Die Welt - 19.10.2019

(Nora) #1

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19.10.19 Samstag, 19. Oktober 2019DWBE-HP


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32 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG, 19. OKTOBER 2019


lungen und Projektionen anderer Menschen
zu befreien. Bei allem Respekt für Whitman
werde ich ihn bitten, wieder Platz zu neh-
men und eine andere Dichterin des 19. Jahr-
hunderts zur Verteidigung der Fiktion in den
Zeugenstand rufen. Emily Dickinson:
Ich messe jedes fremde Leid
mit prüfend scharfem Blick –
ob es so schwer wie meines ist –
oder leichter wiegt.
Das kommt dem Prozess der Erschaffung
fiktionaler Menschen bereits ziemlich nahe.
Es beginnt als Bewusstsein in der Welt: se-
hen, zuhören, bemerken. Eine Art Achtsam-
keit, die mit Fragen einhergeht. Wie fühlt es
sich an, dieser Mensch zu sein? Zu fühlen,
was er fühlt? Kann das, was ich selbst emp-
finde, mir den Weg zu einer Vorstellung da-
von weisen, was der andere empfindet? Et-
was später im selben Gedicht, bewegt sich
Dickinson vom Abstrakten zum Konkreten:
Das Leid der Kälte – das Leid der Not –
die Art „Verzweiflung” genannt –
Verbannung aus heimatlichem Kreis –
So nahe dem Heimatland –
Im Geiste geht sie die Möglichkeiten
durch, nur um dann später, zum Ende des
Gedichts, einzugestehen, dass eine solche
Aufzählung der Möglichkeiten niemals einen
Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann,
wobei das eben nicht bedeutet, dass sie sinn-
los wäre:
Obgleich ich nicht erraten kann –
wie es wirklich war
durchzuckt mich Tröstung, wenn ich geh
vorüber an Golgatha –
Des Kreuzes Moden betrachte ich –
wie man es trägt als Kleid –
und fasziniert vermute ich
so manche Ähnlichkeit.
Anstelle der Hybris, die mit der Whitman-
’schen Vorstellung der Fassung einhergeht,
bietet Dickinson etwas anderes: die Faszina-
tion, die von der Mutmaßung ausgeht. Die
Mutmaßung unterstellt nicht, dass sie „rich-
tig liegt“. Ebenso wenig wie ich damals ange-
nommen habe, „richtig zu liegen“, als ich in
meinem ersten Roman die Leben einer Reihe
unterschiedlichster Menschen dargestellt
habe. Und doch fand ich es faszinierend an-
zunehmen, dass einige der Gefühle, die diese
Menschen empfanden – der Verlust des Hei-
matlandes, die Beklemmung, die mit der As-
similation einhergehen kann, die Auseinan-
dersetzungen zwischen dem Glauben und
seinem Gegenteil – wenigstens eine flüchtige
Ähnlichkeit mit Gefühlen hatten, die ich
selbst schon einmal gehabt hatte oder mir
vorstellen konnte. Dass ihre Sorgen und mei-
ne eigenen nicht ganz ohne Bezug zueinan-
der waren.
Die Freude, die in der Entstehung dieses
Buches steckte – und gleichzeitig auch das
Risiko daran –, war die Unsicherheit. Ich hat-
te keinen Krieg erlebt, war noch nie in Ban-
gladesch oder im Jamaika des frühen 20.
Jahrhunderts gewesen. Ich selbst war keine
Immigrantin. Würde es mir gelingen, die Le-
serin dazu zu bewegen, an diese imaginierten
Menschen, die ich in fiktionalen Szenarien
inszeniert hatte, zu glauben? Vielleicht, viel-
leicht auch nicht. Das hängt von der Leserin
ab. Denn es steht ihr jederzeit frei zu sagen
„Das glaube ich nicht“, wenn sie sich mit die-
sem oder jenem Gefühl, mit dieser oder je-
ner Handlung konfrontiert sieht. Romane
sind Maschinen, die falsche Glaubwürdigkeit
erzeugen, und damit steht und fällt auch ihr
Erfolg. Ich selbst kann den ersten Satz eines
Romans lesen und sagen: „Dir glaube ich
nicht.“ Und nicht wenige Leser werden sich
mit demselben Gefühl von „Zähne zeigen“
abgewandt haben.
Was verbindet mich mit Olive Kitteridge,
einer bissigen, alten, weißen Frau, die ihr
ganzes Leben in Maine verbracht hat? Und
doch sollte sich zeigen, dass ihre Bekümmer-
nisse den meinen ähneln. Nicht alle von ih-
nen. Das Buch zeigt keine perfekte Abbil-
dung von mir – mir ist noch nie eines begeg-
net, dem das gelungen wäre, vor allen Dingen
keines meiner eigenen. Doch einige von Oli-
ves Sorgen fühlten sich an wie meine. Selbst-
verständlich könnte ich mich nach Elizabeth
Strout einer Autorin wie Toni Morrison zu-
wenden und erleben, dass unsere Sorgen und
Nöte aus offensichtlichen Gründen wie Ras-
se und soziokultureller Herkunft – jenen
zwei Aspekten, die einen so großen Einfluss
auf die Erfahrungen und damit die Sensibili-
täten eines Menschen haben – mehr Über-
schneidungen aufweisen. Doch was sich zwi-
schen mir und Olive abgespielt hat, war nicht
nichts. Auch als Leserin fasziniert mich die
Mutmaßung, dass die unterschiedlichsten
Menschen, die mir im Leben niemals begeg-
nen würden, im intimen Raum der Fiktion
Sorgen und Nöte offenbaren können, die den
meinen nicht unähnlich sind. Also lese ich.
Doch die Verteidigung des Über-andere-
Lesens scheint leichter zu sein als die des
Über-andere-Schreibens. Denn Schreiben ist
die größere Mutmaßung. Und weil wir das
ahnen, versehen wir den Akt des Schreibens
mit falschen Hürden wie der zweifelhaften
Idee, dass man in der fiktionalen Darstellung
menschlichen Verhaltens jemals absolut
„richtig liegen“ könnte. Ich verstehe die Am-
bition – tatsächlich teile ich sie sogar –, doch

