Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

LE MONDE diplomatique |Oktober 2019 5


edito

Das neue


Reich des


Bösen


Die USA sind mittlerweile offen-
bar der Ansicht, dass sie Russland
und China nicht gleichzeitig die
Stirn bieten können. Ihr geopo-
litischer Rivale der kommenden
Jahrzehnte wird Peking sein. Das
ist sogar Konsens zwischen der
Trump-Regierung und den Demo-
kraten – trotz der 2020 anstehen-
den Präsidentschaftswahl.
China löst also das sowjetische
„Reich des Bösen“ und den „isla-
mischen Terrorismus“ als Haupt-
feind Washingtons ab. Aber im
Gegensatz zur Sowjetunion ver-
fügt China über eine dynamische
Volkswirtschaft, der gegenüber
die USA ein gigantisches Handels-
defizit verzeichnen. Und Peking
ist militärisch unendlich viel stär-
ker als die fundamentalistischen
Kämpfer, die zwischen der Wüste
Mesopotamiens und den afghani-
schen Bergen umherirren.
Bereits Obama hatte einen
„Schwenk Richtung Asien“ und
der Pazifikregion unternommen.
Sein Nachfolger formuliert die-
se Strategie, wie so oft, mit weni-
ger Eleganz und Subtilität (siehe
den Artikel auf Seite 6 f.). Da nach
Trumps Verständnis jegliche Zu-
sammenarbeit eine Falle ist – ein
Nullsummenspiel –, sieht er den
Wirtschaftsaufschwung Chinas
automatisch als Bedrohung für
die Entwicklung der USA.
Das Gleiche gilt auch umgekehrt:
„Wir sind dabei, gegen China
zu gewinnen“, tönte Trump im
August. „Sie haben gerade ihr
schlechtestes Jahr seit einem
halben Jahrhundert verzeichnet,
und das liegt an mir. Ich bin nicht
stolz darauf.“
„Nicht stolz“ – das passt nicht zu
Trump. Vor etwas mehr als einem
Jahr erlaubte er die Liveübertra-
gung einer Kabinettssitzung.
Und dort kam alles zusammen:
Ein Minister gratulierte sich zur
Abschwächung des chinesischen
Booms, ein anderer machte die
chinesischen Fentanyl-Exporte für
die Opioid-Epidemie in den USA
verantwortlich, und ein Dritter
führte die Probleme der US-ame-
rikanischen Landwirte auf chine-
sische Vergeltungsmaßnahmen
im Handel zurück.
Es reicht also nicht mehr aus, ein
bisshen mehr Mais oder Elektro- c
nik an China zu verkaufen. Trump
muss den Rivalen isolieren, des-
sen Bruttoinlandsprodukt in den
letzten 17 Jahren um das Neunfa-
che angewachsen ist. Er muss ihn
schwächen, muss ihn daran hin-
dern, seinen Einfluss auszuwei-
ten. Vor allem aber darf Peking
mit Washington militärisch nicht
gleichziehen. Der rasante Aufstieg
Chinas hat das Land weder ame-
rikanisiert noch gefügig gemacht.
Deshalb wird es mit weiteren har-
ten Schlägen rechnen müssen.
Bereits am 4. Oktober 2018 sprach
Vizepräsident Pence unverhüllt
drohend von einem „Orwell’schen
System“, warf den Pekinger
Macht habern vor, dass sie „Kreuze
zerstören, Bibeln verbrennen und
Gläubige einsperren“, bezichtigte
sie der „Nötigung von Unterneh-
men, Filmstudios, Universitäten,
Thinktanks, Wissenschaftlern
und US-Journalisten“. Und er ent-
deckte sogar „Versuche, die Präsi-
dentschaftswahl von 2020 zu be-
einflussen“. Nach „Russia gate“
jetzt also ein „China gate“, mit
dem Ziel, Trump eine Niederlage
beizubringen? Die USA sind ganz
offensichtlich ein ziemlich fragi-
les Land. Serge Halimi

