LE MONDE LE MONDE diplomatiquediplomatique ||Oktober 2019 3
Amoako Boafo wurde 1984 in Accra, Ghana,
geboren. Er porträtiert Menschen, die er be-
wundert: Freund*innen und Bekannte aus
Wien, Berlin und Ghana wie auch schwarze
Künstlerikonen (eine wichtige Serie heißt
„Black Diaspora“). Seine figürlichen Por träts
vor Farbflächen und abstrakten Interieurs
malt er mit Ölfarbe. Dabei entstehen die
Gesichter und die Hände mit Fingermalerei,
die anderen Bildteile mit einem expressiven
Pinselstrich. Dem Künstler geht es bei seinen
Bildern vor allem darum, gängige Vorstellun-
gen von Männlichkeit zu hinterfragen. Seine
ausdrucksstarken, selbstbewussten Porträts
erinnern manchmal auch an Egon Schiele.
Mit seinen Arbeiten feiert Boafo den verspäteten
Einzug von Schwarzen in die Kunstgeschichte.
Seit 2013 lebt und arbeitet Amoako Boafo in
Wien, wo er an der Akademie der Bildenden
Künste studiert. Für das Bildmaterial danken
wir dem Künstler sowie der Miettinen Collec-
tion/Salon Dahlmann, Berlin. Dort ist noch
bis zum 31. Dezember die erste Einzelausstel-
lung des Künstlers in Deutschland zu sehen.
http://www.salon-dahlmann.de,
http://www.amoako-boafo.com
Wilhelm Werthern
Amoako Boafo
Pink Suit, 2019, Öl auf Leinwand, 205 x 195 cm Foto: Nick Ash
S
tilisierte Fakten sind deskrip
tive Darstellungen „typischer
Regularitäten“ wirtschaftlicher
Entwicklungsprozesse, lautet
die Definition von Gustav A. Horn in
Gablers Wirtschaftslexikon. Das bedeu
tet, dass ein stilisierter Fakt zwar empi
rische Zusammenhänge darstellt, aber
selbst keine Erklärung solcher Zusam
menhänge bietet.^1
Auf solchen regelmäßig auftau
chenden, aber erklärungsbedürftigen
Fakten basieren auch die Darstellun
gen und Analysen von Entwicklungs
strategien, die mehrere Länder in La
teinamerika, Asiens und im Nahen Os
ten verfolgt haben. Der erste stilisierte
Fakt besagt, dass diese Entwicklungs
strategien eine beschleunigte In dus
triaung betrieben, um die Indus li sier
trieländer durch einen massiven Ent
wicklungsschub einzuholen.
Kernstück dieser Strategie war die
„importsubstituierende Industrialisie
rung“ (ISI). Sie sollte das Wachstum der
heimischen Unternehmen durch zwei
Maßnahmen ankurbeln: Durch Begren
zung der Einfuhren mittels Zöllen und
nichttarifären Handelshemmnissen.
Und durch Wachstumsförderung mit
tels massiver Subventionen für die ein
heimischen Unternehmen. Zölle und
Subventionen waren also die Hauptins
trumente, um der nationalen Kapitalis
tenklasse einen Freiraum zu schaffen,
der sie vor der Konkurrenz der indus
triell weiter entwickelten Staaten schüt
zen sollte.
Der zweite stilisierte Fakt war die
Auffassung, dieser Industrialisierungs
schub sei ein „gemeinsames Projekt“
der politischen Elite, der staatlichen
Verwaltung und der nationalen Un
ternehmerschaft gewesen (zuweilen
ergänzt durch eine begrenzte Beteili
gung der Arbeiterklasse). Aber natür
lich sah man als entscheidende Kräfte
dieses Machtgebildes die neu entstan
denen industriellen und politischen
Eliten.
