Le Monde Diplomatique Germany - 10.2019

(Martin Jones) #1

8 LE MONDE^ diplomatique^ | Oktober 2019


Konflikts zwischen zwei politischen
Lagern: Da ist auf der einen Seite der
Kirchnerismus, der in den verarmten
Ballungszentren und den vernachläs-
sigten Provinzen des Nordens und Pa-
tagoniens verwurzelt ist. Er spricht die
Arbeiter und Armen an, hat aber auch
Anhänger in der progressiven Mittel-
schicht und der jüngeren Generation,
die sich in Rückbesinnung auf die ers-
te Phase des Peronismus (1945–1955)
für eine heterodoxe Wirtschaftspolitik
einsetzt, mit einem starken Binnen-
markt, hohen Löhnen und einem star-
ken Staat.
Dem gegenüber steht der Macris-
mus als eine Weiterführung des klassi-
schen antiperonistischen Liberalismus
ins 21. Jahrhundert. Seine Hochburgen
sind die Pampa und die wohlhabenden
Viertel der Großstädte. Er steht für ei-
ne deregulierte und offene Wirtschaft,
Steuersenkungen, mehr Marktmacht
und weniger Einfluss des Staats.
Kirchnerismus und Macrismus ha-
ben jeweils etwa ein Drittel der Wähler-
schaft hinter sich. Der Rest ist unent-
schieden und nicht auf eines der Lager
festgelegt. An diesen Wechselwählern
hängt das politische Schicksal Argenti-
niens. Was als „Riss“ bezeichnet wird,
sei in Wahrheit aber eine politische
Strategie, die darauf abziele, das nicht
festgelegte Drittel, die „mächtige Min-
derheit“, zu gewinnen, meint Martín
Rodríguez, Autor einer umfassenden
Analyse zu diesem Thema.^2
„Diese Strategie verfolgte Cristi-
na Kirchner nach ihrem politischen
Scheitern bei der Landbevölkerung und
später auch Macri. Wer das unentschie-
dene Drittel hinter sich bringt, domi-
niert den Wahlkampf und gewinnt die
Wahlen.“ Eines aber gelinge mit dieser
Strategie gewiss nicht, sagt Rodríguez:
„Einschneidende und dauerhafte Ver-
änderungen herbeizuführen.“
Diese Überlegungen stehen auch
hinter Cristina Kirchners Entschei-
dung, Alberto Fernández zu ihrem Kan-
didaten zu küren: Obwohl sie das stabi-
le Drittel an Kirchner-Anhängern nach
wie vor hinter sich vereint, steht sie
auch für den Riss, der die Peronisten
entzweit und eine breitere Koali tion
unmöglich macht. Viele peronistische
Gouverneure, Bürgermeister und An-
führer von Organisationen lehnen eine
weitere Amtsperiode Cristina Kirchners
ab, denn gerade unter den konservati-
veren der peronistischen Wähler stößt
sie auf Ablehnung.
Deshalb hat sie mit Alberto Fernán-
dez einen gemäßigten Frontmann
gewählt, der versöhnliche Töne an-
schlägt. Fernández war Kabinettschef
unter Néstor Kirchner und später un-
ter Cristina Kirchner, mit der er nicht
immer auf einer Linie war. So übte er
harsche Kritik an der Kirchner’schen
Landwirtschaftspolitik.
Mit fast 50 Prozent der Stimmen ge-
genüber 32 Prozent für Mauricio Macri
hat sich das Duo aus Verstand (Alberto
Fernández) und Gefühl (Cristina Kirch-
ner) bei den Vorwahlen – wo die Kandi-
daten eine Mindestanzahl an Stimmen
erhalten müssen, um zur Wahl antre-
ten zu dürfen – am 12. August durchge-
setzt und steuert auf einen erdrutsch-
artigen Sieg bei den Präsidentschafts-
und Parlamentswahlen am 27. Oktober
zu.
Das Scheitern der Regierung Macri
ist vor allem auf ihre wirtschaftspoli-
tischen Fehleinschätzungen zurück-
zuführen. Der Macrismus ging davon
aus, dass er nach Jahren des „kirchne-
rischen Populismus“ mit einem rela-
tiv simplen Programm erfolgreich sein
würde: die Wirtschaft deregulieren, für
einen freien Kapitalfluss sorgen und
den staatlichen Einfluss minimieren,
dazu einige „marktfreundliche“ Signa-
le in Richtung Finanzmärkte senden
und sich den westlichen Großmächten
annähern. Dann würde ganz automa-
tisch ein „Investitionsregen“ (so war


