Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1

DER GEIST


DER ZEIT


Ein Rückblick
auf die politische
Debatte um
Peter Handke
im Jahr 1996

Feuillleton, Seite 15

AM WOCHENENDE


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 19./20. OKTOBER 2019 75. JAHRGANG /42. WOCHE / NR. 242 / 3,70 EURO


Das Ziel: die lückenlose digitale Überwa-
chung der Bürger. Die Mittel: Big Data
und künstliche Intelligenz, allen voran
die Gesichtserkennung. Jetzt geht China
im Streben, die Kontrolle seiner Bürger zu
perfektionieren, einen Schritt weiter. Von
Dezember an bekommt nur noch einen In-
ternetanschluss oder eine Handynum-
mer, wer zuvor sein Gesicht scannen lässt


  • zur Überprüfung der Identität. So soll si-
    chergestellt werden, dass hinter dem re-
    gistrierten Namen die richtige Person
    steckt. Dass man sich ausweisen muss,
    wenn man einen Vertrag abschließt, ist in
    vielen Ländern üblich. Dass dafür Techno-
    logie zur Gesichtserkennung eingesetzt
    wird, ist aber weltweit ein Novum.
    Chinas Internetbehörden führen einen
    unerbittlichen Kampf gegen die Anony-
    mität im heimischen Netz. Bereits heute
    müssen Internetnutzer sämtliche
    Accounts – bei sozialen Netzwerken und
    anderen Onlinediensten – mit ihrer Han-
    dynummer verknüpfen. Sie dient den
    Behörden als digitale Identifikationsnum-


mer. Fast jede Onlineaktivität kann so im
Bruchteil einer Sekunde einer Person zu-
geordnet werden. Das beginnt bei so bana-
len Dingen wie dem Eintippen einer Such-
anfrage. Das neue Gesetz soll nun auch
die letzten Lücken dieses Kontrollsys-
tems schließen. Die digitale Überwa-
chung hat sehr analoge Konsequenzen:
Regelmäßig werden Menschen verhaftet,
die sich kritisch gegenüber der Regierung
geäußert haben. Zuletzt wurden mehrere
Personen festgenommen, die Chinas Flag-
ge online verunglimpft hatten.
Was sich für Europäer befremdlich an-
hört, ist in China längst Alltag, Gesichts-

erkennung ist dort überall. Mittels der
Technologie kann man seinen Kaffee
oder Rechnungen bezahlen. Universitä-
ten kontrollieren so, wer den Campus be-
tritt. Und mithilfe eines landesweiten
Netzwerks aus bald 600 Millionen Kame-
ras werden Menschen auf der Straße
identifiziert, die bei Rot über die Straße
gegangen sind oder gegen andere Ver-
kehrsregeln verstoßen haben. In einigen
Städten werden sie auf Bildschirmen
öffentlich angeprangert.
Peking wirbt überall auf der Welt für
sein hartes Vorgehen im Netz. Das Kon-
zept der sogenannten Cyber-Souveräni-

tät soll jeder Regierung das Recht geben,
das Internet im eigenen Land nach Belie-
ben zu regulieren – und zu zensieren.
Dem Thema ist sogar eine eigene, jährli-
che Internetkonferenz gewidmet, die an
diesem Sonntag in Wuzhen startet.
Im Ausland wird die Technologie aller-
dings deutlich kritischer gesehen. Die
USA haben jüngst mehrere chinesische
Hersteller von Gesichtserkennungssoft-
ware auf eine schwarze Liste gesetzt, weil
deren Technologie zur Unterdrückung
muslimischer Minderheiten genutzt
werden soll. Auch US-Firmen dürfen ihre
Technologie nicht mehr ohne Erlaubnis
nach China verkaufen.
Viele Kritiker halten die Software zu-
dem schlicht für zu fehleranfällig. Die
Folgen sind bisweilen kurios: So soll in
China eine Frau nach einer Nasen-OP
von keinem System mehr erkannt wor-
den sein. Vor allem nicht von ihrer digi-
talen Geldbörse, die sie daraufhin nicht
mehr zum Zahlen nutzen konnte.
lea deuber

Überwacht, überall


Wer inChina eine neue Handynummer will,
muss künftig vorher sein Gesicht scannen lassen