Die dritte nicht hinterfragte Annah
me war, dass innerhalb dieses Bündnis
ses zwischen Staat und Unternehmern
die Rolle des Seniorpartners dem Staat
zukam. Deshalb wurde der Prozess
der beschleunigten Industrialisierung
meist auch als „staatlich gelenkte Ent
wicklung“ beschrieben. Begründet
wurde diese starke Rolle des Staates
mit Verweis auf den jungen und noch
sehr kleinen lokalen Industriesektor,
auf die lückenhafte Entwicklung der
einheimischen Warenmärkte und auf
die schwach entwickelten Finanzmärk
te. Aufgrund dieser Schwächen sei die
Führungsrolle bei der Industrialisie
rung dem Staat zugefallen.
Ineffizienter
Privatsektor
Allerdings gibt es eine unbestreitbare
Tatsache, die mit dieser Darstellung
schwer vereinbar ist: Die betreffenden
Staaten der developmentalistischen
Phase hatten Schwierigkeiten, ihr zen
trales Ziel zu erreichen, nämlich öffent
liche wie private Investitionen in Berei
che mit hoher Sozialrendite zu lenken,
also weg von Bereichen, in denen ho
he private Gewinne zu erzielen waren,
ohne dass sie einen gesellschaftlichen
Mehrwert erbrachten.
Diese staatlich gelenkten Entwick
lungsstrategien haben in Lateinameri
ka, im Nahen Osten und in Südasien
durchaus für eine ökonomische Trans
formation in die gewünschte Richtung
gesorgt. Der Prozess verlief jedoch nur
stockend und war mit gigantischen
Staatsausgaben verbunden. Die Haupt
rolle fiel dabei den öffentlichen Unter
nehmen zu, während der Privatsektor
häufig extrem ineffizient blieb.
Die enormen ökonomischen Kos
ten zeigten sich am klarsten in der
Die Industrialisierungsfalle
von Vivek Chibber
wachsenden Belastung der Staatshaus
halte, die einen Großteil der Verlus
te des Privatsektors zu kompensieren
hatten, den sie aber weiterhin durch
öffentliche Subventionen stützten. Zu
gleich mussten diese Staaten die wach
senden Handelsbilanzdefizite ausglei
chen, weil dem massiven Import von
Ausrüstungsgütern keine entsprechen
den Investitionen in die Produktion ex
portfähiger Güter gegenüberstanden.
Warum ist diese Industrialisie
rungspolitik gescheitert? Zahlreiche
Studien haben gezeigt, dass die meis
ten auf Entwicklung setzenden Staaten
des Südens nicht über die nötige insti
tutionelle Ausstattung verfügten. Dar
aus ergibt sich eine zweite Frage: War
um haben die politischen Eliten die nö
tigen Institutionen nicht geschaffen?
Meine Antwort lautet, dass der Wi
derstand gegen den Aufbau starker
und zugleich elastischer Instrumen
te hauptsächlich von den nationalen
Bourgeoisien ausging. Dieser tradi tio
nell marxistische Begriff bezeichnet
Kapitalisten, die auf den nationalen
Markt setzen, sich vom Einfluss der
übermächtigen „Metropolen“ unab
hängig machen wollen und sich im In
teresse der Industrialisierung mit dem
Staat verbünden.
Nach dieser Definition wäre es pa
radox, wenn sich nationale Kapitalisten
der Konsolidierung des Staates wider
setzen würden. Deshalb pflegen mar
xistische Traditionalisten die Schur
kenrolle einer anderen Gruppe der
Bourgeoisie zuzuschreiben: den Kom
pradoren.
Diese einheimischen Kapitalver
treter unterhielten enge Verbindun
gen zur früheren Metropole, also der
Kolonialmacht. Diese basierten oft auf
Handels oder spekulativen Aktivitä
ten, zum Teil auch auf Agrarexporten.
Die Kompradorenbourgeoisie stand
stets im Verdacht, dass ihr die natio
nale Entwicklung egal sei. Die natio
nale Bourgeoisie dagegen wurde nicht
unbedingt als Verbündete in sozialen
Fragen angesehen, aber im Hinblick
auf die Verwirklichung eines bürgerli
chen Entwicklungsmodells galt sie als
verlässlicher, wenn nicht sogar unent
behrlicher Partner.