die gebräuchliche meteorologische
Metapher) auf das Land niedergehen
und einen Exportboom auslösen. Der
Kreislauf von Wachstum, Beschäfti-
gung und Wohlstand würde wieder in
Gang kommen.
Doch es funktionierte nicht. Aus-
ländische Investitionen blieben aus,
und die Exporte verharrten auf dem
gleichen Niveau wie unter Kirchner. Ei-
nen Rekord allerdings kann Macris li-
berale Regierung verzeichnen: Die In-
flation ist nun die zweithöchste in der
Region – nach der in Venezuela.
Macris Fehler bestand vor allem da-
rin, dass er die globale Situation nicht
richtig erfasste: Anders als zu früheren
Zeiten, als neoliberale Experimente –
wie im Chile der 1970er Jahre oder im
Argentinien der 1990er Jahre – durch-
aus Erfolg hatten, geht das Wachstum
der Weltwirtschaft derzeit zurück, der
Handel schwächelt, und der Handels-
krieg zwischen China und den Verei-
nigten Staaten befördert einen neuen
Protektionismus. Die Nachfrage an den
Rohstoffmärkten sinkt.
Ohne ausländische Investitionen
und ohne den erwarteten Exportboom
konnte die Regierung Macri ihr Pro-
gramm nur aufrechterhalten, indem
sie immer mehr Schulden aufnahm,
bis die Finanzmärkte im Mai 2018 dem
einen Riegel vorschoben. In der Folge
wandte Macri sich an die einzige ihm
noch verbliebene Finanzierungsquelle:
den Internationalen Währungsfonds
(IWF). Mit Unterstützung von Donald
Trump, zu dem der argentinische Prä-
sident seit den Zeiten, als beide in der
internationalen Immobilienbranche tä-
tig waren, eine persönliche Beziehung

Claudio Scaletta, der die neue Krise
schon 2016 in einem Buch über die
macristische Ökonomie vorausgesagt
hatte.^4
Die politische Quittung wurde Ma-
cri bei den Vorwahlen am 12. August
präsentiert, als er eine vernichtenden
Niederlage gegen Fernández einste-
cken musste. Nach fast vier Jahren an
der Macht stand hinter Macri nur noch
das eine ursprüngliche Drittel, das ihm
nach Kirchners agrarpolitischem Ver-
sagen in den Schoß gefallen war. Die
Wechselwähler verlor er praktisch ganz.

Ein Drittel der
Argentinier lebt in Armut

Bedingt durch die allgemeine Verunsi-
cherung stieg schon am Tag nach den
Vorwahlen der Preis für den Dollar, die
Sparer liefen zu den Banken, um ihre
Ersparnisse abzuheben, und die Infla-
tion schnellte erneut in die Höhe (auf
schätzungsweise 55 Prozent im Jahr
2019). Die Devisenreserven der Zentral-
bank, die letzte Barriere, um den Ab-
sturz des Peso in eine Hyperinflation
zu verhindern, gingen täglich um 1 Mil-
liarar zurück. de Doll
Derart in die Enge getrieben, sah
sich Macri, der einst so erfolgreiche
Geschäftsmann und erklärte Moder-
nisierer und Befreier der Wirtschaft
vom linken Populismus, gezwungen,
die teilweise Zahlungsunfähigkeit zu
erklären. Der Devisenhandel wurde
eingeschränkt und eine Reihe von Vor-
schriften und Kontrollen eingeführt,
um den totalen Zusammenbruch zu
verhindern.
Wie schon 1989 und 2001 war der

