Die Welt - 19.10.2019

(Nora) #1

29


19.10.19 Samstag, 19. Oktober 2019DWBE-HP


  • Zeit:----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DWBE-HP

DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
19.10.1919.10.1919.10.19/1/1/1/1/LW5/LW5 KFISCHE2 5% 25% 50% 75% 95%

DIE WELT SAMSTAG,19.OKTOBER2019 DIE LITERARISCHE WELT 29


Tickets unter http://www.klassikradio.de


01.11.19


München


02.11.19


Stuttgart


05.11.19


Dresden


06.11.19


Frankfurt


22.11.19


Hamburg


29.11.19


Hannover


03.12.19


Düsseldorf


06.12.19


Augsburg


13.12.19


Berlin


18.12.19


Nürnberg


JETZT


LETZTE


TICKETS


SICHERN!


ANZEIGE

W


as würde passieren, wenn man den
mehr oder minder lieben Mitmen-
schen die „ungeschminkte“ oder
„nackte Wahrheit“ direkt ins Gesicht
sagte? Die Lehre der komisch oder
grässlich verlaufenden Filme mit diesem Plot besteht da-
rin, dass die Artikulation der nackten Wahrheit den Kol-
laps aller Sozialbeziehungen zur Folge hat, weil niemand
sie ertragen kann.

VON ECKART GOEBEL

Ganz ohne Lüge geht es nicht, und man verlässt das Ki-
no mit besorgtem Seitenblick. Wir nennen die vielleicht
unvermeidliche Lüge Rücksicht, Diplomatie und Um-

gangsform. Wer die nackte Wahrheit ausspricht, ist
schnell allein und, wie es treffend heißt, bloßgestellt, zu-
mal wenn er oder sie auch alles über sich selbst ausplau-
dert. Amerikaner nennen das TMI: Too Much Information.
Andererseits gibt es das Märchen von des Kaisers neuen
Kleidern. Bei Hans Christian Andersen preisen die servi-
len Untertanen die nicht vorhandenen Kleider des nackt
einherstolzierenden Kaisers, und es bleibt einem kleinen
Kind überlassen festzustellen: „Aber er hat ja nichts an!“
Es ist der von heißer Scham übergossene Kaiser
selbst, den der Verdacht beschleicht, dass das Kind die
reine Wahrheit spricht. Die kindliche Wahrheit ist bis
heute hilfreich geblieben. Es entlastet noch immer un-
gemein, sich Autoritätsfiguren nackt und schwabbelnd
vorzustellen.