was mir nicht in den Kopf will, ist wie irgend-
jemand ernsthaft glauben kann, dass dieses
Ziel erreichbar wäre. Was soll es überhaupt
heißen, wenn man sagt „Eine Bengalin würde
so etwas nie sagen!“ Oder: „Ein schwuler
Mann würde niemals so empfinden!“ Oder:
„Eine schwarze Frau würde niemals so han-
deln!“ Wie können denn solche Dinge jemals
in so absoluter Form erklärt werden, es sei
denn wir hätten bereits eine Art feststehen-
de Karikatur in unseren Köpfen? (Man sollte
hierbei bemerken, dass das Argument „Ein
weißer Mann würde niemals so etwas sa-
gen!“ fast nie auftaucht und strukturell bei-
nahe unvorstellbar ist. Warum? Weil seine
Identität darin besteht, dass ihm alle denk-
baren menschlichen Möglichkeiten offenste-
hen, nicht bloß eine klar umrissene Auswahl
einiger weniger.)
Aber vielleicht stelle ich die Frage auch
falsch herum. Das Gegenargument würde
lauten, dass, im Zusammenhang mit der
Mutmaßung, ein weitaus geringeres Risiko
für Fehldarstellungen besteht, wenn der Au-
tor und das Subjekt sich so ähnlich sind wie
nur möglich. Das Risiko der Whitman’schen
Herangehensweise besteht darin, dass Fal-
sches als Wahrheit präsentiert wird – es ist
das Risiko, in der Karikatur zu enden. Denn
jene, die anders sind als wir, blicken auf eine
lange unrühmliche Geschichte zurück, im
Zuge derer sie immer wieder versucht haben,
uns in falschen Bildern zu bannen. Und des-
halb – so lautet die Argumentation – sollten
wir, wenn wir uns schon durch Sprache er-
fassen lassen wollen, doch zumindest darauf
achten, dass diese Sprache unsere eigene ist.
In einer perfekten Welt ließe sich das Pro-
blem durch Vielfalt entschärfen. Ich kann
mir zum Beispiel keinen weißen Mann vor-
stellen, der sich angesichts von Updikes Dar-
stellung des Rabbit Angstrom in „Hasen-
herz“ reduziert oder bedroht gefühlt hätte –
doch andererseits gab es zu diesem Zeit-
punkt bereits so viele unterschiedliche Dar-
stellungen weißer Männer in der Kultur, dass
eine einzelne Darstellung im Zusammen-
hang mit der Wahrnehmung einer ganzen
Bevölkerungsgruppe nicht weiter ins Ge-
wicht fiel. Rabbit Angstrom war nicht der
weiße Mann. Er war bloß ein einzelner wei-
ßer Mann unter vielen, und so konnte Updi-
kes Darstellung dem sozialen Kapital, das der
weiße Mann an sich in Amerika besaß, keinen
Schaden zufügen. (Gleichzeitig sind die
schwarzen Männer in Updikes Büchern fast
alle Karikaturen und damit Beweis einer gro-
tesken Form der Erfassung und Reduktion.)
Als Margaret Mitchell „Vom Winde verweht“
veröffentlichte, existierten so gut wie keine
Repräsentationen schwarzer Frauen, die
nicht toxisch gewesen wären. So konnte Mit-
chell mit ihrer Darstellung der „Mammy“ un-
gleich größeren Schaden anrichten. Sie
brachte eine zusätzliche Dosis eines alten
Giftes in die Kultur, und dieses Gift lebt fort,
erreichte sogar mich, im Alter von zwölf in
meinem Winkel von London, wo ich nach ir-
gendeiner Form kultureller Reflexion suchte
und doch nur verzerrte Spiegel, monströse
Klischees, erniedrigenden Spott und Fehl-
darstellungen fand.
Wenn wir diese Vorgeschichte in Betracht
ziehen, ist es klar, dass wir Darstellungen, die
uns betreffen, durch Menschen, die nicht
sind wie wir selbst, misstrauen und fürchten.
Ebenso rational erscheint die Annahme, dass
diejenigen, die uns ähneln, sich mit ihren
Darstellungen wenigstens Mühe geben, ja,
von Liebe und detailliertem Wissen statt
Vorurteilen und Phobien getrieben sein wer-
den. Im zwanzigsten und einundzwanzigsten
Jahrhundert hat die Literatur von Frauen
und unterdrückten Minderheiten unter-
schiedlichster Art die literarische Landschaft
auf wundersame Art und Weise erweitert. So
kamen dann auch Sorgen und Nöte zutage,
die historisch entweder nicht wahrgenom-
men oder brutal unterdrückt und karikiert
worden waren.
Wir sind erpicht darauf, für uns selbst zu
sprechen. Doch in unserem berechtigten
Streben danach, die alten Machtstrukturen
einzuebnen – unsere Handlungskompetenz
zu reklamieren, wenn es um die Darstellung
unserer Identitäten geht – vergessen wir
manchmal, welch ein Mysterium jegliche
Form der Selbstheit noch immer beinhaltet.
Wir vergessen jene Komponenten des Selbst,
die nicht nur ungesehen, sondern letztlich
sogar unerkennbar bleiben, vergessen auch
jene unsichtbaren Sorgen und Nöte, die wir
möglicherweise trotz unserer vielen schwer-
wiegenden Unterschiede mit jenen, die uns
auf den ersten Blick nicht ähneln, teilen. Wir
vergessen auch, was Schriftsteller sind: Men-
schen, die Stimmen in ihrem Kopf mit sich
herumtragen und mit einer etwas unange-
messenen Neugierde auf die Leben anderer
zu kämpfen haben.
Die meisten von uns empfinden Zunei-
gung und Interesse für die Unsrigen – für
„jene, die zu uns gehören“. Und unsere Le-
ben sind keine Fiktion. Hier meine Familie.
Da meine Nachbarschaft. Mein Körper. Mei-
ne Realität. Die Fiktion als Herangehenswei-
se teilte diese Zuneigung, auch sie hatte gro-
ßes Interesse, allerdings immer durch das
Prisma der, nun ja, Fiktion. Sie interessierte
sich nicht nur dafür, wie die Dinge sind, son-
dern auch, wie sie vielleicht sein könnten.

