde
in Moskau als Instrument US­ameri­
kanischer Machtpolitik gesehen, dem
man entgegentreten müsse. Den offe­
nen Widerstand formulierte als Erster
Jewgeni Primakow, russischer Außen­
minister von 1996 bis 1998 und ab Sep­
tember 1998 für acht Monate Minister­
präsident.
Als die Nato sich immer weiter aus­
dehnte und ohne Rücksicht auf die In­
teressen Russlands auf eine militäri­
sche Intervention in Kosovo zusteuer­
te, besann er sich auf das alte Konzept
einer multipolaren Weltordnung. Bei
einem Staatsbesuch in Indien im De­
zember 1998 schlug er vor, ein Gegen­
gewicht zur unipolaren, von den USA
dominierten Welt zu schaffen. Er reg­
te ein Bündnis der nichtatlantischen
Mächte Russland, Indien und China
an. Dieses strategische Dreieck bilde­
te den Kern einer Staatengruppe, die
sich durch die Teilnahme Brasiliens
(2006) und Südafrikas (2010) erweiter­
te und die seitdem als Brics­Staaten
firmieren.
Als Putin im Jahr 2000 Präsident
der Russischen Föderation wurde,
wollte er die transatlantischen Vorstel­
lungen aus der ersten postkommunis­
tischen Periode mit Primakows strate­
gischen Überlegungen verbinden. So


war die 2001 erfolgte Gründung der
Schanghaier Organisation für Zusam­
menarbeit (SCO) ein Schritt in Rich­
tung eines nichtwestlichen Bündnis­
systems im Sinne Primakows. Die SCO
umfasste zunächst China, Kasachstan,
Kirgistan, Russland, Tadschikistan und
Usbekistan und wurde 2017 um Indien
und Pakistan erweitert.
Putin strebte aber auch eine engere
Bindung an die Europäische Union an;
selbst von einem Beitritt Russlands zur
Nato war die Rede. Doch zu Beginn der
2000er Jahre folgte die Ernüchterung,
als die USA im Irak intervenierten, den
ABMertrag von 1972 aufkündigten ­V
und US­Stiftungen, die durch das State
Department gefördert wurden, die
Farb revo lu tionen in ehemals sowjeti­
schen Staaten unterstützten.

Putins Glaube an die
gottgegebene Vielfalt

2007 verurteilte Putin bei der Münch­
ner Sicherheitskonferenz das Verhalten
der USA und warnte vor „einer mono­
polaren Welt“, in der es nur ein „Au­
toritäts­, ein Macht­ und ein Entschei­
dungszentrum“ gebe. Russland habe in
seiner „mehr als tausendjährigen Ge­
schichte“ so gut wie immer eine „unab­
hängige Außenpolitik“ betrieben, und
das werde auch so bleiben.^3
Aber selbst 2007 herrschte noch
der Eindruck vor, dass die transatlan­
tischen Mächte und Russland in Be­
reichen gemeinsamer Interessen, vor
allem beim Krieg gegen den Terror,
zusammenarbeiten könnten. Dieser
Glaube ging mit der Nato­Intervention
in Libyen 2011 zu Bruch. 2014 folgte
dann die schlimmste Krise seit dem En­
de des Kalten Kriegs, als Russland mit
der Annexion der Krim auf die Ukrai­
ne­Politik der EU reagierte, die sie als
direkten Versuch interpretierte, die Uk­
raine in den Einflussbereich des atlan­
tischen Bündnisses hinüberzuziehen.
Multipolarität ist ein anderes Wort
für die Ablehnung der US­Hegemonie,
als Konzept bleibt es aber ziemlich ver­
schwommen. Es lässt im Unklaren, ob
es sich um ein Ziel handelt, das man
mittels einer aktiven Strategie errei­
chen will, die bis dato zweitrangigen
Mächten – wie Russland – mehr Ge­
wicht verschaffen soll. Oder um die
Beschreibung einer aufgrund der ver­
änderten Kräfteverhältnisse im inter­

