Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1

Gerade mal 18 Jahre ist Daniel Loza-
kovich und hat doch schon viel von
dem erreicht, was ein Geiger in
seinem Leben erreichen kann. Ge-
boren als Sohn von aus der Sowjet-
union emigrierten Eltern in Schwe-
den, hat er schon seit drei Jahren
einen Exklusivvertrag mit der Deut-
schen Grammophon in der Tasche.
Eine enge Zusammenarbeit verbin-
det ihn besonders mit Valery Ger-
giev, unter dem er in München im
Dezember auch Beethovens Violin-
konzert mit den Münchner Philhar-
monikern spielen wird. Auf CD legt
er nun ein anderes Gipfelwerk der
Violinliteratur vor: Peter Tschai-
kowskys Violinkonzert. Die enor-
men technischen Herausforderun-
gen meistert der junge Geiger dabei
nicht nur blitzsauber, sondern
stürzt sich auch mit merklicher
Spiellust in das Gefecht gerade des
letzten Satzes. Sein Partner am Pult
der Russischen Nationalphilharmo-
nie ist Vladimir Spivakov, mit dem
er einst als Neunjähriger sein Debüt
in Moskau gegeben hatte. Dass
Lozakovich stark von der russi-
schen Tradition geprägt ist, hört
man auch seinem Umgang mit
Tschaikowskys Konzert an. Er hat
einen feinen Sinn für die Mittel der
Agogik, für ein romantisches Vor-
wärtsdrängen und Zurückweichen,
wobei er sich allerdings gerade im
langsamen Satz noch nicht von der
Tradition freischwimmen kann,
noch nicht zu einem eigenen Ton
gefunden zu haben scheint. Wo der
bei Lozakovich liegen könnte, spürt


man eher in der Reihe der vielen
kleineren Stücke von Tschaikows-
ky, die er der Platte hinzugefügt
hat. Zum Beispiel in jener „Méditati-
on“, die ursprünglich der langsame
Satz des Violinkonzerts hätte wer-
den sollen, bevor ihn der Kompo-
nist seinem Opus 42 eingliederte.
Da wird das ewige Vor und Zurück
zum Ausdruck einer Melancholie,
die, wie Lozakovich im Booklet
bekennt, für ihn überhaupt das
zentrale Moment von Tschaikows-
kys Musik ist: „Er hat immer etwas
vermisst – etwas, das ihm Weite
gibt.“ Lozakovich gibt dem Stück
diese Fernwehweite, wie er über-
haupt einen eindrücklichen Sinn
für große Bögen, für formalen Zu-
sammenhang zeigt. Er hilft ihm
auch, bei den vielen süßen Melo-
dien der zweiten Plattenhälfte nie
ins Sentimentale abzugleiten.
michael stallknecht

Jede andere wäre
an dieser Diagnose
gescheitert, aber
Alicia Alonso trotz-
te ihr eine sagen-
hafte Karriere ab.
Mit 19 Jahren be-
kam die 1921 in Ha-
vanna geborene Of-
fiziers-Tochter den Katastrophenbe-
fund: Netzhautablösung. Mehrere Ope-
rationen verzögerten die Erblindung,
aber ohne sekundengenau getimte Auf-
tritte, spezielle Lichtsignale und verläss-
liche Partner wäre die Diva nie zu inter-
nationaler Berühmtheit gelangt.
Alonso tat die ersten Schritte ins
Rampenlicht am Broadway. Ihre Stun-
de schlug 1943, als sie eine erkrankte
Kollegin ersetzte und als „Giselle“ de-
bütierte. Die Weltbühnen rollten ihr
den Teppich aus. Alonso jedoch zog es
vor, nach Kuba zurückzukehren und
dort 1948 eine Truppe zu gründen –
auf eigene Kosten, bis Fidel Castro das
Unternehmen 1959 zum Ballet Nacio-
nal de Cuba promovierte.
Das nationale Aushängeschild wur-
de nicht nur großzügig subventioniert,
sondern weltweit herum gereicht. Bis
ins hohe Alter tanzte Alonso die Parade-
rollen des romantischen Repertoires
mit erotischer Grandezza und dirigier-
te, obwohl nahezu völlig erblindet,
ihre Kompanie mit eiserner Hand.
„Attack“ – „greif an“, so feuerte sie die
Tänzer am liebsten an. Erst 2019 legte
sie die künstlerische Leitung in jünge-
re Hände. Im Alter von 98 Jahren ist
Alicia Alonso nun auf Kuba gestorben.
dorion weickmann

