Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
von lothar müller

M


anchmal sind die grellen
Töne hilfreich. Sie verlan-
gen ein Innehalten, ein
Stutzen, den Reflex
„Kann das sein?“ So muss-
te es vor einigen Tagen jedem gehen, der
mit Bob Dylans „Masters of War“ groß ge-
worden ist und den Titel las, unter dem
der Schriftsteller Aleksandar Hemon in
derNew York Timesdie Verleihung des
Literaturnobelpreises an Peter Handke
kommentierte: „The Bob Dylan of Genoci-
de Apologists“ („Der Bob Dylan unter den
Völkermordapologeten“). Ist im Lager der
Völkermordapologeten Platz für einen
Dylan-Doppelgänger? Und was bedeutet
es, dem Schriftsteller Peter Handke die-
sen Platz zuzuweisen?
Es kehren in der Debatte die Vorwürfe
zurück, die gegen Handke bereits unmit-
telbar nach der Erstveröffentlichung sei-
nes Textes „Eine winterliche Reise zu den
Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“
in derSüddeutschen Zeitungim Januar
1996 gemacht wurden. Sie treffen den ge-
genwärtigen Peter Handke, der dagegen
die Götter der Literatur anruft: „Ich kom-
me von Tolstoi, Homer, Cervantes ... “ Es
ist etwas Gespenstisches, Wiedergänger-
haftes in Handke selbst wie in der aktuel-
len Debatte. Mit ihr kehren während der
Feiern zum großen Umbruch der Jahre
1989/90 die Bilder aus den europäischen
Kriegen zurück, die wenig später im zer-
fallenden Jugoslawien begannen.
Aber es wird keine umfassende Erinne-
rung an diese Kriege daraus, es bleibt ein
Literaturskandal. Der Handke von da-
mals ist wieder da, älter geworden und
jähzornig wie je, aber die Welt, die ihn um-
gab, zeichnet sich nur schemenhaft ab.
Das ist, zumal für Deutschland und Öster-
reich, bedauerlich. Wo stecken in den ak-
tuellen Gesellschaften das Deutschland
und Österreich der Neunzigerjahre, er-
innern sie sich noch an ihre Parteinah-

men, Ausblendungen, allzu gewissen Ge-
wissheiten?
Zum Echoraum der Debatte über Hand-
kes Jugoslawien-Texte gehörten nicht
nur die damaligen Kriege, sondern auch
die Massaker des Zweiten Weltkriegs.
Das galt für die „Winterliche Reise“ auch
dort, wo sie den Zusammenhang nicht
ausdrücklich herstellte, etwa beim Durch-
queren von Kragujevac und Kraljevo
(„ziemlich große mittelserbische Städte,
nach denen es südwestwärts in ein ande-
res Serbien ging, gebirgig, schluchten-
reich, fast menschenleer“), Orte, in denen
die Deutschen 1941 Massaker mit mehre-
ren Tausend Toten verübt hatten.

Und es galt für den Vorwurf der Leug-
nung von Kriegsverbrechen, dem Hand-
ke sich rasch gegenübersah. Spätestens
seit dem publizistischen Erfolg von David
Irving gab es die Hohlform des Holocaust-
leugners als Urbild aller Revisionisten.
Handke hatte im Herbst 1995 Serbien be-
reist, bis hin zur Drina, zur Grenze nach
Bosnien, über das, während er reiste, in
Dayton die Friedensverhandlungen ge-
führt und abgeschlossen wurden. Er war
nicht ins Kriegsgebiet selbst, nach Bosni-
en gereist, sondern hatte Landschaften
durchquert und beschrieben, die damals
noch keine Kriegslandschaften waren,
und ihre Bewohner, die mit dem Embar-
go, dem Restjugoslawien unterlag, zu-
rechtzukommen versuchten.
Die Kritik an dieser Reiseroute und an
den bukolischen Zügen der Reiseerzäh-
lung hatte Handke in der „Winterlichen
Reise“ vorweggenommen: „Aber ist es, zu-
letzt, nicht unverantwortlich, dachte ich
dort an der Drina und denke es hier wei-
ter, mit den kleinen Leiden in Serben da-
herzukommen, dem bisschen Frieren

