Dienstag, 22. Oktober 2019 FEUILLETON 43
Wie man zu viert ins Unglück tanzt
Kreuz und quer und manchmal gar nicht schicklich entwickeln sich die Beziehungen in DorisLessings Laboratoriumder Liebe
ANGELA SCHADER
Schon derRaum, den ihr mehr als fünf-
zig Bücher umfassendes Œuvre bean-
sprucht, macht es klar: Doris Lessing
begnügte sich nicht mitkleinen Dimen-
sionen. So schuf sie unter anderem zwei
je fünfbändigeWerkzyklen, deren ers-
ter, von derJugendzeit der Schriftstel-
lerin im damaligen Südrhodesien aus-
gehend, den Bogen bis in eine fiktive,
vom DrittenWeltkrieg erschütterte Zu-
kunft schlägt. DiesesFanal, mit dem der
letzteBand von «Kinder der Gewalt»
abschliesst, scheint auch im zweiten Zy-
klus, «Canopus im Argos», auf; dort wird
LessingeineReihe ausserirdischer Zivi-
lisationen abschreiten und die Mensch-
heitsgeschichte auskosmischer Distanz
in den Blick nehmen.
Zu viert ins Unglück
Ebenso gut wie die weit ausgreifende
Geste beherrschte dieAutorin jedoch
das Intime,Kammerspielhafte; daran er-
innert einBändchen mit fünf Erzählun-
gen, das an die heute vor 100Jahren ge-
borene Nobelpreisträgerin erinnern soll.
DerReiz derAuswahl liegt darin, dass
sie in einem thematisch wie formal eng
gestecktenRahmen etwas von Lessings
Lust am analytischen Experimentieren
einsehbar macht: Sie führt gleich drei Er-
zählungen zusammen, die jeweils um eine
doppelte Paarkonstellation kreisen.
Die unterschiedlichen Arten, wie
eine solche Quadrille ins Unglück tan-
zen kann,scheinen Lessing über län-
gere Zeit beschäftigt zu haben:Rund
einVierteljahrhundert liegt zwischen
der1972 erschienenen frühesten Story
und den beiden anderen, die aus den
neunzigerJahren datieren. MitSymme-
trien undKontrasten zwischen denFigu-
ren betont Lessing das leicht Artifizielle
dieserVersuchsanordnungen, die dann
von unterschiedlichen Ansatzpunkten
aus demontiert werden.
Am schroffsten und weitgehend ein-
dimensional geschieht dies in «Der Blick»,
wo sich in den beidenPaaren–Brite und
Griechin, Grieche und Britin – zugleich
zweiKulturen begegnen.In seiner medi-
terranenVariante ist der titelgebende
Blick, von schönenAugen dosiert ein-
gesetzt und mit sphinxhaftem Schwei-
gen untermalt, ein wirksames Mittel, um
Ehemänner in die gewünschteRichtung
zu gängeln. Die Britin aber scheitert so
erbärmlich wie tragisch an dieserKunst;
sie wird zur Medusa, deren stures Starren
Liebe undFreundschaft abtötet.
Prästabilierte Harmonie
Die beiden anderen Storys legen eine
Symmetrieachse zwischen den Männern
an. Sind sie einander in«Worauf es an-
kommt» vomAussehen und Habitus her
ähnlich, so verbindet sie in «Keine sehr
hübscheGeschichte» zudem der Beruf
- die beiden Gatten führen gemeinsam
eine Arztpraxis. Und es verbindet sie
Muriel,die eine der Ehefrauen, die dem
Geschäftspartner ihres Mannes jederzeit
so lustvoll wie bedenkenlos zuWillen ist.
Lessing modelliert die Erzählungge-
schickt genug, um das Platte wie auch
das Unwahrscheinliche derKonstellation
einigermassen aufzufangen: den Sachver-
halt nämlich, dass die beiden Ehen lange
Zeit durch die Liaison inkeinerWeise
tangiert werden. Stattdessen lässt sie von
anderen Seiten herkorrodierende Stoffe
in die Herzen einsickern. Einen nie einge-
st andenen Seitensprung hier, einen emo-
tionalenTemperaturanstieg da, einenTo d
schliesslich, der das Gleichgewicht – end-
gültig aushebelt? Nein. Denn da ist die
prästabilierte Harmonie dieses Bezie-
hungsgefüges, die stärker wirkt als jede
Störung,dabei aber zunehmend gespens-
tische Züge annimmt.
