Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

2 LE MONDE^ diplomatique^ | Oktober 2019


Wahlen in Kosovo


Die Parlamentswahlen vom 6. Oktober
werden zu einem Machtwechsel in Priština
führen. Die seit zehn Jahren dominierende
Demokratische Partei (PDK) wurde von
den Wählern abgestraft. Klarer Wahlsieger
sind zwei Parteien, die beide die Korrup-
tion der PDK angeprangert haben: die
Vetevendosje und die Demokratische
Liga (LDK). Spitzenkandidatin der LDK
war die Juristin Viosa Osmani. Führungs-
figur der Vetevendosje ist Albin Kurti, ein
linker Veteran, der mit Gedankenspie-
len über ein „Großalbanien“ auch das
nationalistische Lager anspricht. Den
Linksnationalisten Kurti hat Jean-Arnault
Dérens in der LMd vom Dezember 2017
porträtiert. Dérens analysiert in der LMd
regelmäßig – mit Laurent Geslin – die
politischen Entwicklungen der Region,
zuletzt im August 2019 unter dem Titel:
„Balkan: Grenzen als Geschichte und Il-
lusion“. Dieser Text warnt vor einer Ver-


schiebung der Grenze zwischen Kosovo
und Serbien, in dieser Frage wird sich
die nächste Regierung in Priština po-
sitionieren müssen.


Aufruhr in Ecuador


Am 3. Oktober verhängte Präsident Lenín
Moreno für 60 Tage den Ausnahmezu-
stand. Damit kann er auch das Militär
gegen Demonstranten einsetzen. Moreno
reagiert damit auf heftige Proteste gegen
die Streichung der Treibstoffsubventio-
nen, die der IWF als Gegenleistung für
einen Kredit von 4,2 Milliarden Dollar ge-
fordert hatte. Über den Rechtsschwenk
des einstigen Vizepräsidenten von Rafael
Correa schrieb Franklin Ramirez Gallegos
kurz nach Morenos Wahl in LMd vom De-
zember 2017: Kaum war Moreno an der
Macht, schockierte er seine Wähler und
die lateinamerikanische Linke mit einer
marktliberalen Innenpolitik und einer au-
ßenpolitische Annäherung an die USA.


Strafe für Ikea


Dem schwedischen Möbelkonzern Ikea
droht wegen fragwürdiger Steuerpraktiken
in den Niederlanden eine Nachzahlung
von zig Millionen Euro. Die EU-Wettbe-
werbsbehörde hatte die Untersuchung
vor zwei Jahren eingeleitet. Jetzt muss
sich auch die UNHCR überlegen, ob sie
Ikea mit weiteren Aufträgen belohnen
will: In dem Beitrag „Für ein Dach über
dem Kopf“ beschreibt Nicolas Autheman
in der LMd- Ausgabe vom Mai 2017 das
nicht ganz uneigennützige Engagement
des Konzerns bei der Unterbringung
von Flüchtlingen. Wer mehr über die
Geschichte des Konzerns und dessen
überaus erfolgreiches Geschäftsmodell
erfahren will, sei „Ikea für die Welt“ aus
der LMd- Ausgabe vom Dezember 2006
empfohlen.


V


or gut einem Jahr, im
Frühsommer 2018, machte
ich mich mit meiner Fami­
lie auf eine Reise, die uns
zehntausend Kilometer von unserem
Zuhause in Guadalajara, Mexiko, weg­
führte. Mehr als ein Jahr lebten wir von
einem Stipendium in Berlin. Die gan­
ze Zeit wunderte ich mich darüber, wie
viele Deutsche ich in dieser Zeit traf,
die sich große Sorgen über die Situa­
tion in meinem Land machten.
Viele hatten Mexiko als Touristen
kennen und schätzen gelernt; sie wa­
ren aufrichtig beunruhigt über das,
was in Netzwerken und Presse über
die mexikanische Realität berichtet
wurde. Die vielen und grausamen Mor­
de, vor allem auch Frauenmorde, die
Macht des organisierten Verbrechens,
das Verschwinden von Menschen, die
staatliche Korruption und die Barba­
rei auf allen Ebenen – das machte sie
fassungslos. Es passte nicht zu ihren
Erinnerungen an einen warmen und
freundlichen Ort.
Tatsächlich ist die Gewalt, die sich
Mexikos Tag für Tag bemächtigt und
in Guadalajara über die letzten Jah­
re immer grauenhafter geworden ist,
für Deutsche eigentlich gar nicht vor­
stellbar – vor allem für die, die nicht
die vierziger Jahre des letzten Jahrhun­
derts erlebt haben. Damals war Mexiko