dort, dem bisschen Einsamkeit, mit Neben-
sächlichkeiten wie Schneeflocken, Müt-
zen, Butterrahmkäse, während jenseits
der Grenze das große Leid herrscht, das
von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica,
von Bihac, an dem gemessen die serbi-
schen Wehwehchen nichts sind?“
Die Frage war ein Widerhaken, aber sie
unterminierte das Erzählen nicht. Zu stark
war der Impuls „Gerechtigkeit für Serbi-
en“, den damals die Redakteure dieser Zei-
tung als Haupttitel über den Text setzten
(in der Buchausgabe war es dann umge-
kehrt). Unmöglich, die Vitalität dieses Im-
pulses zu beurteilen ohne die Erinnerung
an die Neunzigerjahre, in denen in nicht ge-
ringen Teilen der Öffentlichkeit die serbi-
sche Führung um Slobodan Milošević als
Wiedergänger der Nationalsozialisten er-
schienen. Dagegen vor allem lief Handke
bisweilen blindwütig, aber oft auch sich
selbst ins Wort fallend Sturm.

Und wer ihn mit politischen Argumen-
ten in Schutz nahm wie der inzwischen ver-
storbene SPD-Politiker Peter Glotz, der tat
es mit dem Argument, Handkes „Kern-
these von der verteilten Schuld im nationa-
listisch verhetzten Jugoslawien“ und sein
Bild des kroatischen Präsidenten
Tudjman seien nicht abzuweisen: „Müs-
sen kroatische ‚Kriegshunde‘ den EU-Ver-
mittler von Mostar, Hans Koschnick, erst
umgebracht haben, bis man in Deutsch-
land Franjo Tudjmans haltosen Chauvinis-
mus kritisiert?“ Verteilung von Schuld
und Verantwortung, nicht Gleichvertei-
lung. Davon müsste eine politische Debat-
te über und mit Handke handeln, nun, fast
ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des
Bosnienkriegs. Was ist aus den Konfliktli-
nien von damals geworden?
Es dürfte Aleksandar Hemon schwerfal-
len, an den Werken Handkes zu belegen,
dass er ein „Apologet“ von Völkermorden
ist. Weder bezweifelt er in seinen Schriften
über Jugoslawien die Existenz der Massa-
ker, noch befürwortet er sie. Oder den
Krieg. Zum „Sommerlichen Nachtrag zu

einer winterlichen Reise“ (1996), Frucht ei-
ner Reise nun doch über die Drina hinaus,
gehören beklemmende Passagen über Sre-
brenica als „Brandstätte im Talschluss“.
Handke ist kein Völkermord-Apologet.
Aber jemand, der die staatlichen, systema-
tischen Vernichtungsenergien beim Zer-
fall Jugoslawiens verkennt. Seine Schlüs-
selkategorie ist die Rache als eine Art Na-
turgewalt. Ihr traut er – in einem Gespräch
mit der NZZ im Juni 2006 – alles zu und ni-
velliert die Dimensionen. Sie treibt die
Kriege voran und sorgt für die Verteilung
der Schuld: „Ich sage, ‚Srebrenica‘ war blin-
de, böse Rache dafür, dass während dreier
Jahre über tausend Serben rund um Sre-
brenica gemordet wurden.“
Nach der Nobelpreisentscheidung für
Handke hat Saša Stanišić bitter-ironisch
getwittert: „Sollen andere Generationen
verarbeiten. Wir belohnen Adjektive.“ Es
hilft nichts, weil es hier um Literatur geht,
lassen sich historische Aufarbeitung und
Adjektive nicht trennen. Kaum ein Ele-
ment der „Winterlichen Reise“ wurde hin-
gebungsvoller kritisiert und ironisiert als
die „andersgelben Nudelnester“, die der Er-
zähler auf dem Markt in Belgrad erwirbt.
Sie gingen als Bild sentimentaler Verklä-
rung Serbiens um die Welt.
Es gibt zu dem seltsamen Adjektiv ein
Gegenstück in der kurzen Erzählung „Die
Geschichte des Dragoljub Milanović“
(2011). Darin sind die Birken im Umkreis
des staatlichen Sendehauses, das 1999 bei
den Nato-Angriffen auf Belgrad zerstört
wurde, über und über mit Spiralen von
Tonbändern behängt, „und jetzt läßt der
Frühling, zwischen den grünen Birkenblät-
tern, diese andersgrünen Bänder durch
die Lüfte wehen. Unhörbar und unschäd-
lich gemacht so all die Greuelpropaganda,
die Kriegslügen und insbesondere die
Durchhaltegesänge, mobilgemacht aus
sechs Jahrhunderten eines bloß eingebil-
deten Durchhaltens, und mobilgemacht
eindeutig für Angriffszwecke, für Vertrei-
bung, für Völkermord.“ Mit welcher Bot-
schaft gehen diese „andersgrünen Bän-
der“ in die Welt?