Die Uhr mit der rennenden Signatu-
re-Ratte kostet 500 britische Pfund
(„für Zuhause, Büro oder Home
Office“), das T-Shirt mit dem Bal-
lon-Mädchen, unten ausgefranst
wie das Gemälde, das Banksy vor
einem Jahr bei einer Auktion live
schreddern ließ – nur 30 Pfund.
Die Splitterschutzweste mit dem
Union Jack darauf, die der Rapper
Stormzy beim Festival in Glastonbu-
ry trug, ist für 850 Pfund im Ange-
bot. Und manches, wie das Mobile,
das das Baby auf einen Lebensweg
unter kontinuierlicher Beobach-
tung vorbereiten soll, wird erst
noch produziert und hat bisher gar
kein Preisschild. 22 Objekte bietet
der Streetartkünstler Banksy in
seinem neu eröffneten Online-
Shop grossdomesticproduct.com
an, allesamt waren zuvor in seinem
Flagship-Store in Croydon bei Lon-
don ausgestellt. Ein Grußkartenher-
steller hatte versucht, Banksy-Moti-
ve zu vermarkten und den Künstler
damit gezwungen, selbst ins Mer-
chandising einzusteigen: Eine Mar-
ke, die nicht genutzt wird, ist über-
tragbar. Weil aber Banksy-Werke
inzwischen zu fantastischen Prei-
sen gehandelt werden, der Künstler
aus Bristol jedoch ein recht ambiva-
lentes Verhältnis zum Kunstmarkt
hat, ist grossdomesticproduct.com
natürlich nicht einfach nur ein
Kunstvertrieb, sondern ein Mani-
fest, ach was, ein eigenes Werk.
Allein die Allgemeinen Geschäftsbe-
dingungen sind ein Dialog zwi-
schen Künstler und Sammler über

den Wert von Kunst. Auch wenn die
erwartbare Nachfrage die Preise
der Werke steigen lasse, berühre
dies nicht den künstlerischen Wert,
heißt es dort: „Bitte kaufen Sie ein
Objekt, weil es Ihnen gefällt und
nicht als gute Investition.“ Jeder
Käufer darf nur ein Werk erstehen
und muss sich zuvor registrieren
und – in höchstens 50 Worten –
eine Frage beantworten: „Ist Kunst
wichtig?“ Daraufhin entscheide ein
„unabhängiger Richter“ – nach
Informationen der BBC ist es der
Standup-Comedian Adam Bloom –,
ob die Antwort passend und origi-
nell ist und der Interessent eines
Werkes würdig. Sollte sich heraus-
stellen, dass der Käufer ein Kunst-
händler ist oder er die Werke weiter-
verkaufen will, bekommt er das
Werk nicht. Ein Link führt auf eine
weitere Seite, Bbay (nach Ebay), wo

bald „gebrauchte“ Banksys gehan-
delt werden, oder, wie es heißt:
„Ihre Top-Destination um Second-
Hand-Werke eines drittklassigen
Künstlers zu verkaufen.“ Doch je
brillanter und verzweifelter Banksy
auch die Vermarktung seiner Kunst
zu kontrollieren versucht – auch
dieses Projekte wird dazu führen,
dass sein Marktwert weiter steigt,
dass seine oft globalisierungs- und
kapitalismuskritischen Werke in
den Sammlungen der Superreichen
verschwinden. Sein überarbeitetes
Gemälde „Devolved Parliament“
mit den debattierenden Affen im
britischen Unterhaus brachte bei
einer Versteigerung neun Millionen
Pfund ein. Es dürfte mit ziemlicher
Sicherheit nicht so bald auf Bbay
zu finden sein. Aber vielleicht gibt
es die Affen ja irgendwann als
T-Shirt. sonja zekri