  • heute eines der gefährlichsten Länder
    auf dem Erdkreis – Asyl und Zufluchts­
    ort für Tausende von Europäern. Aber
    das ist lange her, wir befinden uns im



  1. Jahrhundert, und die Tatsache, dass
    sich viele Deutsche schwertun oder ein­
    fach nicht in der Lage sind, sich das
    Ausmaß der Übel vorzustellen, von de­
    nen meine Stadt und mein Land heim­
    gesucht werden, hat zu irritierenden
    Begegnungen geführt.
    Bei meinen Lesungen hoben in den
    anschließenden Fragerunden immer
    wieder Leute die Hand und schlugen
    wohlgemeinte und unmögliche Auswe­
    ge aus dem mexikanischen Albtraum
    vor. „Warum versucht ihr nicht, mitei­
    nander zu reden und eure Differenzen
    beizulegen?“, fragte etwa eine junge
    Frau in Frankfurt. Sie meinte das gar
    nicht herablassend oder ironisch: Sie
    wollte eine Idee beisteuern. Ich antwor­
    tete ihr, dass das in einer kleinen Ge­
    meinschaft gehen könnte, aber in einer
    übervölkerten, unversöhnlichen und
    verarmten Gemeinschaft wie der mexi­
    kanischen sei das ein Hirngespinst. Sie
    sagte verlegen: „Vielleicht habt ihr nicht
    wirklich den Willen dazu.“ Ich musste
    ihr zustimmen. Aber ich dachte trotz­
    dem weiterhin, dass die Dinge etwas
    komplizierter sind, als dass ein paar
    ausgleichende und verständnisvolle
    Gespräche für Ruhe unter Mil lio nen
    von Menschen sorgen könnten. Gut,


es war der Kommentar einer ganz nor­
malen Person, die wohlwollend, aber
naiv war. Das akzeptiere ich. Aber eine
ähnliche Ahnungslosigkeit zeigte sich
auch bei Leuten vom Fach.
Manche Kommentare über mexika­
nische Bücher, die sich mit der bei uns
herrschenden extremen Gewalt aus ein­
anzen (wie auch einige meiner derset
eigenen) und ins Deutsche übersetzt
sind, lassen vermuten, dass die Lite­
raturexperten, die sie verfasst haben,
von den Zusammenhängen nicht die
geringste Ahnung haben.
Uns Autoren werden Absichten
und Einflüsse unterstellt, die einfach
absurd und der Fantasie der Kommen­
tatoren entsprungen sind. Mir wur­
de mehr als einmal zu meiner großen
Überraschung nachgesagt, ich sei ein
„Schüler von Tarantino“ oder „geprägt
vom Hollywood­Actionkino“. Solche
Anmerkungen halten sich natürlich
nicht mit den wirklichen Gründen auf,
warum wir heute in meinem Land so
schreiben und so leben. Sie offenba­
ren allerdings den Grad der Ignoranz,
der selbst in einem gebildeten und in­
formierten Land wie Deutschland vor­
herrscht. Natürlich gab es auch andere