Ich habe einmal einen Roman über einen
ausgedachten, ausgesprochen bindestrich-
reichen britisch-jüdisch-chinesischen Jun-
gen geschrieben. Ich war damals von Zunei-
gung und Interesse getrieben, einer Zunei-
gung und einem Interesse, das einem ande-
ren galt. In diesem Fall handelte es sich um
Zuneigung und Interesse an Judaismus und
Buddhismus – zwei Denksystemen, an denen
ich kein Geburtsrecht besitze. Gleichzeitig
motivierte mich die Neugierde auf diese ima-
ginierte Person Alex-Li, dessen Stimme ich
bereits in meinem Kopf hatte.
Alex-Li ist ein seltsamer, nerdiger, obsessi-
ver, melancholischer Typ. Obgleich man es
auf den ersten Blick nicht meinen würde, ist
er wahrscheinlich mehr „wie ich“ als jeder
andere Charakter, den ich je erschaffen habe.
Doch die Frage lautet: Worin besteht dieses
„wie ich“? Er sieht nicht aus wie ich. Wir ha-
ben nicht dieselben Götter. Wir haben weder
dieselbe ethnische Herkunft noch dasselbe
Geschlecht. Und doch ist er Teil meiner See-
le. Und der Raum der Fiktion ist einer der
wenigen Orte auf dieser Welt, an dem ein
solcher Satz überhaupt noch Sinn ergibt.
Alex-Li ist nicht „korrekt“. Er kann und ver-
sucht auch nicht, andere halb jüdische, halb
chinesische Menschen zu repräsentieren.
Ganz im Geiste Kafkas repräsentiert er kaum
überhaupt sich selbst. Doch kann es sein,
dass er durch seine bloße Existenz schon un-
terdrückend ist, ganz einfach, weil er „Raum
einnimmt“, wo eine „echte“ halb jüdisch,
halb chinesische fiktionale Figur sein könn-
te? Er kann sich gegen diesen Vorwurf nicht
zur Wehr setzen – und es wäre auch unty-
pisch für ihn, es zu versuchen. Alles, was er
sagen kann, ist, dass es ihm nichts ausmacht,
wenn er nicht gelesen, nicht gekauft, nicht
geliebt wird. Doch wenn auch nur ein einzi-
ger Mensch seinen Weg kreuzen sollte, der
findet, dass seine Gefühle ein ähnliches Ge-
wicht haben wie die eigenen, dann hat er sei-
ne absurde, fiktionale Rolle in dieser Welt
bereits erfüllt.
Vielleicht unterscheiden sich das Whit-
man’sche „Fassen wollen“ und die „Faszina-
tion der Mutmaßung“ gar nicht so sehr von-
einander. Sie bringen jedenfalls das gleiche
Risiko mit sich: falsch zu liegen. Vielleicht
bemerken wir Ersteres nur, wenn es schief-
läuft. Seit mehr als einem Jahrhundert haben
sich weibliche Leser mit einer von einem
Mann imaginierten Frau identifiziert: Ma-
dame Bovary, das bin ich. Ich bin eine dieser
Leserinnen und doch gibt es viele Momente
in „Madame Bovary“, in denen ich die Prä-
senz eines männlichen Bewusstseins im Hin-
tergrund wahrnehme. Ebenso ergeht es mir,
wenn ich „Anna Karenina“ lese. Was bedeu-
tet, dass die Übertragung des Selbst auf das
andere, an der sich Flaubert und Tolstoi ver-
sucht haben, nicht perfekt ist. Doch es ist
auch nicht nichts. Anna Karenina jedenfalls
hat mir viel bedeutet, so viel eben wie eine
ausgedachte Frau einem nur bedeuten kann.
Und ich habe mich ebenso wie Generatio-
nen von Leserinnen gefragt: Wie konnte ein
Mann so viel über uns wissen? Doch dieses