Ob er eigentlich begreife, was Irland sei,
fragt Stephen Dedalus in James Joyce’ au-
tobiografischem „Porträt des Künstlers
als junger Mann“ seinen patriotischen
Freund. Und belehrt ihn dann abfällig: „Ir-
land ist die Sau, die ihre Ferkel frisst.“
Joyce hatte sich schon früh vom irischen
Nationalismus und der katholischen Kir-
che losgesagt und das Exil gewählt. Nach
seinem Tod 1941 wurde er auf dem Fried-
hof Fluntern in Zürich beigesetzt.
Zwei Dubliner Stadträte wollen seine
Überreste nun nach Irland holen, recht-
zeitig zum 100. Jubiläum der Publikation
des „Ulysses“ im Jahr 2022. „Das Exil war
ein Schlüsselelement seines Schreibens“,
sagte Paddy McCartan, einer der Antrag-
steller, in einem Radiointerview. „Aber
ihn für alle Ewigkeit dort zu lassen? Ich
glaube nicht, dass das Teil des Plans war.“
Allerdings gibt es auch keine Beweise
für Gegenteiliges. Der Dichter und Joyce-
Biograf Ian Pindar erinnert daran, dass
die Beziehung zwischen Joyce und Irland
zum Zeitpunkt seines Todes auf dem Tief-
stand war: „Am Tag seiner Beerdigung
hielten sich in der Schweiz zwei irische Di-
plomaten auf. Keiner von beiden machte
sich die Mühe, dort aufzukreuzen. Das
Dublin, das Joyce so liebte, befand sich da
ohnehin schon im Verschwinden. Joyce
war ein großer Europafreund. Ich würde
sagen: Lasst ihn ruhen.“
Schon 1948 wurden die vermeintli-
chen Gebeine des einstigen Joyce-Förde-
rers William Butler Yeats aus Frankreich
nach Irland geholt. Später stellte sich je-
doch heraus, dass man aller Wahrschein-
lichkeit nach den Falschen exhumiert
hatte. cornelius dieckmann


Ein Haushaltsroboter habe die
Haare einer Südkoreanerin „aufge-
gessen“, wurde vor ein paar Jahren
gemeldet. Die Frau hatte auf ihrer
Bodenmatte geschlafen, und den
Unterschied zwischen Fusseln, die
weg müssen, und Frisuren, die
bleiben sollen, den hatte dem Staub-
sauger noch keiner beigebracht.
Dass Haushaltsgegenstände, wenn
sie autonom werden, wie jedes
Kind erst einmal lernen müssen,
ihre Umgebung zu lesen: Das ist
nun das Thema von „Homeschool“,
einem sehr heiteren Film, den die
Designerin Simone Niquille seit
gestern und heute noch bei dem
Festival „Housing the Human“ im
Berliner Radialsystem zeigt. Der
künstlerische Leiter Freo Majer ist
derselbe, den man in Berlin vom
„Forecast“-Festival kennt, und hier
wie dort besteht das Prinzip darin,
dass junge Designer, Architekten,
Künstler unter der Ägide von nam-
haften Mentoren ihre Prototypen
erarbeiten. Und hier könnte man
das Thema nun als spielerischen
Blick in eine Zukunft des Wohnens
bezeichnen, die bereits dabei ist
anzubrechen. Das Schöne ist, dass
sich das weder in stumpfsinniger
Neophilie (Das „Smarthome“
kommt eh, also sind wir vorsichts-
halber begeistert) noch in Dystopis-
mus erschöpft. Stattdessen betont
eine Installation mit dem Titel
„Home is where the Droids are“,
dass das ja auch eine durchaus
unterhaltsame Seite haben wird,
wenn die Möbel demnächst ein

Eigenleben entwickeln, allerdings
eine, die man natürlich bisher vor
allem aus der Gruselliteratur kennt.
„Cloud Housing“ beschreibt ein
Wohnen per App und chinesischem
Punktesystem für das stilistische
Wohlverhalten in den dann eben
nicht mehr wirklich eigenen vier
Wänden. Es gibt Tanzperformances
zu den räumlichen Konsequenzen
polyamouröser Beziehungsgefüge.

Vor allem gibt es Mae-Ling Lokko,
eine Architektin und Materialfor-
scherin, die an Pilzkulturen forscht,
mit denen sich innerhalb von nur
fünf Tagen Schalen, Stühle, ganze
Wände in jeder gewünschten Or-
namentik herstellen lassen – und
zwar einzig durch die Ernährung
der Pilzkulturen mit Essensresten.
Selten waren die Worte Biotonne
und Recycling so ein moder-
nistisches Stilversprechen; und
noch nie war „in die Pilze gehen“
ein so buchstäbliches Vergnügen
wie hier. peter richter

Mit Gütesiegel:
Thomas Piketty (unten) hat
am Dokumentarfilm
zu seinem Buch „Das
Kapital im 21. Jahrhundert“
selbst mitgearbeitet.
FOTOS: STUDIOCANAL