  • kritische wie lobende – Rezensionen,
    die meist von gut informierten Journa­
    listen stammten.
    Wir kehrten, voller Sorge zu Beginn
    des Sommers 2019 in unsere Stadt zu­
    rück. Die Zahlen bestätigten unsere Be­
    fürchtungen: Laut dem staatlichen me­
    xikanischen Institut für Geografie und
    Statistik (Inegi) wurden im Bundes­
    staat Jalisco, dessen Hauptstadt Guada­
    lajara ist, im Jahr 2018 insgesamt 2919
    Morde registriert. Allein in der ersten
    Jahreshälfte 2019 wurden 1394 weite­
    re begangen. Und wer es ganz genau
    wissen will: Auf Guadalajara kommen
    84 Prozent der mehr als 4300 Morde,
    die in eineinhalb Jahren in Jalisco be­
    gangen wurden. Bei solchen Zahlen
    würde einem Tarantino die Kinnlade
    runterfallen.
    Drei Tage nach unserer Rückkehr
    bittet mich meine vierzehnjährige
    Tochter, die jüngste, sie zu den Galerías
    zu bringen, einer Shoppingmall in der
    Nähe unserer Wohnung. Sie will sich
    mit einer ihrer besten Freundinnen
    treffen. Die beiden haben sich ein gan­
    zes Jahr lang nicht gesehen. Wir fahren
    also dorthin, die Freundin ist pünkt­
    lich, und die beiden fallen sich in die
    Arme. Es ist Mittag und sehr heiß, aber
    die Mall ist klimatisiert, und man ver­
    gisst die Hitze. Die Mädchen wollen in
    einem Burger­Laden etwas essen und
    dann bummeln gehen und sich alles
    erzählen. Ich verabrede mit meiner
    Tochter, dass ich sie abends wieder ab­
    hole, verabschiede mich und gehe nach
    Hause.


Brief aus Guadalajara

von Antonio Ortuño

Ich sitze vielleicht eine Viertel­
stunde in meinem Arbeitszimmer und
schaue in die Nachrichten, da erscheint
eine Warnung auf Twitter, die ein Po­
lizeireporter veröffentlicht hat: „Schie­
ßerei mit zwei Toten im Burger­Res­
taurant in den Galerías“. Ich erstarre,
schau auf den Zeitpunkt der Veröffent­
lichung. Sie ist noch keine Minute alt.
Es ist auch kein falsches Datum.
Das geschieht jetzt, genau in die­
sem Moment. Meine Frau und ich stür­
zen auf die Straße. Wir rufen unsere
Tochter auf ihrem Telefon an, niemand
geht ran. Wir sind in Panik. Dann, als
wir gerade bei den Galerías ankom­
men, hat meine Frau eine Idee. Sie ruft
die Mutter der Freundin an, und der ge­
lingt es, die Mädchen zu erreichen. Sie
versicherten ihr, bei ihnen sei alles in
Ordnung. Sie haben beschlossen, wo­
anders zu essen, und erst jetzt bemer­
ken sie, dass anscheinend etwas Unge­
wöhnliches passiert ist.
In dem Burger­Restaurant wurde
der Anführer einer Drogenbande von
ein paar jugendlichen Killern ange­
griffen. Nachdem sie den Mann um­

So ist das Leben heute in Guadala­
jara.
In Deutschland haben mich viele
Menschen gefragt, ob die neue mexi­
kanische Regierung, die 2018 gewählt
wurde und als links gilt, etwas an der
Situation wird ändern können. Ich
hatte den Eindruck, dass in der Frage
Hoffnung mitschwang. Ich hätte gern
den Erwartungen entsprochen und ja
gesagt. Aber das kann ich nicht. Die
Regierung von Präsident López Obra­
dor besitzt die Mehrheit in beiden Par­
lamentskammern und dominiert auch
in der Exekutive. Sie ist überfordert.
Seit der Amtseinführung des Präsi­
denten am 1. Dezember letzten Jahres
wurden in Mexiko mehr als 27 000 Mor­
de begangen. Dies ist die höchste Zahl,
seit es diese Statistik gibt.
Als wichtigstes Instrument zur Be­
kämpfung der Gewalt hat der Präsident
eine Nationalgarde geschaffen. Aber
die ist unter dem anhaltenden Druck
der US­Regierung hauptsächlich damit
beschäftigt, mittel­ und südamerikani­
sche Migranten daran zu hindern, Me­
xiko zu durchqueren. Die meisten Ein­
heiten werden eingesetzt, damit die Mi­
granten die Grenze zu den USA nicht
erreichen und Trump seine Drohung
wahr macht, verheerende Zölle auf me­
xikanische Exporte zu erheben.
Obrador sind die Hände gebunden,
und so beschränkt er sich darauf, an
die Kriminellen zu appellieren, keine
Verbrechen mehr zu begehen und sich
doch bitte wieder in die Gesellschaft
einzugliedern. Ein Vorschlag wie jener
der jungen Frau in Frankfurt.
Derweil geht in Mexiko das Leben
weiter. Die Leute gehen zur Schule, ins
Büro, in die Werkstatt und die Fab­
rik. Und sie gehen in Einkaufszentren.
Die Fußballliga veranstaltet ihre Spie­
le. Es gibt Hochzeiten. Kinder werden
geboren. Manche kämpfen für Rechte,
die andere ihnen vorenthalten. Und so
versuchen wir inmitten des ständig lau­
ernden Todes unser Leben zu führen.
Wenn das ein Film ist, kann ich Ih­
nen zumindest versichern, dass es sich
nicht um eine Actionkomödie handelt.
Es ist eine Tragödie voller Entführun­
gen, Morde, Vergewaltigungen und
Angst. Für jemanden, der all dies nicht
selbst erlebt, ist es sicher schwierig,
das voll und ganz zu begreifen. Aber es
gibt immer die Möglichkeit, sich dar­
über zu informieren und nachzuden­
ken. Und so, mit etwas Glück, es zu be­
greifen.