Xetra Schluss
12634 Punkte

N.Y. Schluss
26771 Punkte

22 Uhr
1,1161 US-$

Es wird wechselhaft mit zum Teil kräfti-
gen Schauern. Im Nordwesten örtlich
Gewitter. In der Oberlausitz und in Bay-
ern ist es meist freundlich und trocken.
Temperaturen: 11 bis 20 Grad. In Höhenla-
gen stürmisch.  Seite 14 und Bayern

von stefan kornelius

Vermutlich war dieser EU-Gipfel einer der
skurrilsten seiner Art.Noch am Mittwoch-
mittag hätten wohl die meisten Staats-
und Regierungschefs große Summen
drauf verwettet, dass sie wieder einmal
die Nacht durcharbeiten würden. In vielen
Interviews vor dem Gipfel gingen Exper-
ten wie selbstverständlich davon aus,
dass ein zweiter, „technischer“ Gipfel in
der kommenden Woche terminiert wer-
den müsse. Erinnerungen an Griechen-
land und die Schuldenkrise wurden her-
vorgekramt. Seit dreieinhalb Jahren quält
der Brexit die europäische Politik – so et-
was endet in Brüssel üblicherweise nicht
ohne Drama, schon allein, weil großes Dra-
ma notwendig sein würde, um die briti-
sche Innenpolitik zu beeindrucken.
Doch das Drama blieb aus, es waren die
Beamten und der Kommissionspräsident,
die den neuen Brexit-Vertrag mit der briti-
schen Regierung innerhalb der Bürozei-
ten verabredeten. So wanderte das Unge-
heuer dorthin zurück, wo es hingehört:
auf die Insel, ins britische Unterhaus. „Bre-
xit is coming home“ spotteten ein paar
Brüssel-Europäer in Anlehnung an die bri-
tische Fußballhymne. Der Ausstiegsgipfel
bestätigte einmal mehr, dass es in diesem
Politdrama in Wahrheit nicht um das Ver-
hältnis der Briten zu ihren europäischen
Nachbarn geht, sondern um einen tief sit-
zenden Dämon, der das Land seit dem ers-
ten Tag seiner EU-Mitgliedschaft im Jahr
1973 quält.
Unmittelbar nach dem Gipfel beschäf-
tigte sich also wieder das politische Perso-
nal in London mit dem, was es seit exakt
40 Monaten am liebsten tut: Es sucht
nach Mehrheiten, wo sich keine Mehrhei-
ten finden lassen; es bemüht sich um Deu-
tungshoheit über den Brexit, wo es in

Wahrheit keine Vorstellung über die kon-
kreten Inhalte gibt; es ringt um die Macht
und den Weg dorthin. Dreimal bereits hat
das Parlament einen Austrittsvertrag ab-
gelehnt. Zweimal hat es der Regierung
den unkontrollierten Austritt verboten,
einmal hat es sich gegen eine neue Volks-
abstimmung ausgesprochen. Klar ist also,
was dieses Parlament nicht will. An die-
sem Samstag wird sich zeigen, ob es den
ewigen Kreislauf durchbrechen kann,
oder ob die perfekte Selbstblockade hält.
Der neue Vertrag unterscheidet sich in
zwei Merkmalen vom alten Vertrag, den
das Parlament dreimal zurückgewiesen
hatte: Erstens kommt das Wort Notfall-Lö-
sung (backstop) für Irland nicht mehr vor.
Das ist allerdings nur ein Scheinerfolg,

denn die technischen Inhalte zu Irland ha-
ben sich nur leicht zugunsten der Aus-
tritts-Freunde gewendet. Zweitens trägt
der Vertrag die Signatur von Boris John-
son, nicht von Theresa May. Das macht es
einigen Tories leichter, die Abmachung zu
akzeptieren, obwohl sie einen harten Bre-
xit bevorzugt hätten. Aber immerhin: Bo-
ris hat die EU geknackt, argumentieren
sie, Brüssel hat den Vertrag nachverhan-
delt. Ein symbolischer Sieg.
Ansonsten aber bleibt es bei den alten
Problemen: Die politischen Lager blockie-
ren sich nicht nur gegenseitig und intern.
Die Labour-Opposition ist mit ihrem weit
gehassten Vorsitzenden Jeremy Corbyn
beschäftigt, der es nicht schafft, aus dem
Führungsvakuum im Land Kapital zu

