Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

Dienstag, 22. Oktober 2019 INTERNATIONAL


Argentinien kämpft sich durch die Krise


Inflation, Arbe itslosigkeit un d Armut sind stark angestiegen – vorder Präsidentschaf tswahl herrscht grosse Frustrat ion in der Bevölkerung


NICOLE ANLIKER, BUENOS AIRES


Marisa Berguñan hätte nie gedacht,
dass ihr einesTages das Geld fürs Es-
sen fehlen würde. Nun ist es aber so
weit. Seit dreiWochen steht sie täglich
in der Schlange an derTürezur Suppen-
küche «Esperanza de la Boca» mitten im
ArbeiterviertelLaBoca im Herzen von
Buenos Aires. Drinnen auf dem Herd
stehen dampfende Metallkochtöpfe,
im Ofen brutzeln panierte Schnitzel.
Das Küchenpersonal füllt Berguñans
mitgebrachte Behälter mitdem heu-
tigen Menu: Suppe, Schnitzel, Kartof-
felstock,Reis und Orangen. Es ist das
Abendessen für sie, ihre vier Kinder,
ihren Lebenspartner und dessen zwei
Sprösslinge. Hierherzukommen, sagt die
36-jährige Argentinierin, habe sie nicht
mehr vermeidenkönnen.


Hungern fürden Nachwuchs


Die Situation derrothaarigenFrau ist
in den vergangenen Monaten nur noch
bergab gegangen. Besonders schwie-
rig wurde es, nachdem sie ihre Stelle als
Putzkraft verloren hatte. Vier Monate
Arbeitslosigkeit stürzten sie ins finan-
zielle Chaos. «Keine Milch,keinFrucht-
saft, nicht einmal mehr Brotkonnte ich
den Kindern auftischen.» Nebenbei sta-
pelten sich dieRechnungen für Gas,
Elektrizität und Schulgebühren.
Berguñan wohnt mit ihren Kindern
in einer Dreizimmerwohnung in einem
Mehrfamilienhaus inLaBoca,ihr Ex-
Mann hat kaum Geld für Alimente. Seit
ihr neuerPartner seine Stelle beim Sta-
tistikinstitut verloren hat, arbeitet er in
einer Kantine und kämpft selber, um
sich und seinen Nachwuchs durchzubrin-
gen.Zuallerletzt, gibt Berguñan zu, habe
sie kaum mehr gegessen, damit ihr Nach-
wuchs sattgeworden sei. Nach sechs
Wochen war genug: Sie legte ihr Scham-
gefühl ab und bat in der «Esperanza» um
Hilfe.«Wasmich das Überwindung ge-
kostet hat», ergänztsie seufzend.
Berguñan, die inzwischenals Hilfser-
zieherin in einer Kita arbeitet, istkein
Einzelfall. Sie gehört zu den rund 3,
Millionen Argentiniern, die in den letz-


ten zwölf Monaten unter die Armuts-
grenze gerutscht sind.Mehr als 15 Millio-
nengelten insgesamt alsarm.Das sind 35
Prozent der Bevölkerung, die laut dem
nationalen Statistikinstitut Indec nicht
über genügend Geld verfügen, um sich
Grundnahrungsmittel zu kaufen.

Überfüllte Suppenküchen


Argentinien steckt in einer tiefenWirt-
schaftskrise. ImAugust lag die Inflations-
rate bei mehr als 54 Prozent, der argenti-
nischePeso verlor gegenüber dem Dol-
lar 40 Prozent, die Arbeitslosigkeit steigt

an. Die Gehälter werden zwar angepasst,
hinken derTeuerung aber nach, was die
Kaufkraft verkleinert. DerKongress hat
Mitte September angesichts dessen den
Nahrungsmittelnotstand ausgerufen.
Das Gesetz, welches bis Ende 2022 gül-
tig ist, sieht eine Erhöhung des Staats-
haushalts um mindestens das Doppelte
fürdieVersorgung vonSuppenküchen
wie «Esperanza de la Boca» vor.
Denn diese werden von Anfragen
geradezu überrannt. Seit sich die Krise
nach denVorwahlen am 11.August wei-
ter zugespitzt hat, muss dieVerantwort-
liche der Einrichtung täglich neue Leute
wegschicken. «Es sind vor allemFami-
lien, die sich bisher selber unterhalten
konnten», stellt Lidia López fest.Aus-
schlag für die steileTalfahrt des argenti-
nischenPeso hatte die herbe Niederlage
deskonservativen Präsidenten Mauricio
Macri gegeben, der weit abgeschlagen
hinter seinem peronistischen Heraus-
forderer AlbertoFernández und dessen