Das kleine Kind Andersens kommt bei Hans Blumen-
bergzu Wort. Ebenso jenes Mädchen, das seine Mutter
fragte, ob Gott denn wirklich überall zugegen sei, „und auf
die bejahende Antwort entrüstet entgegnete, das finde sie
aber unanständig“. Dieses Mädchen, das den allsehenden
Gott als zudringlich rügt, hat seinen Auftritt bei Friedrich
Nietzsche in einem Aphorismus mit dem Titel „Wink für
Philosophen“.
Dem maliziösen Wink Nietzsches ist Hans Blumenberg
gefolgt und hat über viele Jahre hinweg an dem Fragment
gebliebenen, wunderbaren Buch „Die nackte Wahrheit“
geschrieben, das Rüdiger Zill nun sorgfältig aus dem
Nachlass des 1996 verstorbenen Denkers ediert hat.
Blumenberg gehört zu den am besten lesbaren und un-
terhaltsamsten Philosophen aus der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, und das nicht nur weil seine Prosa melodiös,
hinreißend schön und er ein Meister pointierten Erzählens
ist, der den Erkenntniswert von Anekdoten auszumünzen
weiß. Die Lesbarkeit Hans Blumenbergs hat auch mit sei-
ner Passion für den Inbegriff poetischer Sprachfiguren zu
tun, mit seinem Forschungsgegenstand: der Metapher.
Er bietet die subtile Analyse langlebiger Bilder, die un-
ser Denken und Leben seit Jahrhunderten bestimmen,
und dies meist ohne dass es uns bewusst wäre: „Die Meta-
pher ist weit klüger als ihr Verfasser“, schreibt Lichten-
berg. Sein Leser Blumenberg nennt die Sprachfiguren,
mit denen wir unser Leben strukturieren, um es uns ver-
ständlicher und weniger beängstigend zu machen, Da-
seinsmetaphern.
Die Rede vom „Staatsschiff“ ist eine solche Metapher
oder auch die Vorstellung, unser Leben sei eine „Reise“.
Viele Menschen verreisen gern, und so liegt es nahe, unser
Leben insgesamt als „Lebensreise“ zu sehen. Der Vorteil
solcher Charakteristik ist, dass mit diesem tröstlichen
Bild dem Leben Zweck und Ziel unterstellt werden. Es gibt
ein Woher und Wohin; alles wird zum Abenteuer, zur Se-
quenz intensiver Erlebnisse, die zuletzt Sinn ergeben.
Doch ist die Charakteristik des Lebens als Reise trüge-
risch. Unser Leben ist, sieht man genauer hin, absurd, be-
stimmt von lächerlichsten Zufällen, es hat vorab kein
Ziel und ihm liegt kein höherer Plan zugrunde. Vielmehr
robben wir äußerst kurzfristig auf einem lauwarmen Ge-
steinsbrocken herum, der in einer unendlichen Schwärze
kreiselt.
Das Aufdecken einer trostreichen Illusion, die von einer
starken Metapher wie der Lebensreise gestiftet wird, die
als Hülle oder Kleid fungiert, ist ihrerseits ein Beispiel für
die Entblößung nackter Wahrheit. Warum wollen wir die
Hülle abreißen? Wie viel Wahrheit erträgt der Mensch, oh-
ne daran zugrunde zu gehen? Auch in einer Welt, die sich
von der demütigen Perspektive emanzipiert, dass das Wis-
sen um die ganze Wahrheit das Privileg Gottes sei, bleiben
diese Fragen drängend.
Im neuen Buch Blumenbergs geht es um die tief sitzen-
de Ambivalenz, die unser Wahrheitsstreben bestimmt. Die
Rede von der nackten Wahrheit ist latent obszön, zwei-
deutig. Und wer nackt ist, friert. Wenn jemand buchstäb-
lich nackt gesehen wird, spricht man zuweilen spöttisch
von „nackten Tatsachen“ und dreht damit die Metapher
wieder ins wahre Leben zurück. Man will nicht alle nackt
sehen müssen.
Einerseits wollen wir die Wahrheit wissen, andererseits
ist nichts enttäuschender, furchtbarer als die nackte
Wahrheit über andere, über uns selbst und die Welt ins-
gesamt. Dem rücksichtslos entblößenden Blick ist die
Welt nichts als ein groteskes Nahrungskettchen, das sich
im Zeichen der Pein selbst verschlingt. Folgerichtig be-
ginnt Blumenbergs Buch mit eindringlichen Kapiteln zu
den großen Illusionszerstörern und Entblößern, mit
Nietzsche, Freud, Adorno und Kafka.
Hier gibt es gleich die erste Überraschung, denn Nietz-
sche wird nicht nur als kompromissloser Vollender der
Aufklärung geschildert, der erkannt hat, dass das Reich
des Guten exakt dort beginnt, wo unser Scharfsinn nicht
mehr hinreicht. Nietzsche begegnet uns bei Blumenberg
als einer, der die Gegenrechnung aufmacht: Seinem Den-
ken liegt das Axiom zugrunde, „dass wir verachten, was
wir durchschauen“. Nietzsche weiß, so Blumenberg, dass
die Wahrheit enttäuscht, dass es einen lähmenden Er-
kenntnisekel gibt, den er in Hamlet verkörpert sieht.
Daher stellt sich auch mit Blick auf Freud und die Psy-
choanalyse, der das folgende Kapitel gilt, die bange Frage:
„Tut es gut, sich selbst zu erkennen?“
So zeichnet sich das Grundmuster des Buches ab. Es
gibt ein beständiges Schwingen zwischen Entblößung und
Verhüllung, gierigem Wahrheitsdrang und der Notwendig-
keit, die Wahrheit diskret zu kaschieren; etwas Rouge
schadet ebenso wenig wie eine charmante Ausrede.