schlagen. Eines Tages wird er wohl als der
große Tölpel des Brexit-Zeitalters in den
Geschichtsbüchern auftauchen. Und
schließlich hoffen offenbar noch immer
viele Abgeordnete darauf, dass sich die Er-
de öffnen und die Dämonen mitsamt dem
Vertrag verschlucken könnte, so dass die
britische Politik mit Hilfe von Neuwahlen
oder eines zweiten Referendums eine
wundersame Wiederauferstehung erlebe.
Am wenigsten Fantasie verschwenden
Abgeordnete und Regierung indes auf die
Schlüsselfrage: Was soll eigentlich nach
dem Brexit sein? Welche Beziehungen soll
es geben mit einem Binnenmarkt, der für
den größten Teil des Handelsvolumens
verantwortlich ist. 266 Milliarden Euro in
Form von Waren und Dienstleistungen
fließen im Jahr von der Insel in die EU, 359
Milliarden fließen zurück. Zum Vergleich:
Mit den USA beträgt das Volumen nicht
mal ein Drittel dieser Größe.
Es gehört zu den erstaunlichsten Phä-
nomenen, dass es die britische Politik in
40 Monaten nicht geschafft hat, über die
Technik des Austritts hinwegzukommen
und die Vorstellung über die künftigen Be-
ziehungen mit Leben zu füllen. Aber auch
das ist nichts Neues: Dem Beitritt 1973
folgte kurz darauf ein Referendum über
den Verbleib. Seitdem wechselten sich im-
mer wieder Empörungswellen über Euro-
pa und Freundschaftsbekundungen ab.
Dabei ging es immer nur um eines: Rein
oder raus, nationale Souveränität oder Ver-
sklavung durch Brüssel. Vielfalt der EU
und Vorteil der Mitgliedschaft waren sel-
ten Thema der britischen Politik, ge-
schweige denn der ökonomische Mehr-
wert. Jetzt, so schrieb der Historiker Timo-
thy Garton Ash kürzlich, sei das Thema
überreizt. Er sei „traurig und schockiert,
wie viele alte Freunde und Bewunderer
uns aufgegeben haben.“  Seiten 2 und 4

München –CSU-Chef Markus Söder ist
mit einem besseren Ergebnis als bei sei-
ner ersten Wahl vor neun Monaten an der
Spitze der Partei bestätigt worden. Er er-
hielt auf dem CSU-Parteitag am Freitag
in München 91,3 Prozent – im Januar wa-
ren es 87,4 Prozent. sz  Seiten 4, 7

ABBILDUNGEN: DIDIER CONRAD, ASTERIX®–OBELIX®–IDEFIX ®/©2019 LES ÉDITIONS ALBERT RENÉ/GOSCINNY–UDERZO,FOTOS: DAVIDS/DARMER, FRANCOIS MORI/AP

Dax▼ Dow▼ Euro▲


Euro-Jackpot(18.10.2019)
5 aus 50:6, 9, 31, 43, 44
2 aus 10:6, 9 (Ohne Gewähr)

TV-/Radioprogramm, Medien 46–
Forum & Leserbriefe 14
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 38
Traueranzeigen 20–


Die SZ gibt es als App für
Tablet undSmartphone:
sz.de/zeitungsapp

20 °/6°


Damaskus– Trotz Waffenruhe kam es
im Norden Syriens am Freitag zu Kampf-
handlungen. Die Syrische Beobachtungs-
stelle für Menschenrechte berichtete, es
habe rund um die Grenzstadt Ras al-Ain
Granatenbeschuss und Maschinenge-
wehrfeuer gegeben. Aus Kreisen der Kur-
den hieß es, eine Klinik der Stadt sei ge-
troffen worden. In anderen Gegenden sei
es jedoch ruhig. Den Vereinten Nationen
zufolge hält die Kampfpause weitge-
hend. Die UN beriefen sich dabei auf ihr
Nothilfebüro Ocha, das mit „vertrauens-
würdigen Quellen“ in Syrien arbeite. Die
USA und die Türkei hatten am Donners-
tag eine fünftägige Feuerpause verein-
bart. Sie soll Kurdenmilizen ermögli-
chen, sich aus dem Grenzgebiet zurückzu-
ziehen, wo die Türkei eine Sicherheitszo-
ne einrichten will. sz  Seiten 4 und 8

MIT IMMOBILIEN-,
STELLEN- UND
MOTORMARKT

Endlich einig: Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag feiert der britische Premier
Boris Johnsonden Deal mit der EU als Erfolg. FOTO: SEAN GALLUP/GETTY IMAGES

Söder als CSU-Chef


wiedergewählt


 Buch Zwei, Seite 11



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DAS WETTER



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NACHTS

Kämpfe


trotz Waffenruhe


Ungeachtet der Feuerpause gibt
es in Nordsyrien weiter Gefechte

SPÄTER GLANZ


Désirée Nosbusch
musste fast 40
Jahre auf ihren
Durchbruch als
Schauspielerin warten

 Medien, Seite 48

Rückkehr des Ungeheuers


Auch nachder Brexit-Übereinkunft von Brüssel gilt: Das eigentliche Problem der britischen


Politik ist die britische Politik. Warum der Austritt aus der EU schier unmöglich zu sein scheint


Spinner


für immer


Zum 60. Geburtstag von Asterix


gibt es einen neuen Band.