Mysterium ist eigentlich gar keines. Ehe-
männer wissen schließlich eine Menge über
ihre Frauen, ebenso Ehefrauen über ihre
Männer. Geliebte kennen einander. Brüder
wissen jede Menge über ihre Schwestern und
umgekehrt. Muslime und Christen und Ju-
den kennen einander, wenigstens glauben sie
das. Auch unsere gesellschaftlichen und per-
sönlichen Leben sind ein Prozess kontinuier-
licher Fiktionalisierung, wobei wir das ande-
re, also das, was wir nicht sind, internalisie-
ren, inszenieren, uns vorstellen, aber auch
für andere und durch andere sprechen.
Die Genauigkeit dieser Form der Fiktiona-
lisierung ist nicht zu garantieren, aber ohne
zumindest eine Ahnung davon zu besitzen,
was unser Gegenüber möglicherweise denkt,
könnten wir überhaupt kein soziales Leben
führen. Eine der Funktionen von Fiktion be-
stand darin, diesen Prozess explizit, also
sichtbar zu machen. Jede Form des Ge-
schichtenerzählens ist eine Einladung in ei-
nen parallel existierenden Raum, an einen
hypothetischen Schauplatz, an dem du einen
imaginierten Zugang zu etwas erhältst, was
du selbst nicht bist. Und wenn die Fiktion
von einer Sache überzeugt war, dann davon,
dass sie mit Empathie ausgestattet war, dass
sie sich aus Mitgefühl speiste. Ich könnte ei-
ne ganze Bibliothek mit selbstbeweihräu-
chernden Zitaten zu dieser Überzeugung fül-
len, aber ich werde mich für eine entschei-
den, die ich kürzlich in den Memoiren des
wunderbaren kolumbianischen Autors
Héctor Abad gefunden habe:
„Mitgefühl ist vor allen Dingen eine Sache
der Vorstellung: Es besteht in dem Vermö-