Solche Bindekräfte wirken auch in
«Worauf es ankommt». Daglaubt die
AmerikanerinJody, nach einer glück-
losen Ehe endlich einen sicheren Port
zu finden: Henry, ihr neuerPartner, ist
charmant,ist ruhig, ist Brite. Und eben-
falls geschieden. Seine Ex-FrauAngela
steht kurz vor der Heirat mitSebastian,
der seinerseits einenTr abanten in Ge-
stalt einer geschiedenen Gattin mitführt.
Und dann sind da Kinder, die die Gra-
vitationsfelder in diesem menschlichen
Planetarium nochmals vermehren.
AlsAusländerin, als Einzige in der
Konstellation, die definitiv mit ihrem
einstigenPartner gebrochen hat, istJody
die doppelteAussenseiterin. Sie spürt,
als zöge sich klebriges Spinnweb immer
dichter um sie zusammen, wie da alle mit
allen vertraut und verbandeltsind.Wor-
auf es ankommt – das ist, wie sie am Ende
merkt, nicht die gegenwärtige, sondern
die gut erhaltene verflossene Liebe.
Die nackte Seele
Seltsamerweise ist die skurrilste Ge-
schichte imBand zugleich die berüh-
rendste. «Wieich endlich mein Herz ver-
lor» beginnt mit einem ironisch-schee-
len Blick auf Liebesdinge,steigertsich
ins Surreale und bricht dann die Nöte
der überkandideltenIch-Erzählerinun-
vermittelt in derKonfrontation mit dem
verzehrenden Leid einerFremden.In den
anderen Storyshat Lessing sich als erfin-
derische Analytikerin menschlicherVer-
hältnisse profiliert; hier zeichnet sie mit
sicherem und zugleich empfindsamem
Strich das Abbild einer nackten, wehr-
losen Seele.
DorisLessing:Worumeswirklich geht.Sto-
ries.Mit einemNachwortvon SimoneFrieling.
Verlag Ebersbach&Simon, Berlin 2019. 191S.,
Fr. 30.90.
Alles Leid verschwindet aus Bukarest
Wer sich in einem Buchzu viel vornimmt, versinkt leicht in bizarrem Kitsch. Nicht so der virtuos schreibende Mircea Cartarescu
FRANZ HAAS
Laut Selbstaussage von Mircea Carta-
rescu soll sein neuerRoman «Solenoid»
ein Stachelinder Selbstgefälligkeit des
Li teraturbetriebs sein, «eine Art Anti-
literatur, ein Manifest gegen die Schrift-
stellerkarriere, gegen Preise, das Geld
und denRuhm». Das mag das 900-Sei-
ten-Buch auch darstellen,aber es ist
natürlich noch vieles mehr: einWun-
derwerk der Erzählkunst, ein metaphy-
sischesWeltgebäude, errichtet in der
schäbigenPeripherie von Bukarest, ge-
zimmert aus Albträumen, Phantasie und
Philosophie, aber auch aus demrealen
Grau und dem Grauen des dort prakti-
ziertenKommunismus.
Erinnerung an Bosch
Der namenlose Ich-Erzähler, der am
Anfang diesesRomans 27Jahre alt ist,
hat viel mit demrealen rumänischen
Autor Cartarescu gemeinsam. Geboren
ist er«an einemJunitagdes Jahres1956».
Er istRumänisch-Lehrer an einer her-
untergekommenenVorstadtschule,in
derenKorridoren er unendlich lange
herumirrt, um seine Klassenräume zu
finden, die er dann betritt, als handelte
es sich um «eineFolterkammer». Die
Handlung beginnt also1983, und ge-
mäss den spärlichen Angaben endet sie,
nach etwas mehr als «fünf, sechsJah-
ren»,ander Zeitenwende um den Sturz
von Ceausescu. Der Diktatorkommt
nur einmal indirekt vor, auf dem «Por-
trät des Genossen, des ‹Einfaltspinsels›»,
das im Klassenzimmer hängt. Sein grau-
sigreales Imperium ist zwar stets prä-
sent, aberRaum und Zeit sind in dieser
hochliterarischen Himmel-und-Höllen-
Fahrt sowieso unendlichrelativ.