16 FEUILLETON Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


von susan vahabzadeh

D


er amerikanische Philosoph
Matthew Stewart hat für das
MagazinAtlanticvor einem
Jahr eine Titelgeschichte ge-
schrieben über die „Geburt ei-
ner neuen Aristokratie“. Es geht darin
nicht um das viel zitierte eine Prozent der
Menschen, denen angeblich 70 Prozent
von allem gehört, sondern um zehn Pro-
zent der amerikanischen Gesellschaft, zu
denen er sich selber zählt: die Leute mit
den schönen Häusern und den guten Schu-
len. Zu den erschreckenden Thesen von
Stewart gehört, dass er behauptet, in den
USA gebe es die guten Schulen fast nur
noch da, wo auch die schönen Häuser ste-
hen, dass somit die Kinder aus einer
schlechteren Gegend eine solche Schule
nicht einmal dann besuchen können,

wenn sie öffentlich ist und ihre Eltern sie
mit ihren Steuergeldern subventionieren.
Stewart beschreibt die Lage, die der
französische Ökonom Thomas Piketty zu
seinem 2013 veröffentlichten Buch „Das
Kapital im 21. Jahrhundert“ inspiriert ha-
ben – das Thema Ungleichheit ist immer
mehr in die täglichen Debatten eingesi-
ckert. Piketty hat in seinem Buch die Ver-
teilung von Einkommen und Vermögen

seit dem 18. Jahrhundert untersucht, mög-
lichst breit gefächert über die Welt, um
nicht nur ein Bild der Regionen zu entwer-
fen, die gerade aufblühen – oder die auf
dem absteigenden Ast sind. Seither wird
mehr über die Ungleichheit diskutiert, ob
sie notwendig ist oder demokratiezerset-
zend, ob sich Europa, wenn auch langsa-
mer, in die Richtung der USA entwickelt.
Das hat viel damit zu tun, was sich in der
Welt ereignet, aber Pikettys Buch, dieser
unwahrscheinliche Bestseller, hat auch
ein wenig dazu beigetragen.
Der neuseeländische Regisseur Justin
Pemberton versucht, mit seinem Film
„Das Kapital im 21. Jahrhundert“ dem his-
torischen Abriss von Piketty zu folgen – er
zeigt die Bedingungen, die eine unüber-
windbare Ungleichheit schaffen, Klassen,
in die man hineingeboren wird. Er sieht ei-
ne Rückkehr zu Monopolen, eine Verschie-
bung des Besitzes nach oben – nachdem
der Zweite Weltkrieg die Verteilung etwas
eingeebnet hatte. Es gibt da eine Reihe von
Missverständnissen: Nationalismus, der
wie schon früher die Ursachen der Un-
gleichheit verschleiern soll, ein Generatio-
nenkonflikt, der laut Piketty keiner ist,
sondern einer zwischen denen, die von ih-
rer Arbeit leben, und denen, die von ihrem
Besitz leben.
Justin Pemberton hat daraus eine Art
Bilderrausch gemacht, in dem immer wie-
der Piketty und eine ganze Reihe von Wis-
senschaftlern auftauchen, die seine The-
sen, oder zumindest Teile davon, belegen
oder ergänzen – Psychologen, andere Wirt-

schaftswissenschaftler, gar Francis Fu-
kuyama. Dazwischen ein Strom an Bild-
schnipseln. Sie gaukeln Geschwindigkeit
vor, verbreiten ein wenig Leben zwischen
all den sprechenden Intellektuellen, aber
bestenfalls bebildern sie Pikettys Thesen


  • sie haben dem Gesagten nie etwas hinzu-
    zufügen. Alte Jane-Austen-Verfilmungen,
    Wall Street, Fabrikschlote, historische Fo-
    tos, der Mauerfall. Die Kamera zieht vor-
    bei an Obdachlosen auf der Straße und glit-
    zernden Symbolen des Reichtums. Ob die-
    se Illustrationen immer passen, darüber
    kann man mindestens streiten. „Stolz und
    Vorurteil“? Die Bennet-Schwestern bei
    Jane Austen werden zwar nicht erben, und
    das bestimmt ihr Leben, aber alles geht
    glimpflich aus, weil der Feudalherr Mr.
    Darcy gütig darüber wacht.
    Es ging eben nicht um eine filmische
    Umsetzung, es ging um Thomas Piketty,
    um eine leichter verdauliche Variante, als
    es das 800-Seiten-Buch eines Wirtschafts-
    wissenschaftlers ist. Piketty to go, mit