Wie Moskau

die Welt sieht

Russische Ideen über die Zukunft der globalen Ordnung


von Richard Sakwa

nationalen Staatengefüge bereits spür­
baren Realität.
Im September 2013 verurteilte Pu­
tin vor dem Internationalen Diskus­
sions forum Waldai­Club^4 „Versuche,
das überholte stereotype Modell einer
unipolaren Welt wiederzubeleben“. In
einer unipolar verfestigten Welt werde
es keine souveränen Staaten mehr ge­
ben, sondern nur noch Vasallen: „His­
torisch betrachtet, bedeutet das eine
Absage an die eigene Identität, an die
von Gott gegebene Vielfalt der Welt.“^5
Russlands Ambitionen lassen sich
am besten als „Neorevisionismus“ be­
schreiben. Der Begriff lässt sich auch
auf China anwenden und verweist auf
die Mängel, die beide Länder dem heu­
tigen internationalen System beschei­
nigen. Dabei sind Russland und China
auf keine eigene Einflusssphäre aus,
sondern wollen dem Prinzip wieder
Geltung verschaffen, dass die jeweili­
gen Nationen ihre Beziehungen zu ih­
ren Nachbarn eigenständig gestalten
und praktizieren (und nicht per strikter
Blockzugehörigkeit). Wobei der Schlüs­
selbegriff „Souveränität“ lautet.
Was die Entwicklungen in der Uk­
raine betrifft, so wurden diese in Russ­
land als eklatante Bedrohung der eige­
nen Sicherheitsinteressen gesehen –
und weniger als Versuch des Westens,
sich in die inneren Angelegenheiten
der Ukraine einzumischen.
Wie sich bei den vielfachen Umwäl­
zungen in Kirgistan und beim Regime­
wechsel in Armenien 2018 gezeigt hat,
sind innerstaatliche Veränderungen
jeglicher Art den Russen weitgehend
egal, solange sie ihre sicherheitspoli­
tischen Kerninteressen nicht bedroht
sehen. Schließlich würde Großbritan­
nien bei der Errichtung eines militä­
risch feindlich gesinnten Regimes in
der Republik Irland auch nicht einfach
zusehen.
Für Moskau und Peking geht es
dabei keinesfalls um die Rückkehr zu
dem internationalen System, das vor
1914 herrschte, als souveräne Staa­
ten auf der Weltbühne quasi autonom
agieren und mittels Bündnispolitik ei­
ne Machtbalance anstreben konnten.
Die russische und chinesische
Idee einer multipolaren Weltordnung
ist komplexer. Der Schlüsselbegriff ist
zwar nach wie vor „Souveränität“, aber
die ist durch Verpflichtungen gegen­
über multilateralen Organisationen be­

schränkt. Man will sowohl neue Insti­
tutionen auf regionaler Ebene schaffen
als auch die eher globalen, nach dem
Abkommen von Bretton Woods (1944)
entstandenen Organisationen verteidi­
gen, insbesondere die WTO.
Allerdings soll die Unterordnung
dieser multilateralen Organisationen
unter das von den USA dominierte
transatlantische System durch eher plu­
ralistische internationale Strukturen
abgelöst werden. Russland und China
werden als die Hauptakteure in einem
solchen antihegemonialen Verbund
gesehen.^6 Seit Russland unter Wirt­
schaftssanktionen leidet und China
von den USA im Pazifik militärisch un­
ter Druck gesetzt wird, haben sich Pu­
tin und Xi Jinping neunmal getroffen.
Alle russischen Präsidenten haben
die Integration des eurasischen Wirt­
schaftsraums angestrebt, doch Putin
sieht sie in einem größeren geopoli­
tischen Zusammenhang. Die Gründung
der Eurasischen Wirtschaftsunion
(WU) zum 1. Januar 2015 war ein Si­ EA
gnal, dass Russland auf alternative inte­
grative Vernetzungen setzt. Der nächste
Schritt erfolgte im Mai 2015, als Putin
und Xi Jinping ein Abkommen über die
„Harmonisierung“ (soprjaschenie) der
EAWU und der Chinas Belt­and­Road­
Initiative (BRI, auch Neue Seidenstraße
genannt) unterzeichneten.
Des Weiteren verfolgt Russland das
Projekt „Ein Größeres Eurasien“, das
die noch von Gorbatschow entwickel­
te Idee eines „Größeren Europa“ von
Lissabon bis Wladiwostok ablöst. Das
Größere Eurasien umfasst einen Groß­
teil dieses riesigen Raums, der durch
eine variable Geometrie aus neuen oder
schon bestehenden Organisationen
(wie Asean) strukturiert werden soll.
Mit diesem Konzept will Moskau
verhindern, dass Eurasien zu einer rie­