Kandidatin für dieVizepräsidentschaft,
der früheren Präsidentin CristinaFer-
nández de Kirchner, lag. Die Letzteren
gehen nun als grosseFavoriten in die
Präsidentschaftswahl am 27.Oktober.
Die kräftig gebaute López mit der
knallroten Brille kann es kaum erwarten.
An ihremKühlschrank am Eingang der
Suppenküche hängt neben einemJesus-
Bild eineTafel, auf der die 56-Jährige die
Tage zählt, bis der erhoffteRegierungs-
wechsel stattfindet. An Macri, den sie
ausVerabscheuung nicht beim Namen
nennt, lässt siekein gutes Haar. «Uns blei-
ben hundertJahre Schulden, nicht einmal
unsereEnkelkinder werden sie abzahlen
können», schimpft sie laut. Er lassenach
vierJahren ein psychisch, moralisch und
wirtschaftlich verwüstetesLand zurück.
Seit zweiJahren verteilt López täg-
lich 350 Essensrationen, dreimal mehr als
noch 2015. Gutzwei Drittel davon sind
durch staatliche Zuschüsse gedeckt, der
Rest über private Spendengelder.Anders
ginge das nachAngaben von López gar
nicht,da die Lebensmittelpreise geradezu
explodieren. «In unseremKühlschrank»,
sagt sie,«gibtes keine Milch,keinen
Käse und auchkeine Butter für das Brot
mehr.» DieKosten von Grundnahrungs-
mitteln sind laut dem Indec zwischenJuli
2018 und 20 19 umrund 58 Prozent ange-
stiegen. Die Preise von Milchprodukten
und Eiern sogar um 85 Prozent.
AlsReaktion darauf kündigte die
Regierung MitteAugust an, Grund-
nahrungsmittel wie Brot, Milch, Öl,Reis
oderTee bis EndeJahr von der Mehr-
wertsteuer zu befreien.Auch die Liste
von subventionierten Produkten wurde
jüngst erneut angepasst und verlängert:
ZurKundenorientierung sindTomaten-
saucen, Spaghettipackungen und selbst
Weinflaschen im Supermarkt extra mit
dem blauen Schild «Schonpreise» ange-
schrieben. Denn die meisten Argentinier
sind gezwungen, ihre Ess-, Einkaufs-
undKonsumgewohnheiten anzupassen.

Strafedurch die Mittelschicht


Jorge Bidartbeispielsweisegehtnur noch
am Donnerstag einkaufen,wenn die
neustenWochenaktionen und Sonder-

angebote im Supermarkt in denRegalen
stehen.Davor, so sagt der 40-Jährige, stu-
diere er jeweils im Internet, was es wo zu
den besten Preisen gebe. Restaurants be-
sucht er nach eigenen Angaben mittler-
weile noch einmal im Monat.Vor noch
gar nicht so langer Zeit ass er dreimal
dieWoche auswärts.Bidart war bis vor
wenigen Monaten noch stolzer Besitzer
zweierBars in Buenos Aires. Doch die
«Macrisis», wie er sie nennt, habe ihm
«das Genick gebrochen».
DieVerträge, die er einst in Dollar
abgeschlossen hatte, konnte er ange-
sichts der starken Abwertung desPeso
nicht mehr einhalten. Hinzu kamen
schwindelerregend hohe Elektrizitäts-
kosten: «900 Prozent teurer war die
Rechnung zum Schluss», empört sich
Bidart. Die Preiserhöhung ist darauf zu-
rückzuführen, dass dieRegierung im
Rahmen ihres Sparkurses die Subven-
tionen für Strom, Gas und öffentlichen
Tr ansport zusammengestrichen hat.Vo r
sieben Monaten schloss Bidart dann zu-

nächst dieeineBar, fünfMonate später
die andere. 40 Angestellte hat er entlas-
sen. Er selber schlägt sich nun mit Ge-
legenheitsjobs durch.
SeinFallveranschaulicht, wie die
Krise nicht nur die Armen ärmer macht
und die untere Mittelschicht verarmen
lässt, sondern auch wie sie den Lebens-
standard von Argentiniern in Mitlei-
denschaft zieht, die sich einst kaum
Gedanken über ihreFinanzen machen
mussten.Als «Strafe durch die Mittel-
schicht» bezeichnet Macris Kandidat
für dieVizepräsidentschaft die Schlappe
bei denVorwahlen denn auch richtiger-
weise.Viele sind frustriert und fühlen
sich durch die Krise gelähmt.
«Die Machtlosigkeit setzt mir am
meisten zu», räumt ein sichtlich nie-
dergeschlagenerTr aumatologe ein. Er
arbeitet den ganzenTag,hat immer
weniger Geld zurVerfügung und kann
nichts daran ändern. Als Arzt erlebt
er zudem, wie immermehr Patien-
ten aus finanziellen Gründen von der
medizinischen Privatversorgung ins
öffentliche Gesundheitssystem wech-
seln.Auch importierte Prothesen oder
Implantate,die in Dollar bezahlt wer-
den,können sich viele nicht mehr leis-
ten. Er sieht sich deshalb gezwungen,
aufnationale Modelle zurückzugrei-
fen, die seiner Ansicht nach nicht dem-
selben Qualitätsstandard entsprechen.
Eine Unternehmerin weiss nicht, ob sie
imkommendenJahr die Privatschule
ihrer beidenTöchter noch zahlen kann,
und drehte diesenWinter vorsorglich
die Heizkörper in ihrem Haus ab, um
Geld zu sparen.