Gespenster


Der Kontroverse um Peter Handke


fehlt die historische Tiefenschärfe


Sebastião Salgado, der neue
Friedenspreisträger des Buchhandels,
im Interview  Seite 18

von jens-christian rabe

D


as erste Buch der deutschsprachi-
gen Literatur, das mithilfe von
künstlicher Intelligenz ein Best-
seller werden soll, trägt den Titel: „Marei-
ke, Martha und die Männer“. Ein Mann
lässt darin seine Freundin Mareike bei sei-
ner Oma Martha als „Oma-Sitterin“ im
Schwarzwald zurück: „Und Mareike er-
fährt: Dieses Spiel spielt er nicht zum ers-
ten Mal! Stinkewütend schnappt Mareike
sich Martha.“ Es soll der Auftakt sein zu ei-
nem „humorvollen und aberwitzigen
Roadmovie“. Kunst kommt von KI.
Das Buch ist der während der Frankfur-
ter Buchmesse prämierte Gewinner eines
Wettbewerbs einer Hamburger Firma na-
mens Qualifiction, die eine KI-Software
entwickelt hat, die zwar nicht den
menschlichen Autor abschaffen will, ihm
aber doch mit dem Datenanalyse-Pro-
gramm LiSA helfen möchte, den eigenen
Text „objektiver einzuschätzen“. Anders
gesagt: Geschrieben hat „Mareike, Mar-
tha und die Männer“ die Autorin Birgit
Schlieper, die Jury war das Big-Data-KI-
Programm LiSA. Es beruht auf Prinzipi-
en, die auch bei KI-Anwendungen des Mo-
deversandhändlers Zalando benutzt wer-
den, und führte bei jedem der 250 Einsen-
dungen eine „Themenanalyse“, eine
„Stimmungsanalyse“, eine „Stilanalyse“,
einen „Figurenanalyse“ und eine Leser-
potenzial-Analyse durch.
Dass KI- und Big-Data-Anwendungen
sich irgendwann Literatur und Sachbuch
vornehmen, konnte man ja erwarten. Das
digitale Grundgesetz besagt, dass alles,
was gemacht werden kann, auch ge-
macht wird. Dass aber der literarische Er-
trag so gering ist, erstaunt dennoch. Aus
den LiSA-Schreibtipps geht etwa hervor,
dass man versuchen solle, klar und
knapp zu formulieren; oder dass man
nicht „zu viele Themen“ anreißen dürfe.
Außerdem sei es geboten, frühzeitig ei-
nen Konflikt einzuführen, um „Interesse
am weiteren Verlauf“ zu wecken. Eine nu-
minose Zauberformel ist etwas anderes.
Die Masse an Manuskripten, die Verla-
ge mit LiSA potenziell prüfen lassen kön-
nen, lässt sich allerdings vervielfachen.
Die Entwicklung hat daher etwas Bitter-
süßes. Das wurde auch durch die Vorträ-
ge auf der Messe klar, in denen es um KI
und wissenschaftliche Fachbücher ging.
Da geht es – neben der Optimierung der
digitalen Metadaten, damit Texte im
Netz von Suchmaschinen besser gefun-
den werden können – schlicht um die Be-
schleunigung des Lese- und Schreibpro-
zesses. Der Mensch werde nicht elimi-
niert, ihm werde Zeit gespart – um dann
noch mehr Arbeit bewältigen zu können.
Der Verlag Springer Nature hat gerade
das erste wissenschaftliche Buch veröf-
fentlicht, das von einem Algorithmus er-
stellt wurde: „Lithium-Ion Bateries – A
Machine-Generated Summary of Cur-
rent Research“. Den Tod des Autors moch-
te der Verlagsvertreter gnädigerweise
nicht erklären. Er plädierte aber für eine
Umwidmung, Autoren sind künftig als KI-
Entwickler eher „Autoren von Autoren“
oder eben „Machine Supported Text Desi-
gner“.
Womit man immerhin beim zweiten di-
gitalen Grundgesetz wäre: Etwas Besse-
res als den Tod findet man nicht überall.


