Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

LE MONDE diplomatique |Oktober 2019 7


Amoako Boafo, Lehna Huie 2, 2019, Öl auf Leinwand, 100 x 70 cm Foto: Nick Ash

indes noch wesentlich weiter und ent-
ledigt sich schlichtweg aller Regeln.
Aus Sicht der USA ist China zu schnell
zu reich geworden. In der Tat stieg das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Ein-
wohner von 194 US-Dollar im Jahr 1980
auf 9174 US-Dollar im Jahr 2015.
Die USA sehen sich mit einem star-
ken Staat konfrontiert, der die Entwick-
lung nationaler Industriekonglomerate
in den Bereichen Telekommunikation,
Schifffahrt und Bahn (Hochgeschwin-
digkeitszüge) stark vorangetrieben hat
und einen wachsenden Anteil seines
BIPs in die Forschung steckt (2 Pro-
zent 2016 gegenüber 0,6 Prozent 1996;
in den USA beläuft sich die Quote auf
2,7 Prozent).
China modernisiert seine Mari-
ne und expandiert international mit
der sogenannten Neuen Seidenstraße
(Belt and Road Initiative, BRI), für de-
ren Seewege die Volksrepublik bereits
42 en in 34 Ländern gekauft oder Häf
gebaut hat beziehungsweise aktuell be-
treibt. Die US-Amerikaner wissen zwar,
dass China ihnen in den meisten sen-
siblen technischen Bereichen qualita-
tiv immer noch deutlich unterlegen ist.
Doch dass die Volksrepublik – wie Ja-
pan in den 1970er Jahren und Anfang
der 1980er Jahre – rasch aufholt, verun-
sichert sie zutiefst.
In dem Handelskrieg, den Trump
China erklärt hat, werden chinesische
Unternehmen gezielt vom US-Markt
für Hochtechnologie ausgeschlossen.
Selbst Pekings Gebietsansprüche im
Südchinesischen Meer werden von den
USA mit dem Argument zurückgewie-
sen, der Zugriff Chinas auf die Inseln
dieses Meeres stelle eine „Bedrohung
für die Weltwirtschaft“ dar, wie etwa
der frühere Vorstandschef von Exxon-
Mobil, Rex Tillerson, bei seiner Bewer-
bungsrede für das Außenministeramt
am 11. Januar 2017 vor dem US-Senat
erklärte. Außerdem müssen sich mitt-
lerweile alle chinesischen Universitäts-
absolventen in den USA verschärften Si-
cherheitschecks unterziehen.
Erste Schritte in Richtung Han-
delskrieg stellen die drastischen ju-
ristischen und ordnungspolitischen
Maßnahmen Washingtons gegenüber
dem Telekommunikationskonzern
Huaei dar, dem weltweit größten An- w
bieter drahtloser Netzwerkausrüstung.
Mit gemischten Erfolgen betreiben die
USA den weltweiten Ausschluss Hua-
weis vom 5G-Netzausbau. Am 1. De-
zember 2018 ließ Kanada auf Verlangen
der USA die Finanzchefin von Huawei
verhaften. Meng Wanzhou wird Bank-
betrug, eine Verschwörung zur Verlet-
zung der US-Sanktionen gegen Iran
und Ausspähung von Geschäftsgeheim-
nissen vorgeworfen. Aktuell wehrt sie
sich juristisch gegen eine Auslieferung
an die USA.
In der Financial Times ist schon
von einem „Kalten Krieg“ die Rede.
Die Wirtschaftszeitung warnt in ihrer
Ausgabe vom 20. Mai 2019 vor einer
Aufspaltung der globalen Technolo-
giebranche: „Die Entscheidung Ame-
rikas, das Flaggschiff der chinesischen
Telekommunikationskonzerne auf die
Liste der Unternehmen zu setzen, mit
denen amerikanische Firmen nur nach
Erteilung einer staatlichen Lizenz Ge-
schäfte treiben dürfen, markiert einen
Schlüsselmoment.“
Trumps Handelskrieg richtet sich
nicht nur gegen Peking, sondern glei-
chermaßen gegen jene Unternehmen,
die China zu einer Montage- und Pro-
duktionsplattform gemacht haben. Die
US-Behörden sind der Meinung, dass
„zu große Teile der Lieferkette nach
China verlagert werden“^6 und dass die
transnationalen Konzerne, die in der
Volksrepublik investiert haben, Teil
des Problems sind. Trump bezeichnet
die Aktivitäten dieser Unternehmen als
„unpatriotisch“ – ein Argument, das in