aber die Stimmung bleibt friedlich.
„Die Regierung von Macri ist eine Ka-
tastrophe, aber die sind so gut wie
weg, wir müssen nur noch ein bisschen
durchhalten, bald ist es vorbei“, sagt
Pedro Tapia von der Confedera ción de
Trabajadores de la Economía Popular,
einer der wichtigsten Arbeitnehmeror-
ganisationen. Er sitzt bei einem Pro-
testcamp vor dem Sozialministerium
im Zentrum von Buenos Aires unter ei-
nem 30 Meter hohen Bildnis von Evi-
ta Perón und trinkt seinen Mate. „Die
sind so gut wie weg“, wiederholt er.
Alberto Fernández weiß genau, dass
das Land, das er wohl übernehmen
wird, in Trümmern liegt und der Wie-
deraufbau Jahre dauern wird. Entspre-
chend bemüht er sich, die Erwartun-
gen klein zu halten. Seine erste Aufgabe
wird es sein, die Schulden mit dem IWF
und womöglich auch mit den privaten
Gläubigern neu zu verhandeln, um
wirtschaftlichen Spielraum und mehr
Handlungsfreiheit zu gewinnen.
Nach der von Macri unterzeichne-
ten Vereinbarung soll Argentinien im
Jahr 2020 an den IWF 24 Milliarden
Dollar zahlen, im Jahr 2021 noch ein-
mal 31 Milliarden. Die Gesamtverschul-
dung liegt derzeit bei über 100 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts, eine Belas-
tung, unter der Fernández seine wirt-
schaftlichen Pläne nicht wird umsetzen
können.
Bei den Nachverhandlungen mit
den Gläubigern hat Fernández einen
Präzedenzfall vor Augen, der noch gar
nicht so lange her ist: Im Jahr 2005
zwang die Regierung Néstor Kirchner


  • in der Fernández eine wichtige Funk-
    tion innehatte – die Gläubiger zu ei-


gentinien steht – wie alle lateinameri-
kanischen Staaten – im Zentrum eines
sich verschärfenden geopolitischen
Wettbewerbs zwischen den Vereinigten
Staaten und China, was eine doppelte
Abhängigkeit bedeutet: einerseits von
Washington mit seinem Einfluss auf
die Kreditagenturen und Investment-
fonds, die argentinische Schuldtitel
halten; andererseits von Peking, denn
China ist der größte Abnehmer argen-
tinischer Rohstoffe und fast die einzige
Finanzierungsquelle für Investitionen
in die Infrastruktur.
Eine kluge Diplomatie könnte
aus dieser „doppelten Abhängigkeit“
durchaus Profit ziehen, mit beiden
Mächten auf gutem Fuße stehen und
das jeweils Beste für das Land heraus-
holen. Dies wäre umso wichtiger, als
Südamerika stark gespalten ist – an-
ders als zu Zeiten Néstor Kirchners, als
fast überall auf dem Kontinent linke
Regierungen an der Macht waren und
man bis zu einem gewissen Grad zu-
sammenhielt.
Heute steht in der Region links ge-
gen rechts, Freihandel gegen Protek tio-
nismus, Pflege der Handelsbeziehun-
gen zu den Großmächten gegen regio-
nale Integration. In diesem Kontext ist
es schwierig, gemeinsame politische
Positionen zu formulieren.
Deshalb ist es wichtig, dass Fernán-
dez seine eigene Führungsposition
stärkt – und das heißt vor allem: die
Wirtschaftskrise beendet. „Macri hat
der Wirtschaft das Wasser abgegraben“,
erklärt Matías Kulfas, ehemaliges Mit-
glied der Regierung Kirchner und ei-
ner von Fernández’ wichtigsten Wirt-
schaftsberatern. „Als Erstes müssen wir
wieder bessere Bedingungen schaffen.
Dazu schlagen wir vor, die Reallöhne
und die Renten anzuheben und staatli-
cherseits mehr zu investieren, aber mit
der gebotenen Vorsicht, damit die In-
flation nicht weiter steigt, und im Rah-
men eines Sozialpakts zwischen Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern.“
Ein Wahlsieg auf breiter Basis, mit
einem Stimmenvorsprung von über
20 Prozentpunkten gäbe Fernández
den nötigen Rückhalt, um sich gegen-
über dem IWF und den Gläubigern zu
behaupten, und zugleich die Möglich-
keit, eine breite peronistische Koalition
zu schmieden. Denn beim Peronismus
handelt es sich weder um eine politi-
sche Partei im klassischen Sinne noch
besitzt er eine geschlossene Organisa-
tionsorm oder eine klar definierte f
Ideologie. Er ist eine heterogene Bewe-
gung, in der die konservativen Gouver-
neure der Nordprovinzen ebenso ihren
Platz finden wie die Interessen der In-
dustriegewerkschaften und die Emp-
findlichkeiten der jungen Städter.
Innerhalb dieser bunten Mischung
hat der Kirchnerismus eine Schlüssel-
stellung inne. Darum wird für die kom-
menden Jahre viel vom Zusammenspiel
von Alberto Fernández und Cristina
Kirchner abhängen. Die große politi-
sche Herausforderung besteht darin,
die vielen Aspekte des Peronismus zu
berücksichtigen und eine Koalitionsre-
gierung zustande zu bringen, die in der
Lage ist, die unterschiedlichen und wi-
dersprüchlichen Interessen miteinan-
der zu verbinden. Nur so kann die Krise
überwunden werden, die aus vier Jah-
ren Neoliberalismus erwachsen ist.