Jens-Christian Rabe hat
diesen Beitragnoch ohne
Bestsellerformel verfasst.

SALGADO/AMAZ.IMAGES


„Komm! ins Offene, Freund!“:
RüdigerSafranski erzählt das Leben
Friedrich Hölderlins  Seite 19

Der Brite Adrian Jones wird neuer Orches-
terdirektor der Staatskapelle Dresden. Er
übernimmt die Position zum 13. Januar
2020, teilte das Orchester am Freitag mit.
Jones, zuletzt Orchesterdirektor des
Rundfunk-Sinfonieorchesters in Berlin,
folgt auf Jan Nast. Dieser hatte die Staats-
kapelle nach 22 Jahren verlassen und ist
nun Intendant der Wiener Symphoniker.
„Mit seinen Erfahrungen als Orchester-
direktor, unter anderem an der Deut-
schen Oper Berlin, wird er das Profil und
internationale Ansehen des Orchesters
aufs Beste weiter entwickeln“, erklärte
Chefdirigent Christian Thielemann. dpa


DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 HF3 15


FEUILLETON


LITERATUR UND KI

Wenn der


Algorithmusdichtet


Handke nahm die Kritik an
den bukolischen Zügen
seiner Reise selbst vorweg

Kamera-Botschafter


Adrian Jones leitet


OrchesterDresden


Die Debatte müsste von der
Verteilung von Schuld handeln,
nicht von der Gleichverteilung

Lesen Sie Peter Handkes Reportage„Ge-
rechtigkeit für Serbien“, erschienen
1996 in der SZ: sz.de/handke

Der Berliner Künstler Leon Kahane
auf den Spuren seiner
jüdischen Großmutter  Seite 24

Noch da


Freier Fall: Bosnische Kroaten zerstörten 1993 die historische Brücke von Mostar. FOTO:AP, ENRICO MARTI

Dichter und Denker


Wie sieht die Zukunft aus? In Sachen

Klima sind die Prognosen inzwischen

sehr genau. Und ebenso erschreckend.

In diesem Buch entwerfenLuisa

Neubauer,die bekannteste deutsche

Klimaaktivistin, und der Politökonom

Alexander Repenning die Geschichte

unserer Zukunft. Denn die Menschheit

steht am Scheideweg. Wenn wir jetzt

nicht den Kurs ändern, schaffen wir uns

selbst ab. Politiker,Unternehmer,Bürger,

jeder muss aktivwerden. Aber wie?

fe

,

»WIR SIND DIEERSTEN, DIEDIE

KLIMAKRISE ZU SPÜREN BEKOMMEN,

UND DIE LETZTEN, DIE NOCHETWAS

ÄNDERN KÖNNEN.«

Luisa Neubauer/Alexander Repenning
VomEndeder Klimakrise
Eine Geschichte unserer Zukunft

304 Seiten, Klappenbroschur
€18,–(D) /€18,50(A)
ISBN 978-3-608-50455-

©A

nnette Hauschild/Ostkreuz
Free download pdf