Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

20 LE MONDE^ diplomatique^ | Oktober 2019


Gefährliches Spiel in Kaschmir

von Vaiju Naravane

Am 5. August hob die Regierung
in Neu-Delhi den Sonderstatus
des Bundesstaats Jammu und
Kaschmir auf. Mit dieser
Entscheidung hat Indiens hindu-
nationalistischer Premierminister
Narendra Modi den Konflikt
in der mehrheitlich muslimischen
Region weiter angeheizt – mit
unberechenbaren Folgen
weit über Indien hinaus.

B


islang hatte der Sondersta­
tus von Jammu und Kasch­
mir dem einzigen indischen
Bundesstaat mit muslimi­
scher Bevölkerungsmehrheit eine weit­
reichende Autonomie gesichert. Durch
einen Erlass von Staatspräsident Ram
Nath Kovind, der wie Premierminister
Narendra Modi der regierenden Bha­
ratiya Janata Partei (BJP) angehört, ist
Jammu und Kaschmir nun kein Staat
mehr, sondern nur noch ein Unions­
territorium (UT), das von Neu­Delhi
aus regiert wird. Durch ein neues Ge­
setz wurde der Bundesstaat zudem auf­
geteilt und das vorwiegend buddhisti­
sche Ladakh zu einem eigenen Unions­
territorium ernannt, das ebenfalls von
der Hauptstadt aus verwaltet wird.
Die Aufhebung von Artikel 370 der
indischen Verfassung, in dem die Au­
tonomie von Jammu und Kaschmir
verankert war, verfügte der Präsident
in aller Stille mit einem Erlass. Es gab
keinerlei Diskussion im Parlament, ob­
wohl die BJP und ihre Koalitionspart­
ner dort eine komfortable Mehrheit
be sitzen.^1 Der Journalist Prem Shan­
kar Jha bezeichnet Modris Manöver
als „handstreichartigen Verfassungs­
bruch, ein kompletter Betrug sowohl
am kaschmirischen Volk als auch an
unserer Bundesverfassung“.^2
Der Coup war sorgfältig vorbereitet.
Schon Tage zuvor hatte Neu­Delhi un­
ter dem Vorwand nicht weiter begrün­
deter „Sicherheitswarnungen“ auslän­
dische Touristen und Pilger, die nach
Armarnath im Himalaja reisen wollten,
aufgefordert, Jammu und Kaschmir
und Ladakh zu verlassen. Die 500 000
bereits in der Region stationierten Sol­
daten wurden durch Tausende weitere
verstärkt. Und Politiker – selbst solche,
die Neu­Delhi nahestehen –, Rechtsan­
wälte, Professorinnen, Journalisten,
Aktivistinnen, Geschäftsleute und ge­
wöhnliche Bürger (selbst Minderjähri­
ge), die als potenzielle „Unruhestifter“
galten, wurden verhaftet – insgesamt
etwa 4000 Menschen.
Kurz vor der Ankündigung verhäng­
te Neu­Delhi eine totale Nachrichten­
sperre in Jammu und Kaschmir und
führte die Verhaftungen dann zügig
durch. Auch zwei frühere proindische
Regierungschefs (Chief Ministers) des
Bundesstaats wurden unter Arrest ge­
stellt. Durch die Anwendung von Ab­
schnitt 144 der Strafprozessordnung
wurden alle Schulen und Universitäten

geschlossen und Versammlungen von
mehr als fünf Personen verboten. Inter­
net, Mobilfunk und Telefonleitungen
waren lahmgelegt. Der Bundesstaat war
völlig von der Außenwelt abgeschnit­
ten und ist bis heute weitgehend iso­
liert, obwohl die Regierung behauptet,
die Kinder würden inzwischen wieder
zur Schule gehen, die Telefone wieder
funktionieren und die Region sei „fast
zur Normalität“ zurückgekehrt.
Neben Artikel 370 der indischen
Verfassung, der dem Bundesstaat Jam­
mu und Kaschmir eine verfassungge­
bende Versammlung, eine Verfassung,
ein Parlament und eine eigene Flagge
zugesprochen hatte, wurde auch Arti­
kelgestrichen, der es Nichtkasch­ 35a
mirern untersagte, Grundstücke und
Immobilien zu erwerben oder in Behör­
den zu arbeiten. Mit diesen Maßnah­
men zielt Neu­Delhi auf eine Verände­
rung der demografischen Zusammen­
setzung in der Region. Narendra Modi
ist ein großer Bewunderer Israels und
orientiert sich gern an dessen Politik
der „Einkesselung“ der Palästinenser
im Gazastreifen und im Westjordan­
land.
Mehbuba Mufti, die als erste Frau
bis Mitte 2018 Chief Minister von Jam­
mu und Kaschmir war, konnte trotz
Hausarrest der BBC am 6. August noch
ein Interview geben. Durch die jüngs­
ten Maßnahmen werde Indien „zur Be­
satzungsmacht in Jammu und Kasch­
mir“, betonte Mufti. „Indem sie den
Bundesstaat aufgeteilt und uns in be­
trügerischer Absicht all das weggenom­
men haben, was uns nach Recht und
Gesetz zusteht, heizen sie den Kasch­
mirkonflikt weiter an.“ Neu­Delhi wol­
le Jammu und Kashmir besetzen und
den mehrheitlich muslimischen Staat
an die anderen Bundesstaaten anglei­
chen. „Sie wollen uns zu einer Minder­
heit machen und uns völlig entmach­
ten“, sagte Mufti, die mittlerweile nicht
mehr erreichbar ist.