nationalistischen Kreisen seit langem
Konjunktur hat. Der für seine Theorie
vom „Kampf der Kulturen“ bekannt ge-
wordene Politikprofessor Samuel Hun-
tington warf schon 1999 den „Libera-
len, Akademikern und Wirtschaftse-
liten“ vor, „antinationale Gefühle“ zu
schüren, und forderte einen „robusten
Nationalismus“.
Nicht nur die US-Regierung, auch
einflussreiche Oppositionspolitiker,
wie der demokratische Fraktionsfüh-
rer im Senat, Chuck Schumer, setzen
darauf, dass ein anhaltender, auf stren-
gen Sicherheitsvorschriften beruhen-
der Handelskonflikt derart hohe Kos-
ten für die transnationalen Konzerne
zur Folge hat, dass diese ihr Kapital aus
China abziehen.^7 Damit würde, so das
Kalkül, dem Technologietransfer und
anderen Formen der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit, wie etwa dem Ver-
kauf von Computerchips der US-Fir-
men Intel und Micron an Huawei, ein
Ende gesetzt werden.
Der harte Kurs betrifft selbst Unter-
nehmen mit Sitz außerhalb der USA.
Die Washingtoner Vorschriften gelten
für sämtliche Produkte und Prozesse,
die Komponenten aus US-amerikani-
scher Herstellung enthalten oder inte-
grierte geistige Eigentumsrechte nut-
zen. Künftig könnten die US-Regeln
auch all jene Firmen binden, die den
Dollar in Handelsgeschäften einsetzen,
wie die aktuelle Blockade Irans durch
Washington zeigt.
Die Reaktionen global agierender
Wirtschaftsakteure auf den Handels-
krieg ließen auch nicht lange auf sich
warten: Im Februar 2019 begannen
66 taiwanesische Unternehmen mit
Unterstützung der Regierung in Tai-
peh ihre Produktion von Kontinental-
china nach Taiwan zu verlegen. Im Ap-
ril 2019 verkündete der taiwanesische
Großkonzern Foxconn, der in China
für Apple und andere große Elektronik-
unternehmen produziert, er werde sei-

ne Herstellung nach Indien und Viet-
nam verlagern, um sich gegen künftige
Turbulenzen innerhalb der asiatischen
Lieferketten zu wappnen.^8
Außerdem ziehen sich dutzende
US-amerikanische und japanische Fir-
men aus China zurück und gehen nach
Mexiko, Indien und Vietnam. Von den
200 wichtigsten in China aktiven US-
Unternehmen lassen bereits 120 ihre
Lieferketten überprüfen.^9 Dieser Pro-
zess wird sich noch beschleunigen,
wenn die US-Regierung den Konflikt
weiter anheizt. Laut der Bank Morgan
Stanley würde sich das iPhone XS um
160 US-Dollar verteuern, sollten die
USA alle „chinesischen“ Exporte mit
Strafzöllen belegen.^10

Konzernflucht
aus China

Doch um einen Teil der Produktions-
kette wieder in die USA zurückzuholen,
wie es die US-Regierung ohne Unterlass
fordert, müsste man Unternehmen wie
Apple oder Nike, die keine eigenen Fab-
rikationsstätten besitzen, schon erheb-
liche Anreize bieten. Die Zerschlagung
ihrer chinesischen Plattformen wäre
für sie mit großen Kosten und Schwie-
rigkeiten verbunden. Außerdem wür-
de die Verlagerung der Produktion in
die USA ihre Gewinnmargen erheblich
schmälern.
So schöpft Apple als Systemplaner
und Inhaber der geistigen Eigentums-
rechte fast die Hälfte vom Gesamtwert
des Endprodukts ab (dessen Bestand-
teile und Rohstoffe von mehr als 200
Lieferanten aus Dutzenden von Län-
dern stammen), während auf die Mon-
tage in China nur 2 Prozent entfallen.
Trumps Wille scheint indes uner-
schütterlich zu sein. So kritisierte er
die US-Handelskammer Anfang Ju-
ni in einem Interview dafür, dass sie
sich für eine Aufrechterhaltung der
Handelsbeziehungen mit China aus-