Klimaprotest in Washington, 23. September 2019 PABLO MARTÍNEZ MONSIVÁIS/ap

Energiequellen“ im Arctic National
Wildlife Refuge (ANWR).
Dieses Naturschutzgebiet im äu-
ßersten Nordosten Alaskas wird von
Umweltaktivisten vor allem als Überle-
bensraum für die umherziehenden Ka-
ribus und andere gefährdete Tierarten
geschätzt. Das hinderte Pompeo nicht,
weitere Aktivitäten zur Ausbeutung der
Bodenschätze anzukündigen.
Um seine Zuhörer zu beruhigen, er-
klärte der US-Außenminister, dass die
Konkurrenz um die arktischen Res-
sourcen „im Idealfall“ durchaus geord-
net und friedlich ablaufen würde. Sein
Land glaube an „den freien und fairen
und offenen Wettbewerb nach rechts-
staatlichen Prinzipien“.
Aber dann folgte gleich die Dro-
hung: Andere Länder und insbeson-
dere China und Russland würden sich
zumeist nicht an diese Regeln halten,
deshalb müssten sie einer genauen
Aufsicht unterliegen und nötigenfalls
auch bestraft werden.
Pompeo ging dann speziell auf Chi-
na ein. Peking sei längst dabei, in der
arktischen Region neue Handelswege
zu erschließen und Wirtschaftsbezie-
hungen mit den Anliegerstaaten zu ent-
wickeln. Allerdings würden die Chine-
sen ihre angeblich nur ökonomischen
Aktivitäten hinterrücks auch zu militä-
rischen Zwecken nutzen – behauptete
der Außenminister jenes Landes, das
in der Arktis bereits diverse Militär-
einrichtungen unterhält, darunter die
Luftwaffenbasis Thule im Norden von
Grönland.^1
Unverschämterweise, so Pompeo,
spionierten die Chinesen den mit In-
terkontinentalraketen bestückten US-
amerikanischen U-Booten nach, die
im arktischen Raum operieren und für
die nukleare Abschreckungsstrategie
seines Landes unentbehrlich sind. Er
verwies insbesondere auf die Vorgän-
ge im Südchinesischen Meer. Dort hat
China in der Tat auf ein paar winzigen
unbewohnten Inseln Militäranlagen
wie Flugplätze und Raketenstellungen
errichtet, worauf die USA mit der Ent-
sendung von Kriegsschiffen in die um-
liegenden Gewässer reagiert haben.
Der Hinweis diente ersichtlich als
Warnung, dass eine ähnliche militä-
rische Konfrontation und potenzielle
Zusammenstöße künftig auch in der
Arktis denkbar sind: „Wir sollten uns
fragen, ob wir wollen, dass der Arkti-
sche Ozean zu einem neuen Südchine-
sischen Meer wird, belastet durch Mili-
tarisierung und konkurrierende terri-
toriale Ansprüche.“
Wobei Pompeo anschließend noch
stärkere Worte gegen Russland fand,
dem er „ein aggressives Vorgehen in
der Arktis“ vorwarf: Moskau habe in
der Region hunderte neue Stützpunkte
errichtet, neue Häfen gebaut und sein
Flugabwehrsystem erneuert. Diese Be-
drohung könne nicht ignoriert werden:
„Russland hinterlässt bereits Spuren
im Schnee – in der Form von Militär-
stiefeln.“ Die Arktis sei zwar eine Art
Wildnis, „doch das heißt nicht, dass
dort Gesetzlosigkeit herrschen sollte ...
Und wir bereiten uns darauf vor, sicher-
zustellen, dass es nicht so weit kommt.“
Das also ist der Kern der Botschaft:
Die Vereinigten Staaten müssen selbst-
redend „reagieren“, indem sie ihre ei-
gene militärische Präsenz in der Arktis
verstärken – mit den einzigen Ziel, ihre
Interessen zu verteidigen und das Vor-
dringen der Chinesen und der Russen
zu kontern.
Solche Töne sind keineswegs nur
Zukunftsmusik: „Unter Präsident
Trump verstärken wir die Sicherheit
und die diplomatische Präsenz der USA
in dieser Region. Zur Stärkung unserer
Sicherheit – die zum Teil als Reaktion
auf die destabilisierenden Aktivitäten
Russlands erfolgt – veranstalten wir Mi-
litärmanöver, verstärken unsere Trup-
penpräsenz, bauen unsere Eisbrecher-
flotte wieder auf und erhöhen die Aus-
gaben für unsere Küstenwache“, listete
Pompeo auf.
Zudem werde „innerhalb unseres
Militärs eine neue Stabsstelle für ark-
tische Angelegenheiten“ eingerichtet,
fügte der US-Außenminister hinzu.


