Die Welt - 19.10.2019

(Nora) #1

O.T. (HEY LADY, CAN)


1982, Stift und Tinte auf Papier, 36× 27 cm


H


ier stimmt was nicht. Raymond sei gleich da, sagt die


Pressefrau und weist auf einen Besprechungsraum


hinter einer Glastür. Auf einem Tisch stehen Mineral­


wasserflaschen, Gläser, Knabbereien, wie für ein Busi­


nessmeeting. Es ist zehn Uhr morgens, Manhattan atmet


durch, bevor sich die Hitze zwischen den Häusern ballt. Draußen


beginnen die Leute auf die Schattenseite der 10th Avenue zu


wechseln. Hier, in den Ausstellungsräumen der David Zwirner Gale rie


in Chelsea, ist es angenehm kühl. Man hört das Klacken von


Absätzen auf dem Betonboden, den diskreten Hall von Stimmen.


Zwirner eröffZwirner eröffZwirner eröffnet im Oktober seine neue Galerie in Paris mit net im Oktober seine neue Galerie in Paris mit


Raymond Pettibons Frenchette, dem, wie es im Pressetext heißt,


ersten „Outpost“ auf dem europäischen Kontinent. Es ist


Zwirners sechste Dependance, neben London, Hongkong und drei


Standorten in New York. Der Gang an die Seine ist wohl auch


eine Reaktion auf den nahenden Brexit.


Auf die Anfrage, welche Zeichnungen Pettibon zeigen werde,


hatte die Galerie im Vorfeld einen kurzen Text mitgeschickt. Zu sehen


seien seine „wiederkehrenden Figuren und Themen“, „unter ande­


rem Gumby, Baseball, US­Präsidenten, Tiere, totalitäre Diktatoren


und Wellen“. Ganz durchgeplant sei die Ausstellung noch nicht,


aber wie ich ja wahrscheinlich wisse, sei Pettibon ein begeisterter Leser


und inspiriert „von klassischen Texten“ von Autoren wie Walt


Whitman, William Blake, John Ruskin oder Marcel Proust. Auch


darüber wolle er vielleicht mit mir reden. Warum nicht gleich über


das Neue Testament? Die Aussicht, mit ihm in diesem Tagungs­


zimmer zu hocken, an einer Selleriestange zu knabbern und


über Leaves of GrassLeaves of GrassLeaves of Grass zu diskutieren, erscheint nicht zu diskutieren, erscheint nicht


verlockend.


Ich frage Julia Lukacher, eine Mitarbeiterin von


Zwirner, ob wir uns noch kurz Pettibons Kunst an­


sehen können. Ja klar, sagt sie. Im Nebengebäude sei


sein provisorisches Studio eingerichtet. Sie greift


ihre Handtasche. Im Gehen raunt sie mir zu, ich solle


ihn bitte nicht nach Black Flag fragen – der von sei­


nem Bruder Greg Ginn in den späten Siebzigern mit­


gegegegründeten L.A. Punkband, in der er Bass spielte undgründeten L.A. Punkband, in der er Bass spielte und


für die er seine an Underground­Comics erinnern­


den Cover, Poster und Flyer zeichnete, die ihn be­


rühmt machten. Das möge er nicht.


Da kommt gerade Pettibon selbst die Straße run­


tertertergeschlurft und sieht erstaunlich elegant aus. Man geschlurft und sieht erstaunlich elegant aus. Man


spürt, dass er widerwillig antanzt. Händeschütteln.


Ein kurzer Blick in das mit Haarsträhnen verklebte


Gesicht dieses schönen Mannes, der, wie der Kunst­


kritiker Michael Kimmelman einmal geschrieben


hat, „sich nach Jahrzehnten des harten Lebens von


einem ewigen Kater auskuriert“. Eine Tür im Neben­


haus öffnet sich. Wir betreten eine Halle, in der ein


Team an einer fast leeren Wand mit einer Hebebühne


ein Cluster mit Pettibon­Werken aufhängt. Auf


einem Holztisch liegen Mappen und Zeichnungen.


Plötzlich ist da auch Pettibons junge, mit Taschen


bepackte Assistentin, Stühle werden herangerückt.


Angstgetrieben,


psychotisch, homophob:


Seit den Siebzigerjahren


entblößt Raymond Pettibon


die dunkle Seele


Amerikas – und erfand


als zynischer West-


coast-Punk das Genre der


Zeichnung neu. In


New York traf OLIVER


KOERNER VON GUSTORF


einen Mann, dessen Seele


kaum schwärzer sein


könnte. Verletzt, des-


illusioniert – und doch


voller Poesie


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