gesprochen hat und erklärte bei dieser
Gelegenheit, er werde alle chinesischen
Importe mit einem 25-prozentigen Zoll
belegen, sollte Peking nicht auf seine
Forderungen eingehen.^11 Aktuell wird
etwa die Hälfte der Einfuhren zu die-
sem neuen Tarif verzollt.
Im Gegensatz zur Sowjetunion, die
nie Teil der kapitalistischen Weltord-
nung war, bewegt China sich schon
lange im „Obergeschoss“ der ökonomi-
schen Aktivitäten, wie der Sozialhisto-
riker und Mitbegründer der „École des
Annales“, Fer nand Braudel (1902–1985),
einmal den Kapitalismus genannt hat.
Und dieses Obergeschoss ist im Gegen-
satz zu den lokalen Märkten im „Erdge-
schoss“ auf eine offene Weltwirtschaft
mit ungehindertem Kapitalverkehr an-
gewiesen. Abgesehen von einigen be-
deutenden Ausnahmen wie dem Vertei-
digungssektor und der Energiebranche,
in die der Staat eingreift, agieren alle
wichtigen Wirtschaftsbranchen global.
Die aktuelle Situation nährt nicht
nur Zweifel an der liberalen Hypothese,
wonach das Ende des 20. Jahrhunderts
erreichte Maß an gegenseitiger Abhän-
gigkeit einen unumkehrbaren Wandel
in den internationalen Beziehungen
eingeleitet habe. Auch die neomarxis-
tische Annahme, dass eine „transnatio-
nale Klasse“ die Herrschaft übernimmt
und die Grenzen der Politik und des
Staats überschreiten wird, erscheint
gerade wenig wahrscheinlich.^12
Es wäre naiv zu glauben, China gä-
be dem Druck der USA nach. China sei
auf einen langfristigen Handelskrieg
mit den USA vorbereitet, verkündete
jedenfalls das englischsprachige Partei-
organ Global Times am 30. Mai. Die öf-
fentliche Meinung würde harte Gegen-
maßnahmen Pekings befürworten. Im-
mer mehr Chinesen seien mittlerweile
der Auffassung, einige Washingtoner
Eliten legten es in Wahrheit darauf an,
die Entwicklungsfähigkeit Chinas zu
zerstören, schreibt das Blatt.

Auf beiden Seiten scheint das
Macht- dem Gewinnstreben den Rang
abzulaufen. Und es könnte sein, dass
der Schlagabtausch zwischen dem US-
amerikanischen und dem chinesischen
Nationalismus der Globalisierung, wie
wir sie bislang kannten, ein Ende setzt.

(^1) Donald Trump, „Declaring America’s economic indepen-
dence“, Rede in Monessen, Pennsylvania, 26. Juni 2016.
(^2) Erklärung von Kiron Skinner, der ehemaligen Leiterin
des Planungsstabs im US-Außenministerium, bei einem
Kolloquium der New America Foundation am 29. April
2019 in Washington, D. C.
(^3) Zwischen 1971 und 2006 machte die Volksrepublik
China zweimal von ihrem Vetorecht im Sicherheits-
rat Gebrauch, die USA hingegen 76-mal, Großbritan-
nien 24-mal, Frankreich 14-mal und die UdSSR (bezie-
hungsweise später die Russische Föderation) 13-mal.
(^4) Vgl. Yasheng Huang, „The role of foreign-invested
enterprises in the Chinese economy: An institutional
foundation approach“, in: Shuxun Chen und Charles
Wolf (Hg.), „China, the United States and the Global
Economy“, Santa Monica (Rand) 2001.
(^5) Siehe Philip S. Golub, „China und der Rest der Welt“ ,
LMd,
Dezember 2017.
(^6) Nazak Nikakhtar, Unterstaatssekretärin für Indus-
trie und Analyse im US-Handelsministerium. Zitat aus:
James Politi, „US trade hawk circles prey in China con-
flict“, Financial Times, London, 27. Mai 2019.
(^7) Keith Bradsher, „A China-US trade truce could en-
shrine a global economic shift“, The New York Times,



  1. Juni 2019.


(^8) Lawrence Chung, „Taiwanese companies hit by US-
China trade war lured back home by Taipei“, South Chi-
na Morning Post,
Hongkong, 15. Juni 2019.
(^9) Taisei Hoyama, „US and Japan rethink supply chains
as trade war widens“, Nikkei Asian Review, Tokio, 20. Mai
2019.
(^10) Takeshi Kawanami und Takeshi Shiraishi, „Trump’s la-
test China tariffs to shock global supply chains“, Nikkei
Asian Review
, Tokio, 12. Mai 2019.
(^11) Interview von Joe Kernen mit Donald Trump, CNBC,



  1. Juni 2019.


(^12) Vgl. William I. Robinson und Jerry Harris, „Towards a
global ruling class? Globalization and the transnatio-
nal capitalist class“, Science & Society, Band 64, Nr. 1,
New York, Frühjahr 2000.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Philip S. Golub ist Professor für Internationale Bezie-
hungen an der Amerikanischen Universität von Paris
und Autor von „East Asia’s Reemergence“, Cambridge
(Polity Press) 2016.

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