Zum Beweis, dass Washington es
ernst meint, pries Pompeo stolz die
größten Militärübungen der USA und
der Nato, die seit dem Ende des Kalten
Kriegs im arktischen Raum stattgefun-
den haben. Dieses multinationale Ma-
növer mit 50 000 Soldaten (unter dem
Codenamen „Trident Juncture 18“) wur-
de vom 25. Oktober bis zum 23. No-
vember 2018 auf norwegischem Ter ri-
toum abgehalten. ri^2 Nach dem offiziel-
len Szenario für „Trident Junc ture 18“
war der Gegner ein nicht namentlich
genannter „Angreifer“, aber für alle
Militärbeobachter war eindeutig klar,
dass die Nato-Truppen eine hypothe-
tische russische Invasion in Norwegen
zurückzuschlagen hatten.
So wird in groben Konturen die
Pompeo-Doktrin erkennbar, der eine
Kernannahme zugrunde liegt, die in-
nerhalb der Trump-Administration ei-
gentlich verboten ist: dass die Klima-
krise tatsächlich existiert. Diese über-
aus aggressive Doktrin geht für die
arktische Region von einer permanen-
ten Konkurrenz und von anhaltenden
Konflikten aus, die sich infolge der
Erd er wärmung und des Abschmelzens

dert der berühmten „Marines“ sta tio-
niert. Dabei handelt es sich um den
ersten Daueraufenthalt ausländischer
Soldaten auf norwegischem Boden seit
dem Zweiten Weltkrieg. 2018 hat das
Pentagon sogar die außer Dienst ge-
stellte Zweite US-Flotte wieder reakti-
viert und mit der Aufgabe betraut, den
Nordatlantik und die Seewege in Rich-
tung Arktis zu beschützen, was die Ge-
wässer um Grönland, Island und Nor-
wegen einschließt.
Wir gehen also offensichtlich hei-
ßen Zeiten entgegen, wobei die um-
fassenden Investitionen, die dem US-
amerikanischen Militär das Agieren
im Fernen Norden ermöglichen sollen,
erst an ihrem Anfang stehen. Während
„Trident Juncture 18“ operierte der
Flugzeugträger „Harry S. Truman“ und
seine Begleitflotte in norwegischen Ge-
wässern – und zwar erstmals seit der
Implosion der Sowjetunion im Jahr
1991 auch nördlich des Polarkreises.
Seitdem hat Marineminister Ri-
chard Spencer angekündigt, das Penta-
gon werde in der Sommersaison Über-
wasserschiffe der U.S. Navy die gesamte
Arktis durchqueren lassen,^3 was bislang

anderen Weltregionen wahrscheinlich
stark beeinträchtigen. So gehen viele
Wissenschaftler davon aus, dass die
Menschen im Nahen und Mittleren
Osten bis 2050 im Sommer mit durch-
schnittlich knapp 50 Grad Celsius rech-
nen müssen. Solche mörderische Hitze
macht das Arbeiten im Freien unmög-
lich.
Im Golf von Mexiko – und in klima-
tisch vergleichbaren Regionen – könn-
ten Hurrikane wegen der steigenden
Wassertemperaturen immer extremer
werden und die kontinuierliche För-
derung auf den Ölbohrplattformen
behindern. Sollte die Menschheit bis
2050 nicht die komplette Umstellung
auf alternative Energien geschafft ha-
ben, wird die Arktis in der Mitte dieses
Jahrhunderts zur wichtigsten Lieferre-
gion von Gas und Erdöl geworden sein.
Das wird den Kampf um die Kontrol-
le dieser fossilen Ressourcen nur noch
erbitterter machen – der teuflischste
Aspekt der Reaktion der Menschen auf
die Klimakrise.
Je mehr fossile Energie wir verbrau-
chen, umso schneller wird sich die
Ökologie der Arktis verändern. Und

der polaren Eiskappen immer weiter
zuspitzen.
Die Auffassung, dass sich die USA
im Fernen Norden mit den Russen und
Chinesen ein Kopf-an-Kopf-Rennen lie-
fern, hat sich in Washington – speziell
im Pentagon und im Nationalen Sicher-
heitsrat – über einen längeren Zeitraum
herausgebildet. Im August 2019 ist sie
offenbar auch im Weißen Haus so ge-
läufig geworden, dass sie Trump dar-
auf gebracht hat, Grönland kaufen zu
wollen.
Dabei ist diese Idee angesichts der
grönländischen Ressourcen und mög-
licher künftiger Auseinandersetzungen,
keineswegs irre oder skurril. Denn auf
der größten Insel der Erde gibt es so-
wohl eine Menge Bodenschätze als
eben auch die Militärbasis von Thule


  • ein Relikt des Kalten Kriegs, das heu-
    te vornehmlich als Radarstation dient.
    Die Anlage wurde bereits für 300 Mil-
    lionen Dollar modernisiert, um russi-
    sche Raketentests besser überwachen
    zu können. Aus der Sicht Washingtons
    ist Grönland von unschätzbarem Wert
    in dem geopolitischen Gerangel, das
    Pompeo in Rovaniemi dargestellt hat.
    Bei den neuen strategischen Über-
    legungen im State Department und im
    Pentagon spielen auch Island und Nor-
    wegen eine wichtige Rolle. So hat die
    US-Marine ihren alten Stützpunkt im
    isländischen Keflavík wieder besetzt