Vergiftetes Erbe der
britischen Kolonialmacht

Modis Entscheidung, die er selbst als
„rein innere Angelegenheit“ bezeichne­
te, hat in Wahrheit weitreichende inter­
nationale Folgen und könnte zu einer
heftigen Auseinandersetzung oder ei­
nem neuen Krieg in einer äußerst in­
stabilen Weltregion führen, wo sich die
beiden Atommächte Indien und Pakis­
tan seit 70 Jahren feindlich gegenüber­
stehen.
Seit der Unabhängigkeit von Groß­
britannien im Jahr 1947 war Kasch­
mir stets der Zankapfel zwischen den
beiden neuen Staaten, und in diesem
Streit gab es bereits zahlreiche gewalt­
same Auseinandersetzungen. Von den
drei Kriegen zwischen Indien und Pa­
kistan wurden zwei (1948 und 1965)
direkt um Kaschmir geführt. Schät­
zungsweise 70 000 Menschen sind seit
der Unabhängigkeit in diesem Konflikt
bislang umgekommen.
Mit seiner selbstherrlichen Anord­
nung, die seiner Vision von Indien als

reiner Hindu­Nation (Hindu Rashtra)
entspricht, hat Modi die Gebirgsregion
noch tiefer in Chaos und Unsicherheit
gestürzt. In Indien, wo die Identitätspo­
litik der Hindu­Nationalisten zur Tages­
ordnung gehört, erhielt Modis Entschei­
dung breite Unterstützung. Man hat die
hinduistische Mehrheit inzwischen da­
von überzeugt, dass die „Befriedung“
der muslimischen Minderheit, vor al­
lem in Kaschmir, mit unnötigen Zuge­
ständnissen erkauft worden sei.
Aus Darstellung der Nationalisten
sind nämlich die Hindus die Opfer.
Fortan sollen für Kaschmir keine Aus­
nahmen mehr gelten, das Gebiet ge­
hört nach Ansicht der Hindu­Ideologen
zu Indien und soll wie jeder andere in­
dische Bundesstaat behandelt werden.
In Wahrheit allerdings gehörte Kasch­
mir bei der Ausrufung der Unabhängig­
keit weder zu Indien noch zu Pakistan.
Die jüngere Geschichte Kaschmirs
ist turbulent und kompliziert; sie ist
geprägt von zahlreichen kolonialge­
schichtlichen, politischen und militä­
rischen Wendungen. Vieles davon hat
mit der Niedertracht der britischen Ko­
lonialmacht und dem von ihr hinterlas­
senen Erbe zu tun.
Als die Briten den indischen Sub­
kontinent beherrschten, kontrollier­
ten sie selbst nur einen Teil des Terri­
toriums direkt. Daneben gab es 565 Va­
sallenstaaten (princely states), die von
großen und kleinen Radschas, Nabobs
und Maharadschas regiert wurden.
Manche verfügten über große König­
reiche, andere über winzige Fürstentü­
mer, die nur aus ein paar Dörfern be­
standen. Das größte und sprachlich­
kulturell vielfältigste dieser Reiche war
Kaschmir.

Im Kaschmirtal rund um Srinagar
war Kaschmiri die gängigste Sprache,
bei der muslimischen Mehrheit eben­
so wie bei der hinduistischen Minder­
heit. Im Süden lag die Provinz Jammu,
wo vor allem Dogri gesprochen wurde;
hier lebten im Westen mehrheitlich
Muslime, während die Hindus im Os­
ten siedelten. Im Hochland von Ladakh
wohnten Buddhisten, die religiös und
sprachlich eng mit Tibet verbunden
waren. Sie waren ethnisch verwandt
mit den Bewohnern des westlich von
Ladakh gelegenen Baltistan, die dorti­
ge Bevölkerung bestand jedoch haupt­
sächlich aus schiitischen Muslimen. In
den kaum besiedelten Tälern von Gil­
git im Norden gab es eine faszinieren­
de Vielfalt von Dialekten und Kulturen.
Ganz im Westen von Jammu und
Kaschmir, an der Grenze zu Pakistan,
lag dann noch ein Gebiet mit starken
ethnischen und sprachlichen Bezie­
hungen zum Nachbarland. Dort lebten
zwar mehrheitlich Muslime, aber es
gab vor allem in Mirpur eine bedeuten­
de Minderheit von Hindus und Sikhs.^3
Der einzige Faktor, der all diese unter­
schiedlichen Territorien einte, war ihr
gemeinsamer Herrscher, ein Hindu­
König in einem mehrheitlich muslimi­
schen Reich.
Als die Briten sich aus Indien zu­
rückzogen, teilten sie den Subkonti­
nent nicht nur in zwei Nationen auf, sie
hinterließen den beiden neuen Staaten
auch ein vergiftetes Geschenk. Sie ver­
sprachen den Fürsten, dass sie ihre
Souveränität zurückgewinnen würden
und sich entscheiden könnten, ob sie
Indien oder Pakistan angehören woll­
ten. Kaschmir grenzte an beide Staaten
und besaß eine mehrheitlich muslimi­