Vieles ist in diesem psychedelischen
Buch bereits bekannt aus der «Orbitor»-
Tr ilogie, Cartarescus Hauptwerk.Daist
wieder die ärmliche Kindheit des Erzäh-
lers, dasTr auma vomVerlust eines Zwil-
lingsbruders, die symbiotische Bindung
an die Mutter, eine«monströseAdo-
leszenz», das «dreiflügeligePanorama-
fenster» der Plattenbauwohnung seiner
Eltern in der Stefan-cel-Mare-Chaussee
mit Blick auf Bukarest.Daist auch wie-
der die Sekte der«Wissenden», die sich
nun die «Mahner» nennen,deren An-
führer der Erzähler kurz vor der apoka-
lyptischen Schlussapotheose wird.
Jetzt ist der junge Mann aber bereits
umgezogen in sein eigenes«schiffsför-
miges Haus», das er «1981 um den Preis
einesDacia-Automobils» von einem du-
biosen alten Erfinder gekauft hatte, der
dorteinst unter demKeller eine gigan-
tische Magnetspule installiert hatte, den
Solenoiden,der mirakulöse Heilkräfte
haben soll. Der Alte sei verrückt, dachte
damals der Erzähler. Doch dann stellte
sich heraus, dass nach einem Knopf-
druck seinKörper tatsächlich zu «le-
vitieren» begann, und nun «schlief ich
stets zwischen Bett und Zimmerdecke in
der Luft schwebend».Aber das ist noch
das Geringste unter denparanormalen
Requisiten desRomans.
Viele Szenen erinnern an Hierony-
mus Bosch, auch ein «Garten derWol-
lüste»kommt vor. Ganze sechs Sole-
noide sind unterirdisch in der Stadt ver-
teilt, die am Schluss aus ihrer irdischen
Verankerung gehoben wird und wie
eine Riesenqualle himmelwärts ent-
schwebt. Nur ein «kolossales zentrales
Rohr» hängt noch herab, eine«Aorta
des Schmerzes», durch die alles Leidvon
Bukarest aufgesogen wird.
Ja, und natürlich ist da auch noch das
Leid «der Dichter mit ihren zerstörten
Lebensläufen».Der Erzähler spricht
hier in eigener Sache und doch wie-
der nicht, denn neben seiner verhassten
Arbeit in der Schule schreibt er schon
seitJahren einTagebuch, das «aufge-
löste Innenfutter meines Lebens», das
nun in diesenRoman einfliesst, «ein
Anti-Buch, das für alle Zeiten obskure
Werk eines Anti-Schriftstellers», ein
Buch ohne Leser, das er am Ende ver-
brennen wird. Er will nämlich nicht mit-
machen in der Zunftder Betrüger,die
in ihrenRomanen nur «falscheTüren»
an dieWände malen. Für ihn muss das
Buch ein Fluchtplan sein und «denAus-
gang aus dem finsteren Gefängnis der
Welt» weisen, aus demKerker desKör-
pers und des Bewusstseins.
Leicht undleuchtkräftig
Wer sich so vielMessianismus vornimmt
und noch dazueindickes Buch mit über-
natürlichemPomp vollräumt, derkommt
leicht im bizarren Kitsch zuFall, wenn
er nicht so virtuos schreiben kann wie
Cartarescu. Seine Sprache ist noch in
den vertracktesten Abwegen der Hand-
lung und in den verschlungensten Um-
wegen derSyntax von poetischer Leich-
tigkeit und intensiver Leuchtkraft – und
der Übersetzer ErnestWichner leistet
Grandioses.Die perfekte Bildhaftigkeit
wirkt auch nach der hundertsten Geni-
tiv-Metapher nicht unscharf oder abge-
nützt, und unklar bleibt nur,welchen
Genien derAutor das verdankt.
