ATTENTE D’UN CLIENT (((Auf einen Kunden wartendAuf einen Kunden wartend)
1877–1879, Pastell über Monotypie auf Papier, 16× 12 cm
TEXT: ANKA MUHLSTEIN
ÜBERSETZUNG: GESINE BORCHERDT
Presse zusammen, deren Mechanismus ihn
vollständig geschluckt hat!“
Wie unterschiedlich mit der Monotypie
ein einziges Thema bearbeitet werden kann,
zeigt nicht zuletzt die Vielfalt an Akten, die
Degas auf diese Weise schuf. Einige wir
ken wie Karikaturen, anderen entspringen
wilden Vorstellungen, wieder andere sind
ruhiger und oftmals tief berührend. Frühe
Beispiele auf hellem Grund zeigen Frauen
in Bordellen, die in einer anspielungsreichen
Kulisse aus Spiegeln, Sofas und ungemach
ten Betten eher komisch als obszön wirken.
In einigen Fällen erhebt sich Degas über
das Elend solcher Situationen, indem er sie
als Slapstick Comedy imaginiert. Auf dem
Bild La Fête de la PatronneLa Fête de la PatronneLa Fête de la Patronne (Der Namenstag der (Der Namenstag der
Zuhälterin) überreichen die Mädchen, nackt
bis auf Strümpfe und Schuhe, ihrer Zuhäl
terin Blumen, die im billigen schwarzen
Kleid eher aussieht wie eine alte Köchin, und
überschütten sie mit Küssen.
Anders als die pornografischen Foto
grafien, die in dieser Epoche weit verbreitet
sind, will Degas mit seinen Monotypien
nicht unbedingt das Verlangen des Betrachters
provozieren. Das einzige wirklich erotische
Bild in der Serie ist das zweier Frauen: Deux
Femmes (Scène de Maison Close) (Zwei Frauen
(Szene aus dem Bordell)). Im grauen Halb
schatten liegt eine Frau auf dem Rücken,
eine andere beugt sich ungestüm zur ihr herab.
B
ei den Monotypien auf dunklem Grund
vermeidet Degas alles Anekdotische
und alle eindeutigen Anspielungen auf
das Bordell. Seine Darstellungen werden
brutaler. Der Kontrast zwischen Schatten und
Licht und der extreme Fokus auf schwarze
Töne bewirken Formen, die aussehen, als kä
men sie direkt aus einem Albtraum. Ver
störende, oftmals perverse Posen tauchen auf,
aber da wir nie das Gesicht der Frau sehen,
wohnt den Bildern ambivalente Schweigsam
keit inne.
Degas weigerte sich zeitlebens, seine
Monotypien öffentlich auszustellen. Vielleicht
ja auch, weil sie einladen, seiner gestörten
Beziehung zu Frauen auf den Grund zu ge
hen. Ein obsessives Thema in seinem Werk,
bei dem Anziehung und Abscheu ineinander
übergehen. Der Misanthrop räumte zwar
ein, dass es gelegentlich „unglaublich schwer
ist, alleine zu leben, ohne Familie. Ich hätte
nie für möglich gehalten, dass es mich so viel
Leiden kosten würde“. Dennoch versuchte
er nie, sich aus seiner Situation zu befreien.
Andere Akte – zärtlicher, sensibler
gemalt, besonders die Serie Coucher oderoderoder Lever Lever
(Schlafengehen oder Aufstehen) – machen
noch einmal deutlich, bis zu welchem
Grad es Degas gelang, das eine und zugleich
das andere zu tun. Die Frauen wirken hier,
als würden sie durch ein Schlüsselloch be
obachtet. Keusch tragen sie ihre Nachtmützen
und erinnern eher an Darstellungen aus dem
Holland des 17. Jahrhunderts als an spötti
sche oder gar erotische Ansichten der Pariser
Unterschicht.
Es sind dann vor allem die Landschaften,
in denen sich der Künstler bei seinen subti
len Veränderungen und Verwandlungen selbst
übertrifft. Sie sind eine wahre Entdeckung,
weil man Degas meist als Maler der Hut
macherinnen, Wäscherinnen, Tänzerinnen
und der Pferderennen kennt. Was zu seinen
Lebzeiten nicht anders war. Degas’ engste
Freunde fielen aus allen Wolken, als sie 1892
von den 21 Landschaften erfuhren, die er
gerade für eine Ausstellung zusammentrug –
hatte er doch vorher nie auch nur eine ein
zige gemalt. Stets hatte er sich über die Maler
unter freiem Himmel lustig gemacht.
Und niemand hatte ihn je eine Skizze
an der Pferderennbahn machen sehen.
Stattdessen erzählte er Halévy, dass er wäh
rend sommerlichen Bahnreisen in der
Zugtür gestanden hätte, „und wie der Zug
so dahinfuhr, konnte ich die Dinge vage
erkennen. Das gab mir die Idee, Landschaferkennen. Das gab mir die Idee, Landschaferkennen. Das gab mir die Idee, Landschaf
ten zu malen“.
Seine Darstellungen von Feldern und
Himmeln entstanden, ohne dass er jemals
an den Orten gewesen war, die ihn inspirier
ten. Vielmehr blieben ihm die Natur
impressionen im Gedächtnis, die er während
einer Fahrt mit der Kutsche oder häufiger
noch mit der Eisenbahn registrierte. Sein
Freund Bartholomé erinnert sich an eine
Reise, die er gemeinsam mit Degas ins Bur
gund unternahm. Sie besuchten Pierre
Georges Jeanniot, der eine Druckerpresse
bei sich im Atelier hatte. Und dort begann
Degas, Monotypien von Landschaften zu
produzieren, „ganz so, als wären sie noch
direkt vor seinen Augen“.
Die Technik der Monotypie eröffnete
Degas neue Horizonte, und Wiederholung
und Transformation spielen dabei eine gro
ße Rolle. Nirgendwo wird dies so anschau
lich wie in den Landschaften. Nun benutzte
der Maler auch keine schwarze Tinte mehr,
sondern farbige und vor allem flüssigere,
deren Verlauf er beim Drucken nicht kont
rollieren konnte, was dem Zufall noch
mehr Raum ließ. Nehmen wir Le Cap FerratLe Cap FerratLe Cap Ferrat, ,
eine Form, die sich aus ungemein zarten
Impressionen zusammensetzt: Haben wir es
mit der erfundenen Karte einer Halbinsel
zu tun, einem rätselhaften Fisch, oder einfach
einem Farbfleck, der sämtliche Interpretati
onen offenlässt? John Updike schrieb 1994,
als er die Landschaften im Metropolitan
Museum sah, Degas’ „formale Methoden ge
hören zum 19. Jahrhundert, seine künstle
rische Schonungslosigkeit und Freiheit zum
20.“. Degas irgendwo einzuordnen, ihn in
eine kunsthistorische Schublade zu stecken,
das zeigen die Monotypien einmal mehr,
ist einfach unmöglich.
Degas beschrieb die
Monotypie als eine
Zeichnung mit fetthaltiger
Tinte, die in eine
Druckerpresse geht
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