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REVUE
linke Aufmacherseite:O.T. (I WAITED UNTIL) 1984, Stift und Tinte auf Papier, 20× 29 cm
rechte Aufmacherseite: Raymond Pettibon fotografiert von George Etheredge für BLAU
O.T. (THE CHILD IS)
1989, Stift und Tinte auf Papier, 36× 27 cm
Wir setzen uns hin und schauen zu, wie die Bilder
angebracht werden. Er scheint völlig unbeteiligt
an der Aktion. Ja, er werde auch einige neue
Arbeiten in Paris zeigen, vielleicht eine Wandarbeit
machen, sagt er stockend mit diesen langen Pausen,
die so typisch für ihn sind. „Wann genau ist die
Eröffnung?“, fragt er seine Assistentin. Die tippt auf
dem Handy, sagt das Datum. „Na dann schaffe
ich es vielleicht noch, etwas zu machen.“ Stille.
Es habe aus verschiedenen Gründen Rück
schläge gegeben, es sei nicht einfach. Er sagt das
mit einer Aufrichtigkeit, die einem den Boden
unter den Füßen wegzieht. Seine Hand, mit der er
auch zeichnet, zittert, ein Tremor. Ich frage besser
nicht nach der Trennung von seiner Frau, der Video
künstlerin Aïda Ruilova, mit der er einen sechs
jährigen Sohn hat. Es ist klar, dass wir nicht über
seine kommende Ausstellung sprechen werden.
Es gibt keinen festgelegten Gesprächsgegenstand,
wie beim SpeedDating.
Also reden wir doch mal über die BlackFlag
Zeiten, darüber, was Pettibons Arbeit für Genera
tionen von vor allem jungen Männern bedeutet hat.
Für viele waren seine Zeichnungen in der Punk
szene der anbrechenden Achtziger der erste Berüh
rungspunkt mit „Kunst“. Er war ein Star, lange
bevor er dann in den Neunzigern vom Kunstbe
trieb geadelt wurde. „Ich fing mit selbst gebastel
ten Fanzines und Flyern an, die ich an fucking Te
lefonmasten klebte“, erzählt er. Immer wieder
hat Pettibon sich vom „Punk“ distanziert, die Be
wegung habe nirgendwo hingeführt, kein Punk
habe seine Sachen gekauft. Doch auch in Berlin hör
ten die Leute nicht nur WestCoastBands wie
Circle Jerks oder Meat Puppets, sondern bestellten
sich Pettibons Fanzines mit monatelangen War
tezeiten aus Kalifornien. Während ich mit meinen
genderfluiden Freunden zu Siouxsie and the
Banshees oder Kate Bush rumtanzte, war da diese
Heterowelt, in der man sich die Zähne ausschlug,
Bass spielte, Bourbon trank, nachts Skateboard fuhr.
U
nd in dieser Szene fingen in den USA und Europa
Typen an, Pettibons psychologisch aufgeladenen, filmi
schen Zeichenstil für ihre Fanzines und TShirts zu
adaptieren und weiterzuverbreiten. Vielleicht wusste nicht
jeder, woher dieser Stil kam, wie der Zeichner hieß.
Aber Pettibon schaffte es damals, in die Abgründe der Seele zu bli
cken – nicht nur die der amerikanischen Gesellschaft, sondern in
deine eigene Seele, die genauso angstgetrieben, rassistisch, homo
phob, psychotisch oder hasserfüllt ist wie seine Figuren. Oder
abgründig wie das Dunkel, aus dem Sätze kommen wie: „I waited
until my birthday to commit suicide.“ In ihrer radikalen Ehrlich
keit ließ Pettibons Kunst Teenager und Dropouts Gefühle zeichnen,
über die sie nie hätten sprechen oder singen können. Es gibt
nichts Verletzlicheres, als wenn jemand etwas zeichnet und es einem
anderen zeigt.
Pettibon kultivierte diese Ambivalenz zwischen Härte und In
timität. Seine frühen Motive in den Fanzines füllten immer eine
Seite aus. Sie waren versehen mit absurden, trockenen Sprüchen, die
einschlugen wie Pistolenkugeln. So wie auch seine schattigen,
nächtlichen Bilder, erinnerten diese Satzfetzen an BMovies oder den
Film noir Hollywoods in den Dreißigern und Vierzigern. Da waren
auch lustige Sachen, wie der BlackFlagHooligan, der fragt: „Hey
Lady, can I piss on your lawn?“ Aber Pettibon machte klar, dass der
Vorgarten schlimmer ist als der Hooligan, der reinpisst. Damals
wie heute zeigt er eine bitterböse Karikatur des weißen amerikani
schen Nachkriegstraums, den Trump heute wieder groß machen
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