  • eine weitere Hinterlassenschaft des
    Kalten Kriegs – und integriert diesen
    nun in ihre Strategie der U-Boot-Be-
    kämpfung. Und auf einer Basis in der
    Nähe der norwegischen Stadt Trond-
    heim sind gegenwärtig mehrere hun-


nur unterhalb der Eisdecke, also für
Atom-U-Boote möglich war.
Der Plan wurde diesen Sommer
nicht realisiert.^4 Aber in allerjüngster
Zeit haben Einheiten der US-Marine
und der Marineinfanterie an der Küs-
te von Alaska ein großes amphibisches
Landungsunternehmen durchgeführt.
An der Übung im Rahmen des Militär-
manövers „Arctic Expeditionary Ca-
pabilities Exercise (AECE) 2019“, des
größten seiner Art seit Jahren, waren
rund 3000 Einsatzkräfte beteiligt. Sie
sollte dazu dienen, die Fähigkeit des
US-Militärs zu offensiven Landungs-
operationen in der umkämpften arkti-
schen Region zu verbessern.
Obwohl der US-Außenminister und
seine Redenschreiber den Begriff „Kli-
mawandel“ niemals verwenden, ist je-
der Aspekt der neuen Pompeo-Doktrin
durch die Auswirkungen dieses Phä-
nomens bestimmt. Weil die Tempera-
turen mit dem erhöhten Ausstoß von
Treibhausgasen immer weiter anstei-
gen, wird die Eisdecke der Arktis im-
mer schneller schrumpfen.
Damit wird die Ausbeutung der
arktischen Energievorkommen zuneh-
mend einfacher, was eine erhöhte Pro-
duktion fossiler Brennstoffe bedeutet,
die wiederum den Teufelskreis der Erd-
er wärmung und des beschleunigten
Abschmelzens des Polareises weiter
antreibt. Mit einem Satz: Die Pompeo-
Doktrin weist den sicheren Weg in die
Katastrophe.
Dabei kommt noch ein Aspekt ins
Spiel: Die steigenden Temperaturen
und die Zunahme extremer Stürme
werden die Öl- und Gasförderung in

wenn die auf fossilen Brennstoff beru-
hende Extraktionsökonomie in ande-
ren Re gio nen aus klimatischen Grün-
den zum Erliegen kommt, ohne dass
wir die Abhängigkeit von Öl und Gas
überwunden haben, wird das Schick-
sal des Fernen Nordens besiegelt sein.
Dann wird die ehemals unberührte
Weltregion, wie von der Pompeo-Dok-
trin vorausgesehen, zum Schauplatz
heftiger Konflikte werden – und zu ei-
ner Katastrophe für die gesamte Zivi-
li sa tion.

(^1) Die US-Basis Thule existiert bereits seit 1951 und hat
eine 3 Kilometer lange Landebahn. Während des Kalten
Kriegs diente sie als Operationsbasis des Strategic Air
Command, also der mit Atomwaffen bestückten Lang-
streckenbomberflotte der U.S. Air Force (B-36, B-
und B-52). Die Basis beherbergt heute auch die größ-
te und nördlichste Satellitenbodenstation der U.S. Air
Force. Gegenwärtig halten sich dort permanent etwa
600 Armeeangehörige und Zivilisten auf.
(^2) Dabei handelte es sich um das größte Nato-Manöver
seit der Auflösung der Sowjetunion. Parallel dazu fand
das ebenfalls multinationale Seemanöver „Northern
Coasts 2018“ in der Ostsee vor Finnland statt. An bei-
den Manövern war die Bundeswehr mit starken Kon-
tingenten beteiligt.
(^3) Siehe Wall Street Journal, 12. Januar 2019.
(^4) Das Vorhaben wurde auch in Fachkreisen kritisch
gesehen, denn es hätte nicht nur U.S.-Navy-Schiffe
(durch Eisgang) gefährdet, sondern auch zu Konflikten
mit Russland und Kanada geführt. Siehe: Rebecca Pin-
kus, „Rushing Navy Ships into the Arctic for a FONOP
is Dangerous“, in: RealClear Defense, 1. Februar 2019.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Michael T. Klare ist Professor em. für Friedens- und glo-
bale Sicherheitsstudien und schreibt regelmäßig für die
Website TomDispatch, auf der auch dieser Text erschie-
nen ist. Sein neues Buch, „All Hell Breaking Loose: the
Pentagon’s Perspective on Climate Change“, erscheint
im November bei Metropolitan Books.
© Michael Klare; für die deutsche Übersetzung, LMd, Berlin

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