Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

Dienstag, 22. Oktober 2019 ∙Nr. 245 ∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 4.90 ∙€4.


EU-Osterweiterung: Macrons Veto gegenNordmazedonien und Albanien ist riskant Seite 11


Seit 60 Jahren hat der Bundesrat

nicht mehr so wenige Wähler vertreten

Die Grünen und die Grünliberalen haben rechnerisch Anrecht auf je einen Bundesratssitz


Die Bundesratsparteien haben
seit Erfindung der Zauberformel
1959 nicht mehr so schwach
abgeschnitten wie jetzt. Nach den
Proporzregeln müssten SP und
FDP je einen Sitz abgeben.

FABIAN SCHÄFER, BERN (TEXT)
ANJA LEMCKE (GRAFIK)

IhrePartei hat gerade Geschichte ge-
schrieben. DochRegula Rytz, die Che-
fin der Grünen, bleibt in der Stunde des
Triumphs erstaunlich bescheiden. Ihre
Forderung nach einem grünen Bundes-
ratssitz ist geradezu kleinlaut ausgefal-
len. In derTat ist nicht zu erwarten, dass
die Grünen diesesJahr bereits einerea-
listische Chance haben, den ersehnten
Einzug in dieLandesregierung zu fei-
ern .Vor allem zwei Gründe sprechen
dagegen: Amtierende Bundesräte wer-
den nur inAusnahmefällen abgewählt,
zudem müssen die Grünen und auch
die Grünliberalen (GLP) ihren Erfolg
in vierJahren erst noch bestätigen.
Viel länger als eine Legislatur sollte
die Wartezeit aber nicht dauern. So war

es zumindest bei derSVP: 1999 hat sie
erstmals die CVP überholt, vierJahre
später erhielt sie einen zweiten Platz in
der Regierung, notabene mittelsAbwahl
einer amtierenden Magistratin (Ruth
Metzler von der CVP). Mit anderen
Worten: Wenn die grünenVerschiebun-
gen auch nur halbwegs nachhaltig sind,
werden sie 2023 die Zusammensetzung
der Landesregierung infrage stellen.

Zauberformel passt nicht mehr


Unklar ist, nach welchen Kriterien das
Parlament den neuen Bundesrat zusam-
mensetzen wird.Denkbar ist,dass es der
EinfachheithalberbeiderZauberformel
bleibt, die seit1959 fast ununterbrochen
gilt. Ihr Schema ist banal: je zwei Sitze
für die drei stärkstenParteien,einen Sitz
für die vierte Kraft. Nach dieser Logik
müsste die CVP spätestens dann einen
Sitz an die Grünen abgeben, wenn Bun-
desrätinViola Amherdzurücktritt.
Die Zauberformel passt jedoch nicht
mehr zur aktuellenParteienlandschaft.
DieSVPistzwarweiterhinklardieNum-
mer eins, doch bei denParteien dahinter
sind die Unterschiede sehr klein.Warum
sollte etwa die FDP mit15 ProzentWäh-
leranteilzweiBundesratsmitgliederstel-
len, während die Grünen mit 13 Pro-
zent weiterhin nur einen Sitz erhielten?
Kommt hinzu,dass bei einer aktualisier-
tenZauberformeldieCVPausdemBun-
desrat entfernt und damit die Mitte ge-

schwächt würde. Der rot-grünePol wäre
dann mit drei Sitzen übervertreten.

Grüner Sitz auf Kostender SP?


Als Alternative zur Zauberformel bie-
ten sich die gängigen Berechnungsver-
fah ren an, die bei Proporzwahlen zum
Einsatz kommen.Sie lassen sich auch
auf den Bundesrat anwenden.Man kann
dabei von denWähleranteilen derPar-
teien ausgehen, in der Annahme, dass
der Bundesrat ungefähr den Prioritäten
des Wahlvolks entsprechen soll.
Rechnet man mit dem verbreiteten
VerfahrenderStandardrundung,präsen-
tier t sich das magistrale Septett deutlich
grüner aus heute: Nicht nur die FDP
müssteeinenSitzabgeben,sondernauch
die SP. Dafür wäre neben den Grünen
auch die GLP mit dabei. Genau gleich