gen, sich vorzustellen, was wir empfinden
würden, wenn wir uns in derselben Situation
befänden. Mir war schon immer, als ob Men-
schen, die kein Mitgefühl haben, auch einen
Mangel an literarischer Imagination haben –
jener Fähigkeit, die große Romane uns an die
Hand geben, um uns selbst in der Position ei-
nes anderen zu sehen. Diese Menschen sind
nicht in der Lage zu begreifen, dass das Le-
ben viele Rätsel und Wendungen bereithält
und dass wir uns jeden Moment in eines an-
deren Menschen Schuhen wiederfinden,
Schmerz, Armut, Unterdrückung, Ungerech-
tigkeit oder Folter erfahren könnten.“
Das war genau das, was die Fiktion von
sich selbst annahm, doch wie jede solche An-
nahme beinhaltete sie nicht wenig Wunsch-
denken. Ist die Fiktion über die Jahrhunderte
hinweg eher eine Quelle des Mitgefühls oder
ein Mittel zur Einhegung gewesen? Ich glau-
be, wir können beides behaupten. Die Fiktion
hat sich oft für das andere interessiert, aber
meistens sprach sie für das andere, statt es
tatsächlich so zu veröffentlichen, wie es war.
Die Fiktion hat uns Madame Bovary gegeben,
aaaber auch Onkel Tom. (Sie hat uns auch ganzber auch Onkel Tom. (Sie hat uns auch ganz
erstaunliche separate Gattungen gegeben,
die keinerlei Interesse an irgendwelchen
menschlichen Identitäten haben und sich
stattdessen Tieren, Bäumen, Außerirdischen,
unbelebten Dingen, Ideen und der Sprache
an sich widmen.) Doch egal, ob man die Neu-
gierde auf das andere, die stets von der Fikti-
on ausgegangen ist, als mitfühlend oder ein-
hegend bezeichnet, was man ihr zugutehal-
ten sollte, ist, dass sie interessiert war.

Im Gegensatz dazu besteht eine der wich-
tigsten Eigenschaften der neuen Philosophie
in einem performativen Zurschautragen des
Desinteresses, einem Stolz darauf, sich nicht
für das andere zu interessieren. Hier und da
wird es auch als Rache oder Akt der Selbst-
erhaltung charakterisiert. (Wenn dir vom an-
deren Hass entgegenschlägt, ist es vernünf-
tig, sich von ihm abzuwenden.) Diese Art von
Stolz wird oft auf folgende Art zum Ausdruck
gebracht: „Ich habe genug von ...“ oder „Ich
kann einfach nicht umgehen mit ...“ – Person
oder Position XY. Und das Seltsame daran
ist, dass die Menschen, die wir heutzutage in
diesen Raum des Desinteresses verbannen,
einmal genau jene waren, für die sich die Fik-
tion am meisten interessiert hat. Die Hin-
und Hergerissenen, die Lügner, die Selbstbe-
trüger, die, die sich blind stellen, die Jäm-
merlichen, die Unentschlossenen, die Un-
perfekten, die Bösen, die Kranken, die Verlo-
renen und die Zerrissenen. Das alles waren
einmal die Leute, mit denen die Fiktion sich
befasste.
Was ganz sicher alle Befreiungsbewegun-
gen möchten, ist Verständnis und Mitgefühl.
Ihre Mitglieder wollen im richtigen Licht ge-
sehen und beim richtigen Namen genannt
werden. Sie wollen respektiert und erkannt
werden. Doch das ist natürlich bei Weitem
nicht alles, was sie sich wünschen. Sie wollen
auch frei sein. Sie wollen Bildung und Rechte
und die Möglichkeit, in Sicherheit zu leben.
Manchmal entwickelt sich auf dem Weg zu
diesen Zielen eine separatistische Ideologie,
weil vom anderen einfach keine Form des
Mitgefühls ausgeht oder historisch nie vor-