sche Bevölkerung, deshalb sah sich Pa­
kistan berechtigt, das Reich für sich zu
reklamieren. Aber auch Delhi erhob An­
spruch auf das Gebiet.
Der regierende Maharadscha Hari
Singh konnte sich nicht entscheiden
und bat um ein Stillhalteabkommen,
um Zeit zu gewinnen. Davon wollte Pa­
kistan jedoch nichts wissen und schick­
te paschtunische Stammesmilizen über
die Grenze, die von der Armee unter­
stützt wurden. Angesichts der Aufstän­
dischen vor seiner Haustür bat Hari
Singh die indische Regierung um mi­
litärischen Beistand und floh nach In­
dien. Am 26. Oktober 1947 unterzeich­
nete er das „Instrument of Acces sion“,
mit dem Kaschmir an Indien ange­
schlossen wurde.
Darauf folgte der Erste Indisch­
Pakistanische Krieg um Kaschmir von
1947 bis 1949. Als Indiens Minister­
präsident Jawaharlal Nehru die Ange­
legenheit vor die internationale Staa­
tengemeinschaft brachte, rief die UNO
Pakistan und Indien am 13. August
1948 dazu auf, ihre Streitkräfte zurück­
zuziehen. Anschließend sollte ein Re­
ferendum abgehalten werden, um den
Willen des kaschmirischen Volks zu er­
mitteln. Pakistan weigerte sich, die be­
setzten Gebiete zu verlassen, und folge­
richtig zog auch Indien seine Truppen
nicht zurück. Und das Referendum hat
bis heute nicht stattgefunden.
Indien kontrolliert heute etwa
60 Prozent von Jammu und Kaschmir,
der Rest steht unter der Verwaltung von
Pakistan und China, das nach einem
gewonnenen Krieg gegen Indien 1962
einen Teil Kaschmirs besetzte ( siehe
Karte). Die indisch und pakistanisch
verwalteten Regionen Kaschmirs wer­
den von einer Waffenstillstandslinie
(„Line of Control“) getrennt, die in­
zwischen de facto eine internationale
Grenze ist.
„Alle Fürstenstaaten, die der Indi­
schen Union beitraten, haben das glei­
che Dokument unterzeichnet“, erläu­
tert der bekannte Anwalt und Verfas­
sungsrechtler Aman Hingorani.^4 „Sie
gaben ihre Souveränität in den Berei­
chen Verteidigung, Außenpolitik und
Kommunikation auf.
Manche Staaten unterzeichneten
Zusatzerklärungen, nach denen sie ih­
re Territorien an In dien abtraten, was
Jammu und Kaschmir verweigerte.“ Für
alle Angelegenheiten, die nicht Vertei­
digung, Außenpolitik und Kommuni­
kation betrafen, musste die Indische
Union, die vor der Gründung der In­
dischen Republik zwischen 1947 und
1950 als unabhängiges Dominion im
britischen Commonwealth fungierte,
die Erlaubnis des betreffenden Staats
einholen. Dieser Sachverhalt spiegelte
sich dann später auch in Artikel 370 der
indischen Verfassung wider.
Kaschmirs Einwohner konnten
sich nie ganz mit der Herrschaft In­
diens abfinden, sie betrachteten sich
nie als Bestandteil Indiens, im Ge­
gensatz zur Bevölkerung der anderen
ehemaligen Fürstenstaaten. Nachdem
Neu­Delhi 1987 die Wahlen gefälscht

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Grenzverlaufzwischen
denbeidenneuen
Unionsterritorien

Ind
us

Gilgit

Muzaffarabad

Mirpur

Islamabad

Jammu

Srinagar

Kargil Leh

Siachen-
Gletscher

K

Shaksgam-Tal
(vonPakistan
anChinaabgetreten)

AKSAICHIN
(seit
vonChina
verwaltet)

PAKISTAN INDIEN

CHINA

GILGIT-BALTISTAN

ASAD
KASCHMIR
JAMMUUNDKASCHMIR

LADAKH

01 00km

Waffenstillstandslinie
von
Grenzverlauflaut
chinesischerSichtweise

GebieteunterVerwaltungvon

Quelle: VereinteNationen

HistorischerStaat
Kaschmir
strategische
Verbindungsstraßen

Pakistan
Indien
(vonPakistanbeansprucht) China

vonIndien
beansprucht

Knapp und umkämpft


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