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APÉRO
Künstler sind heute Sozial-
arbeiter, Zukunftsforscher,
Weltempfänger, Stadtteil-
sanierer und Politaktivisten.
Eine aktualisierte
Berufsbeschreibung von
Klaus Honnef
W
er im Netz die Ankündigungen
der kommenden Kunst-Biennalen
und Ausstellungen in den maß-
geblichen Kunstmuseen durchklickt, glaubt
bald, sich auf die Agenden wissenschaftli-
cher Forschungslabore verirrt zu haben.
Vonuntersuchen, erkunden, hinterfragen, be-
denken, erforschen, analysieren und recher-
chieren ist in jedem Absatz die Rede. Und
Gegenstand der umtriebigen Tätigkeiten sind
soziale, ökologische, ökonomische, kommu-
nikative, psychische, physische, medizinische,
ethnische und ethische sowie Migrations-,
Identitäts- und Geschlechterfragen. Verein-
zelt taucht das Wort Ästhetik auf – Kunst
hingegen so gut wie nie.
KKKunst ist offenbar nichts anderesunst ist offenbar nichts anderes als der
Generalbegriff für die vielfältigen Methoden
der momentanen Praxis einer großen An-
zahl von Künstlerinnen und Künstlern aus
aller Welt, um sich der Nöte und Leiden die-
ser Welt anzunehmen. Dafür verwenden
sie hauptsächlich Filme, Videos und Fotogra-
fien. Seltener gemalte Bilder, Skulpturen,
Zeichnungen, Textile, Texte und Töne. Häu-
fig zu Ensembles gefügt und Installationen
genannt. Ergänzt werden sie durch die reale
Verkörperung der Künstler selber in Form
von Performances oder den Einsatz eigens en-
gagierter Tänzer und Akteure.
Der Körper ist das bevorzugte Objekt
der künstlerischen Inspektion. Im Fokus
steht die Gefährdung seiner Identität und
Integrität durch Überwachen und Ausbeu-
ten. Es geht um seine physische und psy-
chische Gesundheit, seine Kleidung, die
sozialen Zwänge, und natürlich schwingt die
Befürchtung mit, dass er alsbald vor der
Folie einer drohenden Entkörperlichung
durch digital gesteuerte Apparate und Pro-
thesen nutzlos wird. So ist es nicht verwun-
derlich, dass etliche Zeugnisse des künstleri-
schen Bestrebens nicht auf Kopf und Hirn,
sondern auf den Leib, konkreter seine Ein-
geweide zugeschnitten sind. Viszeral ist das
Zauberwort und der Appell an die Emotion
das Ziel. TranscorporealitiesTranscorporealitiesTranscorporealities nennt sich eine nennt sich eine
Schau im Kölner Museum Ludwig, die sogar
das Museum „als durchlässigen Körper“
und Behälter von „Stoffwechselprozessen mit
seiner Umwelt“ begreift.
Mitunter entsteht der Eindruck, als ob
sich die Kunst alle Probleme des Planeten
auf die Schultern geladen habe. Die Per-
spektiven, die sich abzeichnen, sind düster,
utopische Visionen selten und Dystopien die
Regel. Der rasant fortschreitende Klima-
wandel, der schleichende Verfall der gesell-
schaftlichen Strukturen, die Verschärfung
politischer und sozialer Konflikte, die Bedro-
hunghunghung individueller Freiheiten durch allge individueller Freiheiten durch allgegen-
wärtige Verführungs- und Überwachungs-
systeme – kurzum, keines der aktuellen De-
saster bleibt unberührt.
Überraschend ist dabei das wieder er-
wachte Vertrauen der jüngeren Künstler
in die Verlässlichkeit der Bilder, die tatsäch-
lichen oder mutmaßlichen Ursachen der
Kalamitäten auf anschaulich plausible, unan-
fechtbare und wirkungsvolle Weise zu ver-
gegenwärtigen. Ihren Anliegen geben sie
Ausdruck durch modernste Projektions-
techniken, meist in Dunkelräumen und er-
schöpfender Länge, durch detailfreudige
Endlosserien von Fotografien, unterbrochen
durch Installationen aus assoziativ organi-
sierten Fundstücken der Alltagswelt, sowie
vereinzelt durch figurative Gemälde in
„realistischer“, expressiver und comicartiger
Manier. Zu einprägsamen Sinnbildern
verdichtet sich Weniges.
Ist schon vergessen, dass die künstleri-
sche Avantgarde, sich jeder Instrumentali-
sierung der Kunst – und sei es für eine gute
Sache – verweigert hatte? Sie erteilte der
Bildsprache mit außerkünstlerischer Referenz
eine klare Absage und betonte beharrlich
die Eigengesetzlichkeit der Kunst. Und die
bohrenden Zweifel der Künstler zweier
Generationen zuvor an der Fähigkeit von
Malerei und Skulptur, die Angelegenheiten
einer komplizierten Realität künstlerisch an-
gemessen wiedergeben zu können?
„Kunst im Kopf“ lautete nach zwei
Dekaden unermüdlicher Arbeit an einem
„erweiterten Kunstbegriff“ das Ergebnis. Die
reine Idee triumphierte. Ob sie materiell
realisiert wurde, war sekundär. Die künstleri-
sche Haltung war entscheidend. Um sich
jedoch nicht im Reich des bloß Vorstellbaren,
Zerebralen und Unanschaulichen zu verlie-
ren, griffen manche Künstler auf die seiner-
zeit in der Kunst verachteten technischen
und elektronischen Medien als willkommene
Hilfen zurück, um ihren Vorstellungen ent-
weder eine rudimentäre visuelle Kontur
zu verleihen oder die Dinge, die sie außerhalb
der Galerieräume geschaffen hatten, zu
OHNE RAST
UND RUH
ESSAY
SONDRA PERRY
Graft and Ash for a Three Monitor Workstation, 2016,
Installationsansicht Hier und Jetzt,
Museum Ludwig, Köln
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