Was die politischen Eliten Latein
amerikas, Indiens und bestimmter Re
gionen des Nahen Ostens nach 1945
antrieb, war der Wunsch nach rascher
Industrialisierung. Frühere Erfahrun
gen hatten zu Genüge gezeigt, dass die
Unternehmer von sich aus keine Nei
gung zeigten, in die Bereiche zu inves
tieren, die für ein langfristiges Wachs
tum entscheidend sind. Produkte, die
kurzfristige und hohe Profite verspra
chen, erbrachten oft eine geringe oder
gar keine Sozialrendite.
Eine planvolle Industrialisierungs
politik war einesteils darauf angelegt,
die Unternehmen in eine Richtung zu
lenken, die eine kapitalistische und zu
gleich eine soziale Rendite abwarf. Die
staatlichen Planer setzten zumeist auf
die „sanfte Methode“, um die Firmen
mittels Subventionen, zinsgünstigen
Krediten oder steuerlichen Vorteilen
in die gewünschte Richtung zu lenken.
Aber sie behielten sich auch Zwangs
maßnahmen vor, um im Konfliktfall
durchzusetzen, dass die öffentlichen
Mittel tatsächlich für den angestreb
ten Zweck verwendet wurden. Man ging
also davon aus, dass die Unternehmer
über die Verwendung der gewährten
Subventionen Rechenschaft ablegen
müssen, dass sie also eine disziplinie
rende Aufsicht hinnehmen mussten.
Die Kapitalseite reagierte auf die
se Anreizstruktur jedoch ganz anders.
Sie war durch die importsubstituie
rende Industrialisierung vor auslän
discher Konkurrenz geschützt. In vie
len Branchen erlangten eine Handvoll
Unternehmen rasch eine marktbeherr
schende Position. Wer zuerst da war,
beherrschte das Feld. Dieser Trend
wurde noch durch die Wirtschaftspla
ner verstärkt, die angesichts des gerin
gen Marktvolumens eine ruinöse Kon
kurrenz befürchteten und die Zahl der
Produzenten pro Branche administrativ
begrenzten.
Da die Unternehmen ein Quasimo
nopol über ihre nationalen Märkte er
langt hatten, schwand der Anreiz für
Innovation, Investition und Moderni
sierung. Also nutzten sie die Subventio
nen nicht zur Erneuerung ihrer vorhan
denen Ausstattung. Es war günstiger, in
andere Branchen zu investieren, um er
neut das Feld zu beherrschen.
Für die nationalen Bourgeoisien
bedeutete die ISI gigantische Profite,
solange man die großzügig verteilten
Subventionen nutzen und zugleich die
Kontrolle über die Verwendung der
Mittel abwehren konnte. Entsprechend
galten die disziplinierenden Kompo
nenten der ISI als inakzeptable Behin
derung.
Auf den ersten Blick war dieser Kon
flikt zwischen der nationalen Bourgeoi
sie und den Wirtschaftsplanern nicht
immer erkennbar, denn es gab immer
wieder Unternehmer, die vom Staat ei
ne bessere Wirtschaftsplanung forder
ten. Aber damit meinten sie im Grun
de nur, dass die öffentlichen Gelder an
sie selbst und nach ihren Vorstellungen
verteilt werden sollten. Für sie bedeute
te Planung schlicht die Vergesellschaf
tung des Risikos, ohne die private An
eignung des Profits anzutasten.
Zur Rolle der Nationalbourgeoisie
in der staatlich gelenkten Entwicklung
(^1) So der Soziologe Daniel Hirschmann, zitiert nach:
de.wikipedia.org/wiki/Stilisierter_Fakt.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der Uni-
versität New York und Autor von „Postkoloniale Theorie
und das Gespenst des Kapitals“, Berlin (Dietz Verlag)
- Eine Fassung dieses Textes erschien in der Aus-
gabe 2005 der Zeitschrift Socialist Register.