W
indhunde und ihre Artgenossen
gehören zum Bild der Upper
Class Englands, so wie handge
nähte Schuhe, röhrende Cabrios, gruselige
Schlösser und gestutzter Edelrasen. Insofern
stellt Chris Killips Porträt aus Hudders
field, Yorkshire, einen Hybrid dar. Es zeigt
einen nahezu alterslosen Mann, der sich
in sein Schicksal gefügt zu haben scheint. Die
Hunde sind geliehen, zumindest im Gestus
der Klasse.
Während die Spitzen der Gesellschaft es
vorziehen, niemals zu arbeiten oder im
Parlament zu schlafen, ist die gut hundertjäh
rige Geschichte des britischen Proletariats
allein auf die Arbeit gebaut, den sozialen Zu
sammenhang des Schichtbetriebs, die frivole
Uniformität des Amüsements. Mit dem poli
tisch erzwungenen Abschied von den großen
Industrien ist das heroische Selbstbild des
Arbeiters zerfallen und einer flächendecken
den Ratlosigkeit gewichen.
Chris Killip wurde 1946 auf der Isle of
Man geboren, eine Insel zwischen England
und Irland, deren langsam getaktetes, rural
maritimes Leben er in rührenden Alltags
studien festgehalten hat. Vor diesem Hinter
grund muss ihn die Erosion des Sozialen
in den trüben Industrierevieren umso mehr
angesprungen haben. Er wurde aber nicht
zu einem Reporter des Elends, sondern suchte
stattdessen nach Sinnbildern, die eine
gewisse historische Evidenz in sich tragen.
Dafür benutzt er eine Plattenkamera, die
eigentlich für soziales Terrain zu schwerfäl
lig ist. Aber früh hat Killip sich von der
Statik dieser Kamera freigemacht; er ist also
ein Meister, ohne dass man es sieht.
Der Windhund zeigt routiniert sein
Profil, er weiß, was sich gehört. Sein Herr oder
Freund lässt ihn nah an sich heran, sodass
sich hinter dem Bild ein anderes auftut: So
hält man eine Gans oder einen Fasan; für
Alice im Wunderland ist es der Flamingo.
Die Treibjagdhunde scheinen den Regel
bruch zu bemerken, sie schieben sich mit weit
ausgestellten Ohren ins Bild. Die Makellosig
keit und Konformität der Hunde führt
ikonologisch zu englischen Gemälden. Die
Jagd galt bis ins 19. Jahrhundert als selbst
ständiges Genre.
Jenseits der Klischees trifft einen das
stille Porträt dieses Mannes um so stärker:
Dreitagebart, die Mütze nach hinten ge
rutscht, der Kragen eines Arbeiterhemds über
dem Rollkragen, das Jackett von Tierpfoten
angeschmutzt. Seine ungleichen Augen
haben sich daran gewöhnt, zwei Möglich
keiten vor sich zu sehen; eine davon enthält
noch einen Funken Hoffnung. Das Bild
aber verhandelt nicht dies, es sind nur Ele
mente seiner Beschreibung. Es zeichnet
nämlich lebendig eine große Passion, auch
wenn sie – aufs Ganze gesehen – ein kleiner
Trost bleiben muss. Es liegt etwas zutiefst
Humanes darin, die Gesellschaft von Tieren
anzuerkennen. Das ist allemal besser, als
die Ungeduld der Abgehängten zu fixieren
auf die Nation und ihre vermeintliche
Souveränität; Zukunftsversprechen, die sich
sehr wohl bald addieren könnten zu einem
doppelten Verlust.
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ENCORE
DER AUGENBLICK
ULF ERDMANN ZIEGLER
CHRIS KILLIP
Whippet Fancier, Huddersfield, UK, 1973
DIE NÄCHSTE AUSGABE VON
BLAU^
ERSCHEINT
AM 30. NOVEMBER 2019
IM ZEITSCHRIFTENHANDEL
TROST IN HUDDERSFIELD
Ein Bild und seine Evidenz
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