fällt das Ergebnis aus, wenn man diePar-
teien in Blöcke einteilt. Die Linke (SP
und Grüne) erhielte zwei Sitze,die Mitte
um FDP, CVP und GLP bekäme drei
Mandate, die Rechte (SVP) zwei.Wer
will, kann die FDP zurRechten zählen,
für dasResultat spielt eskeine Rolle:
Bei derFeinverteilung erhielte wieder
die SVP zwei Sitze und die FDP einen.
Noch erstaunlicher fällt das Ergebnis
aus, wenn man den Nationalratsproporz
anwendet, der grosseParteien privile-
giert : In diesemFall erhielte dieSVP
drei Sitze, die GLP ginge leer aus. Die SP
könntenurdannAnspruchaufzweiSitze
erheben,wenn man anstelle derWähler-
anteile die Zahlder Parlamentssitze als
Basis nähme. Doch derVorsprung der
Sozialdemokraten auf die GLP wäre
klein.Wenn die SP viele Ständeratssitze
verlöre,hätte sie nurAnspruch auf einen

Bundesrat. Die FDP hätte in jedemFall
nur noch einen Sitz zugut.
Gewiss, am Ende entscheidetnicht
Mathematik, sondern Macht. DieSVP
hat enormen Druck aufgebaut,um einen
zweiten Sitz zu bekommen.Viel hängt
deshalb davon ab, wie sich die Grünen
und die GLP in den nächsten vierJah-
ren verhalten. Gespannt sein darf man
auch auf die Strategie der SP. Bis jetzt
legt sich ihr Präsident Christian Levrat
mächtig für einen grünen Bundesrat ins
Zeug.Wie er oder seine Nachfolge sich
verhält, wenn die SP diesen Sitz her-
geben müsste, ist eine andereFrage.
Vorderhand gilt: Der Bundesrat
repräsentiert dasWahlvolk so schlecht
wie nie seit Bestehen der Zauberformel


  1. Die kumuliertenWähleranteile
    der Oppositionsparteien betragen nach
    diesenWahlen 31 Prozent.


Wahlen 2019
Kurswechsel:Wasist vom neuen
Nationalrat zu erwarten? Seite 13

Kommentar:Wer in den Bundesrat will,
braucht Abstimmungserfolge. Seite 11

Ständeratswahl:Moser lässt Schlatter
den Vortritt in Zürich. Seite 19

QUELLEN: BFS, EIGENE BERECHNUNGEN NZZ Visuals/lea.

DieZauberformel undmögliche Alternativen


020406080100

2019

2015

2011

2007

2003

1999

1995

1991

1987

1983

1979

1975

1971

1967

1963

1959

Seit Einführung der Zauberformel
waren noch nie so vieleWähler nicht
im Bundesrat vertreten wie heute
In Prozent, anhand derWähleranteile
bei denNationalratswahlen

Vertreten im Bundesrat

Nicht vertreten im Bundesrat

Heutige Zusammensetzung des Bundesrats

Alternativen

SP GP GLP CVP FDP SVP

Zauberformel aktualisiert, nachWähleranteilen
Die grössten drei Parteien erhalten je2Sitze, die viertgrösste 1.

1

ProportionaleVerteilung der Sitze auf die Parteien
Verteilung anhand derWähleranteilenach dem verbreiteten Berechnungsverfahren
der Standardrundung.

2

ProportionaleVerteilung der Sitze auf die Lager
Verteilung wie oben, aber mit Einteilung der Parteien in Blöcke (auf Basis des NZZ-Ratings:
rechts: SVP,Kleinparteien; Mitte:FDP,CVP,GLP,BDP,EVP; links: SP,GP, Kleinparteien).

3

Verteilung der Sitze nach Nationalratsproporz
Dieses Berechnungsverfahren bevorteilt grosse Parteien.

4

GLPCVPGPFDPSPSVP

25,

16,
15,
13,
11,
7,

Nicht abgebildet ist die kurzzeitige Doppelvertretung der BDP auf Kosten der SVP 2008.