sigen zersplitterten Zone zwischen ei­
nem expandierenden atlantischen Sys­
tem und den aufstrebenden Mächten
Asiens, insbesondere Chinas, wird.
Dabei spielt auch eine Rolle, dass die
Militärausgaben Chinas ständig wach­
sen, während die Russlands seit 2016
sinken.^7
Das erklärt zum Teil auch die un­
terschiedlichen Positionen der Rus­
sen und der Chinesen in Bezug auf die
Weltmacht USA. Deren militärische
und ökonomische Vorrangstellung er­
kennt Putin ausdrücklich an.^8 China
dagegen nicht, das im Vertrauen auf
seine ökonomische Stärke die Idee ei­
ner „Gemeinschaft des gemeinsamen
Schicksals“ propagiert, die angeblich
auf Win­win­Beziehungen basiert.
Dass solche Ideen von massiven
chinesischen Investitionen in die Belt­
and­Road­Initiative und von der Grün­
dung einer internationalen Asiatischen
Investment Bank unterfüttert sind,
spricht eher dafür, dass sich das Kräf­
tegleichgewicht der Weltmächte eben
doch verschieben könnte.
Das russisch­chinesische Einver­
nehmen erstreckt sich nicht auf Fra­
gen der Identität. Russland hat sich
zwar immer weiter vom Atlantischen
Bündnissystem entfernt – speziell seit
der Bombardierung Serbiens durch die
Nato 1999, aber seine westliche Identi­
tät hat es nie aufgegeben. So kritisier­
te Putin im September 2013 sogar, dass
viele Länder des Westens „die christli­
chen Werte verleugnen, die doch das
Fundament der westlichen Zivilisation
darstellen“.^9
Was die rechten politischen Kräfte
in Europa angeht, die den Westen aus
seinen „traditionellen“ Wurzeln heraus
erneuern wollen, so haben sie zu Russ­
land ganz unterschiedliche Meinun­
gen: Während Le Pen und Salvini aus­
gesprochen russophil sind und Orbán
eine wohlwollende Neutralität pflegt,
ist die polnische PiS ganz offen russ­
landfeindlich.
Die Chinesen hegen vermutlich zu
Recht den Verdacht, dass die Russen,
wenn es die Umstände erlauben, bei
der Wiedererfindung des Westens gern
eine führende Rolle übernehmen wür­
den. Was in dem Fall aus dem „Größe­
ren Eurasien“ würde, ist unklar. Sicher
ist nur, dass die alten Gegensätze im
globalen Kräftespiel durch andere ab­
gelöst werden.

(^1) Siehe Hélène Richard, „Als Moskau von Europa träum-
te“, LMd, September 2018.
(^2) Primakows Vorstellungen waren von Chruschtschows
Konzept der friedlichen Koexistenz inspiriert, wonach
die Ost-West-Konkurrenz nicht zu militärischen Kon-
flikten führen müsse.
(^3) Englische Fassung der Rede vom 10. Februar 2007:
en.kremlin.ru/events/president/transcripts/24034.
(^4) Das 2004 begründete Forum findet jährlich im Herbst
statt und bringt russische Politiker mit westlichen Wis-
senschaftlerinnen und Journalisten zusammen.
(^5) Rede vom 27. Oktober 2013, zitiert nach der russi-
schen Fassung. Auch auf der Tagung des Waldai-Clubs
im Oktober 2016 plädierte Putin für „universell akzep-
tierte gemeinsame Regeln“ in der Hoffnung, dass die
Welt „wirklich multipolarer“ werde.
(^6) Siehe Isabelle Facon, „Russland und China: Wer braucht
wen?“, LMd, August 2018.
(^7) Siehe: „World military expenditure grows to 1,8 tril-
lion Dollar in 2018“, Sipri, Stockholm, 29. April 2019.
(^8) So am 17. Juni 2016 beim Sankt Petersburger Wirt-
schaftsforum: „Amerika ist eine Großmacht, heute
vielleicht sogar die einzige Supermacht. Das erken-
nen wir an.“ Siehe: en.kremlin.ru/events/president/
news/52178/.
(^9) Tagung des Waldai-Klubs vom 19. September 2013,
zitiert nach der englischen Fassung: en.kremlin.ru/
events/president/news/19243.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Richard Sakwa ist Professor für Russisch und Europäi-
sche Politik an der University of Kent; zuletzt erschien von
ihm „Russia’s Futures“, Cambridge (Polity Press) 2019.
Mai 2015: Harmonie in Peking NG HAN GUAN/ap
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