handen war, und so wird davon ausgegangen,
dass das auch nie der Fall sein wird. Jeder
Mensch hat – sowohl in politischen wie auch
persönlichen Fragen – ein Recht auf Separa-
tismus. Es ist das hart erkämpfte Recht des
politischen Realisten und dessen, der sich
mit Geschichte beschäftigt hat. Doch die Fik-
tion befasste sich mit den Menschen und
zwar allen Menschen und zu jeder Zeit. Das
bedeutete natürlich in keiner Form, dass Fik-
tion von allen Menschen handelte – das tat
sie selten –, doch dass die Identität, Sensibi-
litäten und Gefühle der Leser nie vollständig
erahnt, kontrolliert oder vorbestimmt wer-
den konnten.
Toni Morrison schrieb vor allen Dingen
für ihre Leute. Doch die unterschiedlichsten
Leser werden sich von den Moden der Kreu-
ze, die darin beschrieben werden, bewegt
fühlen. Auch werden sie voller Überraschung
feststellen, dass sie dort Leid, Sorgen und
Nöte finden, die den ihrigen nicht unähnlich
sind, ebenso wie Morrison sie beispielsweise
in Faulkner fand. Wer Morrisons Essays zur
amerikanischen Literatur liest, wird gar fest-
stellen, dass sie sie an tausend anderen, noch
unwahrscheinlicheren Stellen fand. Selbst
wenn wir in unserer Fiktion eine Art Separa-
tismus praktizieren – Bücher für unsere Leu-
te, unsere Gemeinschaft, unser Publikum
schreiben –, wird die endlose Variation von
Identitäten und Erfahrung innerhalb dieser
Gruppen, die sich möglicherweise als „ein
Volk“ bezeichnen, jedes Ansinnen, die Reak-
tionen unserer Leser zu kontrollieren, zu-
nichtemachen. Noch immer kann ich einen

Roman zur Hand nehmen, der von einer Frau
geschrieben wurde, einer Frau, die in jeder
Hinsicht „ist wie ich“ – selbe ethnische Her-
kunft, soziale Schicht, Sexualität, Nationali-
tät, Tradition –, den ersten Satz lesen und
feststellen, dass sie ganz und gar nicht „wie
ich“ ist, denn unsere feineren Empfindungen
können sich sehr unterscheiden.
Unsere Leiden wiegen unterschiedlich.
Doch nichts von alledem wird dazu führen,
dass ich ein Buch beiseitelege oder verschlin-
ge. Das Einzige, was die (fehlende) Eignung
eines Buches für mich zutage treten lässt, ist
diese mysteriöse Art von Glauben, die eine
Schriftstellerin nicht heraufbeschwören
kann, indem sie ihre sorgfältige Recherche
anführt oder die Tatsache, dass das alles
„wirklich so passiert ist“. Für mich entsteht
der Glaube an einen Roman aus einer be-
stimmten Art von Satz. Ähnlichkeit, Ver-
wandtschaft und Mitgefühl werden eine Rol-
le spielen, aber wenn die Sätze nicht zu mir
sprechen, wird es auch nichts anderes tun.
Ich glaube an Sätze, die Balance, Sorgfalt,
Genauigkeit und Integrität aufweisen. Jene
Art von Satz, die mir – trotz allem, was empi-
risch dagegenspricht – das Gefühl gibt, dass
das, was ich da lese, zumindest im Raum des
Fiktionalen, wahr ist.

Die Schriftstellerin Zadie Smith, 1975 in
London geboren, lebt in New York. 2017
wurde ihr der WELT-Literaturpreis ver-
liehen. Eine längere Fassung dieses Essays
ist zuerst im Oktober 2019 in „The New York
Review of Books“ erschienen. © Zadie Smith
2 019. Aus dem Englischen von Sabine Kray.

BRAM BUDEL/ VISUM

FORTSETZUNG VON SEITE 25

DIE BÖSEN, DIE VERLORENEN UND DIE


ZERRISSENEN. DAS ALLES WAREN EINMAL DIE


LEUTE, MIT DENEN DIE FIKTION SICH BEFASSTE


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