1959 bis 2003 Bis 2008 Bis 2015 Seit 2016

SVP

SP

FDP

CVP

BDP

Zusammensetzung des Bundesrats seit 1959
Anzahl Bundesratssitze

Wähleranteile 2019
In Prozent

Netanyahu


gibt klein bei


Herausforderer Benny Gantz


ist mit Regierungsbildung am Zug


INGAROGG, JERUSALEM


Der amtierende israelische Minister-
präsident Benjamin Netanyahu hat am
Montagabend eingeräumt,dass erkeine
neueRegierung zustande bringe. Er gab
den Auftrag an StaatspräsidentReuven
Rivlinzurück.Dasserdie nötige Mehr-
heit nicht zusammenbringt, war schon
länger klar.Trotzdem hat Netanyahu
bis kurz vor Ablauf derFrist gewartet.
In Israel gehen vieleKommentatoren
davonaus,dassNetanyahudamitZeitge-
winnen wollte, um sich doch noch eine
weitere Amtszeit zu sichern. Über dem
langjährigen Regierungschefschwebt
das Damoklesschwert einerAnklage
wegenKorruption. Bei einerVerurtei-
lungdrohenihmbiszu13JahreHaft.Die
EntscheidungderStaatsanwaltschaft,ob
sieAnklage erhebt, wird in den nächs-
ten Wochen erwartet. Netanyahu, der
am Montag seinen70.Geburtstag fei-
erte, hat nie verhehlt, dass er ein Gesetz
durchbringen will,das ihm dasAmt auch
im Fall einer Anklage sichert.
Netanyahus Likud-Partei hatte bei
den Wahlen im September 32 der 120
Mandate in der Knesset geholt. Zusam-
men mit denRechten und den Ultra-
orthodoxen kam sein Bündnis auf 55
Sitze.Staatspräsident Rivlin schlug des-
halb die Bildung einer grossenKoali-
tion mit dem Herausforderer Benny
Gantz vor, dessen Bündnis Blau-Weiss
33 Sitze holte. Netanyahu hätte dann im
Fall einer Anklage das Amt desRegie-
rungschefs an Gantz abgeben müssen.
Er habe in den letzten 26Tagen un-
ablässig versucht, eineRegierung der
nationalen Einheit aus seinem Likud,
denReligiösenundBlau-Weisszubilden,
sagteNetanyahuineinerVideobotschaft
auf Facebook. Gantz habe sichVerhand-
lungen jedoch verweigert.Dabei sei es
das, was dieWähler wollten und was
Israel brauche.Wenig später twitterte
Yair Lapid, die Nummer zwei von Blau-
Weiss, Netanyahu sei erneut gescheitert.
PräsidentRivlinteiltemit,dassernun
GantzmitderRegierungsbildungbeauf-
tragenwerde. Dieser hat dann ebenfalls
28 Tage Zeit, eine Mehrheit zustande zu
bringen.VertretervonBlau-Weisserklär-
ten, sie s eien entschlossen, eine liberale
Einheitsregierung zu bilden.Das dürfte
allerdingsschwierigwerden.Selbstwenn
Gantz bereit wäre, mit derVereinigten
Arabischen Liste der arabischen Israeli
eine Koalition einzugehen, käme diese
nur auf 53 Sitze in der Knesset.
Deshalb richten sich die Blicke nun
aufAvigdorLieberman,dermitden8Sit-
zen von Unser Haus Israel das Zünglein
an derWaage ist. Lieberman hat sich in
den letzten Monaten zwar zumBanner-
träger des Säkularismus gewandelt.Das
ändert aber nichts daran, dass er poli-
tischrechts steht. EineRegierung,der
sowohl Unser Haus Israel wie auch die
Liste der Araber angehört, käme dem
Versuch gleich,Feuer undWasser zu
mischen.UndauchfüreineMinderheits-
regierung brauchte Gantz zumindestdie
einfache Mehrheit von 61 Stimmen.
GantzdürftedeshalbaufdieVernunft
in denReihen des Likudsetzen. Die
Partei steht bis jetzt geschlossen hinter
Netanyahu. Doch sollte auch Gantz mit
der Regierungsbildung scheitern, wären
erneuteWahlen so gut wie unausweich-
lich.NachzweiWahlenbinneneinesJah-
res wollen das die wenigsten Israeli.


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