In einer lockeren Folge von historisch in die Antike zu-
rückreichenden Studien zum Gebrauch der Metapher von
der nackten Wahrheit bietet Blumenberg eine Meditation
über die Frage, wie viel von jener Wahrheit den Menschen
zumutbar ist, nach der sie sich doch so sehr verzehren.
Die für die Heilung einer Neurose oder Hysterie bestehen-
de Notwendigkeit etwa, die dem Leiden zugrunde liegen-
den libidinösen Konflikte freizulegen, kann, so erwägt das
Freud-Kapitel, umschlagen in „Enthüllungs-“ und „Be-
kenntnishysterie“, in eine unendliche Analyse. Und wer
will schon wissen, dass das Küssen auf die Angewohnheit
unserer evolutionären Vorfahren zurückgeht, einander
vorgekaute Nahrung anzubieten, um soziale Bindungen zu
stärken? Das ist TMI, die man wieder vergessen muss.
Doch bezieht sich die Rede von der nackten Wahrheit
nicht nur auf die von der Aufklärung zu enthüllenden Ob-
jekte der Erkenntnis. Es geht immer wieder auch um ris-
kante Selbsterfahrung, wie Blumenberg an Franz Kafka
zeigt, über den dessen Geliebte Milena Jesenská schrieb:
„Er ist wie ein Nackter unter Angekleideten.“ Kafka sei, so
schreibt sie weiter, „absolut unfähig zu lügen, so wie er
unfähig ist, sich zu betrinken“. Das radikal verschriftlichte
Leben Kafkas, erläutert Blumenberg, webt nicht den Text
als Kleid, um die Blöße zu bedecken, sondern steht im Zei-
chen einer Wahrhaftigkeit, die gegen die Welt als Betrug
aufbegehrt: „Sie ist es, mit der sich nicht leben lässt. Und
die Nacktheit des Leibes ist ihre Metapher.“
Es ist primär die Leiberfahrung, die der Metapher von
der nackten Wahrheit ihre Intensität verleiht, was jeder
weiß, der sich einmal unterm gnadenlosen Neonlicht im
Spiegel eines Hotelzimmers gesehen hat. Nietzsche er-
kennt, dass wir uns der Nacktheit letztlich nicht der ande-
ren wegen schämen, sondern weil sie enthüllt, dass wir als
Tier ein jämmerliches Mängelwesen sind. Der Mensch ist
die triste Nacktkatze der Natur. Wir schämen uns vor dem
Blick der in schöne Pelze gehüllten Tiere, worüber auch
Jacques Derrida glanzvoll geschrieben hat, den der Blick
einer Hauskatze schockierte, die ihn nass und nackt aus
der Dusche treten sah.
Ein neues Extrem erreicht die Reflexion unserer Nackt-
heit historisch in jenem Moment, in dem die Medizin be-
ginnt, die Haut des nackten Leibes nicht mehr als ein un-
antastbares Letztes zu betrachten, und ihn zu öffnen be-
ginnt: „Anatomie und Physiologie wie Pathologie bahnten
sich den Weg durch die Leibesoberfläche und ließen neue
Grade von Nacktheit sichtbar werden.“
Die in der Leichenhalle fortan zu frösteln beginnende
Neuzeit trifft sich, so zeigt Blumenberg virtuos, mit den
religiösen Reflexionen Pascals und Kierkegaards im Zei-
chen der Blöße: „Die Nacktheit des Menschen ist für Pas-
cal die nach dem Sündenfall entdeckte Verlegenheit und
jede daraufhin fällig gewordene Art der Bekleidung Aus-
druck sowohl für deren Notwendigkeit als für deren Be-
liebigkeit.“
Alles, was wir tun, Staat, Sitte, Kunst, verhüllt nur, dass
wir im Stand der Gottferne leben, und deshalb interessier-
te sich ausgerechnet Pascal so intensiv für die Mode.
Großartig auch das Kapitel zu Sören Kierkegaard, der der
Nacktheitsmetapher eine verblüffende Wendung gibt: Die
Wahrheit ist nackt, und deshalb muss auch „der Wahr-
heitssucher nackt sein“, alles Ephemere abstreifen, um
zum unverhüllten Wesen seiner Existenz vorzudringen.
Das gesunde Gegengewicht zur zerknirschten Sorge um
unseren armen Sünderleib bietet zum Glück der glasklare
Voltaire, der mit einem Lächeln die Erotik der Aufklärung
akzentuiert. Warum in Sack und Asche gehen und sich
nicht vielmehr am nackten Körper und der Erkenntnis
sinnlich freuen? „Der Schleier hatte die Natur entstellt
und hässlich gemacht; ihre fast unverhüllte Darstellung
hatte nicht nur ein falsches Bild berichtigt, sondern auch
die Menschen zu Liebhabern der Natur gemacht.“
Heute ist das seit der Antike zu beobachtende Schwin-
gen zwischen Enthüllen und Verbergen in der zerreißen-
den Spannung zwischen der totalen Entblößung und der
bösen Verschleierung erstarrt. Deshalb ist es ein Glück,
dass das Buch Blumenbergs „Die nackte Wahrheit“ nun
erschienen ist. Man geht aus der Lektüre mit einer gestei-
gerten Sensibilität für die Frage hervor, wie wir mit unse-
rem Entblößungs- und Enthüllungsfanatismus heute um-
gehen wollen, dem die dreckige Welle der Fake Newsbe-
ständig entgegenschlägt. Von Hans Blumenberg kann man
eine doppelte Bewegung der Erkenntnis lernen: Gesagt
werden muss, dass der Kaiser nackt ist, aber dann sollte
ihm bitte jemand einen Mantel umhängen, um uns den
Anblick seiner Blöße zu ersparen.

Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit.
Suhrkamp, 199 S., 20 €.

Hans Blumenberg
(1920 bis 1996) gilt
heute als einer der
bedeutendsten deut-
schen Philosophen
der Nachkriegszeit.
In Büchern wie
„Arbeit am Mythos“
oder „Schiffbruch
mit Zuschauer“
brillierte der
große Metaphern-
forscher
überdies als Stilist

ENTHÜLLEN SIE


JETZT NICHTS


Erst der Leib, dann die Tatsachen:


Hans Blumenbergs nachgelassener Essay


„Die nackte Wahrheit“ weiß, wie viel


Aufrichtigkeit wir wirklich ertragen


PICTURE-ALLIANCE/ DPA/ UNIVERSITAET MÜNSTER

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2019-10-19-ab-22 2dd4ee8fe593fed5467e953d1e57646c

UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws

Free download pdf