dem Gütesiegel des Autors, sozusagen,
der selber einer der Drehbuchautoren ist
und garantiert, dass sich Pemberton ge-
danklich nicht allzu weit von der Vorlage
entfernt. Die gilt übrigens als einer der am
wenigsten gelesenen Bestseller der Welt.
Man muss sich da nichts vormachen:
Gerade bei dicken Bestsellern gibt es sehr
viele Menschen, die auf eine Fassung un-
ter zwei Stunden hoffen – als Danny Boyle
2015 einen Film nach Walter Isaacsons Bio-
grafie „Steve Jobs“ machte, hat er viele Zu-
schauer enttäuscht, die gehofft hatten,
sich die Lektüre eines Wälzers zu erspa-
ren; aber Boyle hatte aus der Vorlage ein
neues Kunstwerk geschaffen. Das hat Pem-
berton mit seinem Dokumentarfilm natür-
lich nicht getan. Als Vorbereitung für Piket-
tys neues, noch längeres Buch „Kapital
und Ideologie“, das demnächst bei uns er-
scheint, reicht die Filmfassung vielleicht.
Wobei die Vereinfachung der Materie na-
türlich zulasten der statistischen Beweis-
führung geht – und um die wurde, als „Das
Kapital im 21. Jahrhundert“ vor sechs Jah-
ren erschien, am meisten gestritten.
Was hat sich seither verändert? Die Fra-
ge der gefährdeten demokratischen
Grundordnung ist dringlicher geworden –
hier kann Piketty ja eine ganze Reihe von
neuen Beispielen zitieren von Ländern, in
denen ein nationalistischer oder gar rassis-
tischer Ton eine Debatte der Unzufrieden-
heit bestimmt, die eigentlich nicht mit Mi-
granten, sondern mit Chancenlosigkeit
und Armut zu tun hat. Der Diskurs hat sich
in den letzten Jahren an mehreren Stellen

verschoben – es mag schon sein, dass es in
den USA vor zehn Jahren unvorstellbar ge-
wesen wäre, dass sich ein Präsident-
schaftskandidat wie Bernie Sanders als So-
zialist bezeichnet, aber rassistische Äuße-
rungen hätte man ihm auch nicht durchge-
hen lassen.

Am Anfang von Justin Pembertons
Film spricht Piketty darüber, dass er
Angst hat, wie schnell sich die Welt auf den
Stand des 19. Jahrhunderts zurückentwi-
ckeln kann – dass die Verteilung von Chan-
cen und Besitz nur noch übers Erben gere-
gelt wird, es keine Krankenversicherung
mehr gibt und Bildung zum Privileg für we-
nige wird. Es geht eben nicht einfach um ei-
nen Angriff auf den Kapitalismus, son-
dern um seine Reformierbarkeit und die
Frage, wie notwendig das ist. Seinen Blick
auf Piketty macht Pemberton auf jeden
Fall sehr deutlich: Er sieht einen Mann,
der dem Kapitalismus gar nicht den Gar-
aus machen mag, sondern ihn bloß neu er-
finden will.

Capital in the 21st Century, Frankreich/Neusee-
land 2019 – Regie: Justin Pemberton. Drehbuch:
Pemberton, Thomas Piketty, Matthew Metcalfe.
Kamera: Jacob Bryant, Darryl Ward. Studiocanal,
103 Minuten.

Die Tänzerin


AlicaAlonso ist tot


FOTO: DEUTSCHE GRAMMOPHON / LOZAKOVICH

Dubliner wollen


Joyce umbetten


Er habe Angst, sagt Piketty,
dass eineEntwicklung zurück
sehr schnell kommen kann

Daniel Lozakovich


Wer hat, der hat


Entsteht ein neues Klassensystem, in das man durch Besitz hineingeboren wird? Der Regisseur Justin Pemberton hat aus


Thomas Pikettys Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ einen Dokumentarfilm gemacht


Banksys Online-Shop


FOTO: CAMILLE BLAKE

FOTOS: BANKSY TM/2019, GROSSDOMESTICPRODUCT.COM

Justin Pemberton hat Pikettys
Thesen mit einem
Bilderrausch unterlegt

„Housing the Human“ in Berlin


FOTO: AP

DREI FAVORITEN DER WOCHE

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