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REVUE
LA CHEMINÉE(Der Kamin)
circa 1880–1885, Monotypie auf Papier, 43× 65 cm
oben:DEUX FEMMES (SCÈNE DE MAISON CLOSE)(Zwei Frauen (Szene aus dem Bordell))
1877–1879, Monotypie auf Papier, 25× 29 cm
M
it fünfzig dachte Degas, seine
Karriere sei am Ende. Seine
immer schlechter werdenden Au
gen wurden zur Quelle ständiger Pein.
Wenn er morgens in Eile etwas las, konnte
er nicht anfangen zu arbeiten. „Ich gleite
rasend schnell einen Abhang hinunter, ohne
zu wissen wohin, eingerollt in viele Pastelle,
als wären sie Packpapier“, gestand er Bar
tholomé. Aber er fand immer wieder seinen
Weg hinauf, und mit siebzig konstatierte
er: „Man muss eine hohe Auffassung haben,
nicht davon, was man tut, sondern was
man eines Tages vielleicht noch tun wird.
Ohne das gibt es keinen Grund zu
arbeiten.“
Degas’ Neugier und sein Verlangen, die
Möglichkeiten der Malerei immer weiter zu
erforschen, trieben ihn sein Leben lang an.
Doch um die ganze Tragweite zu begreifen,
mit der er sich neue Techniken aneignete
und ihnen nie gesehene Seiten abgewann,
müssen wir uns eine besondere, bis heute
kaum ausgestellte und weithin unterschätzte
Werkserie ansehen: die Monotypien. Vor
drei Jahren widmete das MoMA der komplet
ten Gruppe eine Schau, davor hatte die
letzte Ausstellung 1968 im Fogg Museum des
Harvard Art Museums stattgefunden. Bis
heute gibt es kein Museum in Europa, das sich
dieser Idee angeschlossen hätte.
Die experimentelle Methode der Mono
typie, also des „unikatären“ Drucks, war
wie für Degas geschaffen. Er beschrieb sie als
eine Zeichnung mit fetthaltiger Tinte, die
in eine Druckerpresse geht. Sie ist ein Druck,
von dem im Prinzip nur eine einzige Kopie
existiert, auf die in seinem Fall weitere fol
gen. Das Resultat liegt irgendwo zwischen
einer Originalzeichnung und einem Druck,
ist aber tatsächlich weder das eine noch das
andere. Auf einer harten, glatten Oberfläche
(üblicherweise einer Kupfer oder Zink
platte, aber auch auf Celluloidfolie) wird Tin
te aufgetragen, in die Degas mit einem Pinsel
oder Stift, mit dem Ende irgendeines Ar
beitsgeräts, mit der Fingerspitze oder sogar
mit einem Stofffetzen Linien und Silhouet
ten hineinzeichnete. Danach legte er ein Blatt
feuchtes Papier auf die Platte und zog sie
durch die Presse.
Der so entstandene Abzug hatte einen
dunklen Hintergrund. Zeichnete er statt
dessen mit Tinte direkt auf die Platte, war das
Ergebnis hell. Im Gegensatz zu der übli
chen Praxis gab sich Degas nicht mit nur ei
nem Abzug zufrieden. Er druckte einen
zweiten, sogenannten Abklatsch, der sehr viel
heller war, was er mit Pastellfarbe noch ver
stärkte. Und so transformierte er die Mono
typie immer weiter, nicht selten veränderte
er das Original vollständig.
Um seine Methode zu verfeinern, stürz
te sich Degas enthusiastisch in allerlei
Erkundungen. Der Drucker Marcellin Des
boutin beschrieb ihn in dieser Zeit so:
Degas „ist kein Freund, kein Mann, kein
Künstler mehr! Er ist eine Zink oder
Kupferplatte, von Druckertinte geschwärzt,
und Platte und Mann kleben durch die
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