Der Erzähler erlebt schier Unbe-
schreibliches imLabyrinth seinesKop-
fesoder in einem obskuren Bukarest,
in einer aufgelassenenFabrik undin
einem Leichenschauhaus. Dort trifft
sichnachtsdie Sekte der«Mahner»,
die protestiert mit Sprüchen wie «Nie-
der mit demTod!».Angefeuert werden
sie vom meist betrunkenen Pförtner der
Schule, sie sollen wie«aus einer Mil-
lionKehlen» vielmals dasWort «Hilfe!
Hilfe! Hilfe!...» schreien– und das
wirdbuchstäblich über zehnRoman-
seiten hinweg abgedruckt, zirka 3500
Mal. Solche Masslosigkeit könnte über-
spannter Manierismus sein, wären die
Exaltiertheiten nicht immer abgesichert
durch das stupendeWissen desAutors,
der sich einschüchternd gut auskennt
aufvielen Gebieten, in der Quanten-
physik wie in esoterischen Geheim-
lehren, in spekulativer Mathematik wie
in Insektenkunde.
Einmal versetzt Cartarescu den Geist
seines Erzählers in denKörper einer
Krätzmilbe, lässt ihn mitseinesgleichen
«inihren Galerien voller Mist und Ge-
stank» durch Menschenhaut kriechen
und «mit ihren monströsenWeibchen»
kopulieren. Er lässt ihn auch denken,
ob der Mensch nicht eine Milbe in der
«Haut eines unausdenkbaren Gottes»
seinkönnte.Wie so oft in «Solenoid»
kehrt dann das Denken zurück zum Ur-
knall der Philosophie, zu Platons Höh-
lengleichnis und derFrage,wie man aus
der engenWelt desRealen ins befreiend
Tr anszendentale gelangen kann.
Über weite Strecken spielt dieser ver-
rücktkopflastigeRoman aber im ziem-
lichrealenRaum deskommunistischen
Rumänien, samt Kindheitserinnerungen
des Erzählers bis in dieTausendsteVer-
ästelung in einemTbc-Sanatorium, mit
einer Mutter, die, «die Seele auf den Lip-
pen», um ihren Sohn bangt.Von erhei-
ternderKomik sind hingegen die Bilder
aus dem Schulalltag, die frotzelnde Psy-
chologie im Lehrerzimmer, die liebevoll
bissigenPorträts derKolleginnen.
In einem der unendlichenRäume sei-
ner Schule macht der Lehrer-Erzähler
jedoch einenFund, bei dem für ihn der
Spass aufhörtund der Ernstder akribi-
schen Beschreibung beginnt. Ein «Hau-
fen grüner und brauner Scherben» er-
scheint ihm bald als blauer Pfauenhals,
bald als glitzerndes Gefäss, aber mit dem
«Hals dieser Amphore» stimmte etwas
nicht, «es sei denn, er wäre in einevierte
Dimensiongedreht worden». Die Schil-
derung dieses mysteriösen Gegenstan-
des ziehtsich über Seiten hin, ohne dass
etwas darüber klar würde, aber auch
ohne dass das Geschriebene abstürzte
insrätselhaft Belanglose.
DerJunglehrer hat mitunter aber
auch ganz handfeste Probleme,wie
sie die Liebe mit sich bringt, denn er
war sogarschon einmal verheiratet.
Der Schuldirektor hatte ihngewarnt,
die Ehe sei«ein bisschen schlimmer,
als erhängt» zu werden, und so war es
dannauch.Tr otzdem verliebter sich
danach in die Physiklehrerin, nach-
dem er sie zweiJahre lang im Leh-
rerzimmer kaum bemerkt hatte. Sie
heisst Irina und wirdvon ihm sogar
ein Kind bekommen. Aber Mircea Car-
tarescuwäre nicht derAutor,der er
ist,würde er diese Liebesgeschichte als
ganz irdische oder ganz himmlische be-
schreiben.Auch darin ist er ein Meis-
ter des Schwebens zwischen gleissen-
derPostmoderne und neoromantischer
Schwarzkunst der Sprache, die man
nichtgenugpreisen kann.
Mircea Cartarescu:Solenoid.Roman.Aus dem
RumänischenvonErnest Wichner. Zsolnay-
Verlag, Wien 2019 , 904S., Fr. 49.90.
Die kommunistische Diktatur ist imRoman «Solenoid» stets präsent. Privatgemächer CeausescusEnde 1989. GAMMA-RAPHO/GETTY