Die Abenteuer und Sprüche


der Gallier wurden zum Kulturgut.


Funktionieren sie heute noch?


Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8,81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
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Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, P, SLO: € 4,20;
ES (Kanaren): € 4,30; dkr. 34; £ 3,90; kn 36; SFr. 5,

(SZ) Viele Menschen eines bestimmten
Typs regen sich sehr gern auf, und dies
umso mehr, je besser es ihnen geht; ein in-
teressantes psychologisches Phänomen.
Am liebsten lamentieren sie über „die da
oben“. Diese Klage vereint sie, unabhän-
gig von Ideologien, Motiven und dem grö-
ßeren oder kleineren Grad der Nichtswür-
digkeit ihres ewigen Gejammers: dass die
da oben tun, was sie wollen. Dass sie sich
die Taschen vollstopfen. Dass sie abgeho-
ben haben und den kleinen Mann nicht
mehr sehen. Dass der kleine Mann (in
den Varianten Wir da unten, Wir sind das
Volk, Wir vom System Belogenen, Wir Dis-
kriminierten und stets Gekränkten, Wir
Steuerzahler, Wir Leistungsträger und so
fort) am Ende immer der Dumme ist.
Wenn es irgendetwas nutzen würde, was
es aber nicht tut, könnte man mit Goethe
entgegnen: „Ein kleiner Mann ist auch
ein Mann.“ Jedenfalls dann, wenn er sich
auch wie einer benimmt.
Wie anders, wie würdevoll liegen die
Dinge doch bei der Tomate. Von jeher
wächst sie eher da unten, weil die Natur
es so bestimmt, und sie wird – aus ihrer
Perspektive betrachtet – von denen da
oben verzehrt. Statt zu klagen, hat sie
sich zum unverzichtbaren Begleiter des
Menschen entwickelt und hilft ihm in viel-
seitiger Form. Der Freund des Burgers ge-
nießt sie als Ketchup, jener der Haute Cui-
sine als handgezupften Tomaten-Wild-
kräuter-Salat an Zatar-Joghurt-Dressing
für nur 27,95 Euro. Der Feinsinnige zi-
tiert liebevoll ihre klangvollen Namen,
Fantasio, Gardener’s Delight, Grünes Ze-
bra, Ochsenherz. Und am herrlichsten:
Gelbe von Thun und Würmli. Demons-
tranten wissen um die Wirkung eines ge-
zielten Tomatenwurfs. Die Reinigungen
schätzen die stark färbende Wirkung der
schlabberigen Tomatenscheiben, die zu-
verlässig garantieren, dass das sogenann-
te Panino vom Bahnhofskiosk sich in eine
unbestimmbare Schlampfe verwandelt
und Papiertüte, Aktentasche und Hosen-
bein durchtränkt. Das führt uns zu den
Gentechnikern unserer Ära, welche der-
lei Elend durch Züchtung der Anti-
Matsch-Tomate für alle Zeit vorbauen.
Die Deutschen, so hat die Universität
Göttingen nun herausgefunden, mögen
ihre Tomate knallrot und billig. Ge-
schmack, Festigkeit, Aroma, Umweltver-
träglichkeit, solche Nebensachen küm-
mern uns deutsche Genussmenschen
nicht. Hauptsache, die Tomate ist rot.
Respektive: er. Unsere österreichischen
Freunde, welche der deutschen Sprache
bereits die Grammeln und den Karfiol
geschenkt haben, sprechen von dem Para-
deiser. Die größte Freude von allen berei-
tet die Tomate daher den Bürokraten: Sie
hätten sonst niemals Gelegenheit bekom-
men, das „Protokoll Nr. 10 über die Ver-
wendung spezifisch österreichischer Aus-
drücke der deutschen Sprache im Rah-
men der europäischen Union StF: BGBl.
45/1995 (NR: GP XIX RV 11 AB 25 S. 4 BR:
AB 4933)“ anzufertigen.


4 190655 803708

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