Déjà vu: lange Schlange vor den Banken AGUSTIN MARCARIAN/reuters

▶ Fortsetzung von Seite 1


Ein Riss geht durch Argentinien


unterhält, erwirkte er ein 57 Milliarden
Dollar schweres Stand-by-Programm,
das umfangreichste in der Geschichte
des IWF.^3
Die Unterstützung des IWF half, die
Finanzlage für einige Monate zu stabi-
lisieren, stellte allerdings eine drasti-
sche Anpassung der Finanz- und Wäh-
rungspolitik zur Bedingung. Die Wirt-
schaft brach ein, und die soziale Krise
verschärfte sich: Die Armutsquote stieg
auf 34,1 Prozent, die Arbeitslosigkeit
auf 10,1 Prozent. „Der Fonds stimm-
te der Bereitstellung von Finanzmit-
teln zu, aber die von ihm im Gegenzug
geforderten Maßnahmen waren so zial
nicht tragbar. Mit anderen Worten, die
wirtschaftliche Notlage mündete in ei-
ne soziale Notlage und schließlich in
die politische Schwächung“, erklärt

Auslöser der Krise eine ungeordnete,
massive Geldentwertung, was die Löh-
ne drückte und die Wirtschaft in eine
immer tiefere Rezession riss. Doch an-
ders als in der Vergangenheit löste der
wirtschaftliche Zusammenbruch dies-
mal keinen Aufruhr aus, keine polizei-
liche Repression mit dutzenden von To-
desopfern; trotz der akuten Not blieben
Plünderungen von Supermärkten, Be-
setzungen öffentlicher Gebäude und
Zusammenstöße mit der Polizei aus.
Die gut organisierten sozialen Be-
wegungen, unterstützt durch die von
Kirchner begonnene und von Macri
fortgeführte Politik der sozialen Abfe-
derung, haben dafür gesorgt, dass die
Unzufriedenheit nicht in einen Auf-
stand mündete – jedenfalls bislang.
Die Protestmärsche werden mehr,

nem Schuldenschnitt von 70 Prozent.
Die neue Regierung ginge nicht ohne
Druckmittel in solche Verhandlungen,
denn 61 Prozent der zurzeit vergebenen
Kreditmittel des IWF stecken in Argen-
tinien, was vielen Ökonomen ein altes
Sprichwort aus der Finanzwelt in Er-
innerung ruft: Schuldet jemand einer
Bank 1 Million Dollar, hat er ein Pro-
blem, schuldet er aber 1 Milliarde Dol-
lar, hat die Bank ein Problem.
Zudem werden die geopolitischen
Machtverhältnisse eine entscheidende
Rolle spielen. Vieles wird von der Hal-
tung der USA abhängen, die im IWF-
Gouverneursrat ein Vetorecht besitzen.
Deshalb kündigte Fernández an, er wol-
le zwar eine – im Vergleich zu Macris
Liebedienerei – „reife“ Beziehung zu
Washington, aber keinen Bruch. Ar-

(^1) Carla Gras und Valeria Hernández, „Radiografía del
nuevo campo argentino. Del terrateniente al empresario
transnacional“, Buenos Aires (Sigo XXI Editores) 2016.
(^2) Martín Rodríguez und Pablo Touzon, „La grieta des-
nuda. El macrismo y su época“, Buenos Aires (Capital
intelectual) 2019.
(^3) Siehe Claudio Scaletta, „Déjà-vu in Buenos Aires. Die
Regierung Macri treibt Argentinien erneut in die Schul-
denfalle “, LMd, November 2018.
(^4) Claudio Scaletta, „La recaída neoliberal. La insus-
tentabilidad de la economía macrista“, Buenos Aires
(Capital intelectual) 2016.
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold
José Natanson ist Leiter von El Dipló Cono Sur, der
argentinischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

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