gebracht hatten, schossen sie wahllos
um sich. Die Frau des Gouverneurs im
Nachbarstaat Nayarit war auch da, ihre
Leibwächter schossen zurück. Einer der
Killer konnte entkommen, der andere
wurde getötet. Er war siebzehn Jah­
re alt. Das Ganze – der Burger­Laden,
die Pistolen – mag nach „Pulp Fiction“
klingen. Allein, es ist die mexikanische
Realität. Am nächsten Tag wurden mei­
ne Frau und ich krank. Die Angst for­
derte ihren Tribut.
Am Nachmittag der Schießerei in
den Galerías machte sich ein Freund
mit seiner Freundin auf den Weg zu ei­
nem anderen Einkaufszentrum in der
Nähe, Plaza Cordilleras, wo es auch
mehrere Kinosäle gibt. Sie wollten
sich nach einem langen Arbeitstag ei­
nen Film gönnen. Aber daraus wurde
nichts. Ein paar Meter vor einem Lokal
versuchte ein junger Mann mit vorge­
haltener Waffe einem Gast seinen klei­
nen Lieferwagen zu rauben. Nur dass
das Opfer auch bewaffnet war. Als der
Angreifer einen Moment abgelenkt
war, zog der andere seine Waffe und
erschoss ihn. Als mein Freund und
seine Freundin dort eintrafen, war der
ganze Parkplatz voller Krankenwagen
und ifahrzeuge. Der Kinoabend Polize
fiel aus.

Das Ganze klingt
nach „Pulp
Fiction“. Es ist
die mexikanische
Realität

monde-diplomatique.de


Diese und alle anderen Beiträge
seit 1995 im LMd -Archiv unter:

In dieser Ausgabe Die nächste Ausgabe erscheint am 7. November


4 Warum Trump Grönland
kaufen wollte


von Michael T. Klare

5 Das neue Reich des Bösen
Edito
von Serge Halimi

6 Der große Handelskrieg
USA gegen China: vom
potenziellen Partner zum Rivalen
von Philip S. Golub

8 Ein Riss geht
durch Argentinien


Fortsetzung von Seite 1
von José Natanson

9 Bewegte Schweiz
von Anna Jikhareva
aspar Surberund K

10 Die Tugenden
des Monsieur Trudeau
von Richard Nimijean
und David Carment

11 Großbritanniens Liberale –
die dritte Kraft
von Richard Seymour

12 Südafrikas ungelöste
Landfrage
von Cédric Gouverneur

15 Wir sind nie
demokratisch gewesen
von Stephan Lessenich

Türkei •••••••••••••••••••••••••••••••
16 Gülens Netzwerk in Europa
ane Bonzon von Ari

17 Erdogans Poker
dier Billionvon Di
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19 Wie Moskau die Welt sieht
von Richard Sakwa

20 Gefährliches Spiel
in Kaschmir
von Vaiju Naravane

22 Soziale Profite
Fortsetzung von Seite 1
von Margot Hemmerich
und Clémentine Méténier

24 Die Party
Comic
von Alexander Robyn

Aus dem Spanischen von Carsten Hinz

Antonio Ortuño ist Schriftsteller. Auf Deutsch zuletzt
erschienen: „Die Verschwundenen“ (München (Antje
Kunstmann) 2019.
© LMd, Berlin
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