«Glücklicherweise» kinderlos


Jorge Bidart sagt, er sei in diesen schwie-
rigen Zeiten froh, kinderlos zu sein. In
seinem Umfeld sehe er, wie schwer
Familien zu kämpfen hätten. Einige wür-
deninzwischen ihr Auto in der Garage
lassen, weil das Benzin zu teuer sei. Er
muss nur auf sich schauen und Ende
Monat durchkommen. Die jährlichen
Ferien im Norden Brasiliens lässt er
heuer erstmals aus,auf ein neuesAuto
verzichtet er ebenso. Ob sich nach den
Präsidentschaftswahlen etwas ändern
wird? Bidart sagt entschieden, er glaube
schon länger nicht mehr an diePolitik
und gehe darum nicht an die Urne.
Marisa Berguñan hingegen ist über-
zeugt, dass am 10. Dezember Alberto
Fernández in den Präsidentenpalast
ziehen wird und danach alles besser
wird. «DieVeränderungkommt», ist sie
überzeugt.Viele seien aber nochimmer
blind, sagt sie, auf die Macri-Wähler ver-
weisend, die in den vergangenenJahren
bei der Essensausgabe gelandet sind.
Und was, wenn sich dieWirtschaft im
Land auch unter einemneuen Präsiden-
ten nicht erholt? Berguñan verunsichert
dieFrage. Sie weicht ihr zunächst aus,
gibtdann aber zu, dass sie darüber nicht
nachdenken möge.
BILDER NZZ
Marisa Berguñan
Mutter
von vier Kindern

Lidia López
Mitarbeiterin
einer Suppenküche Alle Wirtschaftsindikatoren auf Talfahrt

ann. Buenos Aires·Im November 20 15
gewann derkonservative Mauricio Macri
die Präsidentschaftswahl in Argentinien.
Er übernahm von seinerVorgängerin,
der linkspopulistischen CristinaFernán-
dez de Kirchner, einLand in der Krise.
Macri versprach, mit marktwirtschaft-
lichenReformen die Armut auszumer-
zen und die Inflation einzudämmen. Bei-
des gelang ihm nicht:Weil sich die Krise
weiter zuspitzte, sah er sich gezwungen,
beim InternationalenWährungsfonds
(IMF) einenRettungskredit inHöhe von
57 Milliarden Dollar zu beantragen. Im
Gegenzug dafür musste dieRegierung
harte Sparmassnahmen durchführen,
welche die Bevölkerung stark in Mitlei-
denschaft zogen. Nach knapp vierJahren
Macri sind die wichtigsten wirtschaft-
lichen Indikatoren desLandes schlech-
ter,als sie es jemals unter Kirchner ge-
wesen waren:Arbeitslosigkeit,Teuerung
und Armut sind stark angestiegen, der
Wertverlust desPeso hat sich beschleu-

nigt. Entsprechend schlecht sind viele
Argentinier inzwischen auf den Präsi-
denten zu sprechen.
Bei denVorwahlen am 11.August
siegte Macris peronistischer Heraus-
forderer AlbertoFernández denn auch
klar mit 47 Prozent. Macri holte nur 32
Prozent der Stimmen. DerPesobrach in-
folgedessen stark ein. Bei den Anlegern
geht die Angst um, dass der erwartete
Wahlsieg vonFernández und Kirchner
Ende Oktober den Protektionismus zu-
rückbringen werde. Macri musste zu-
dem eingestehen, dass seineRegierung
nicht in derLage sein werde,die Schul-
den fristgerecht zu begleichen.Dies löste
bei Investoren zusätzlichePanik aus. Die
Regierung führte kurzerhand Kapital-
kontrollen ein, um denPeso zu stabili-
sieren.Damit vollzog sie eine bemer-
kenswerteKehrtwende: Genau solche
Kontrollen schaffte Macri umgehend ab,
nachdem er vor vierJahren das Präsiden-
tenamt von Kirchner übernommen hatte.

Zwei Frauen warten auf Einlass in die San-Cayetano-Kirche in BuenosAires, wo sie für Wohlstandund Beschäftigung betenwollen. NATACHA PISARENKO / AP

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