Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
interview: alex rühle

A


m 20. Oktober wird Sebastião
Salgado in Frankfurt der Frie-
denspreis des Deutschen Buch-
handels verliehen. Salgado, der
1969 vor der Militärdiktatur in
seinem Heimatland Brasilien nach Paris
floh, wurde berühmt für seine groß ange-
legten schwarz-weißen Fotoprojekte, für
die er oft Monate in Flüchtlingslagern,
Kriegsregionen, Hungergebieten verbrach-
te. Nach einem seelischen und körperli-
chen Zusammenbruch Mitte der Neunzi-
gerjahre zog er zurück nach Brasilien, wo
er sich fortan dem Naturschutz widmete.
Salgado, der 1944 auf einer Rinderfarm ge-
boren wurde, ist der erste Fotograf, der
den Friedenspreis bekommt. In der Be-
gründung der Jury wird sein ökologischer
Aktivismus genauso gewürdigt wie seine
Fotoarbeit, heißt es darin doch, er fördere
„durch seine Fotografien soziale Gerechtig-
keit und Frieden und verleiht der weltweit
geführten Debatte um Natur- und Klima-
schutz Dringlichkeit“.


SZ: Sie haben Mitte der Neunzigerjahre
mit der Fotografie aufgehört. Warum?
Sebastião Salgado: Nach meiner zweiten
Ruanda-Reise war ich am Ende. Körper-
lich wie seelisch. Ich hatte mehrere offene
Infektionen. Der Arzt sagte: Sie sind am
Sterben, aber wir können in unseren Auf-
nahmen und Ihrem Blutbild nichts finden.
Ich hatte in all den Jahren zuvor zu viel
Schreckliches gehen. Da habe ich beschlos-
sen, mit der Fotografie aufzuhören und
bin mit meiner Frau Lélia zurück nach Bra-
silien gezogen, um Bauer zu werden.
Warum denn Bauer?
Meine alten Eltern haben mir ihre Farm
vermacht. Die 800 Hektar waren damals
nichts als Wüstenei, alles abgeholzt und
verdorrt, Erosion, nackte Hänge, keine Tie-
re. Wir haben dann gemeinsam mit vielen
Angestellten angefangen, 2,5 Millionen
Bäume zu pflanzen, aus über 300 endemi-
schen Arten, eines der größten Auffor-
stungsprojekte Brasiliens. Das hat mich
ins Leben zurückgeholt. Heute ist diese
ehemalige Steppe ein Naturschutzgebiet.
Haben Sie dort in diesem Jahr etwas mit-
bekommen von den Amazonasbränden?
Nur im Fernsehen. Unsere Farm liegt im


Mata Atlântica, dem zweiten Regenwald
Brasiliens, 2000 Kilometer weiter südlich,
der sich am Atlantik entlangzieht. Hier ist
die Zerstörung schon viel weiter als in Ama-
zonien, es sind überhaupt nur noch sieben
Prozent davon übrig. Wir versuchen jetzt,
einen größeren Teil des Mata Atlântica wie-
derzubeleben.
Wie machen Sie das?
Unsere Farm liegt in einer Senke, so groß
wie Portugal. Wir wollen alle versiegten
Quellen in diesem Tal wiederbeleben und
die noch bestehenden retten. Wenn du
400 Bäume rund um eine ehemalige Quel-
le pflanzt, kommt das Wasser zurück.
Aber dafür brauchen Sie ja Mitstreiter.
Können Sie andere Bauern von Ihrem
Rekultivierungsprojekt überzeugen?
Auf unserer Fazenda findet man heute 150
Vogelarten, Jaguare, Affen... Das hat viele
andere Bauern überzeugt. Insgesamt wur-
den schon rund 2000 Quellen neu belebt.
Das klingt nach einem Gegenprogramm
zu den Amazonaszerstörungen des brasili-
anischen Präsidenten Bolsonaro.
Jair Bolsonaro wurde vor allem von zwei
Gruppen gewählt: den Farmern. Und den
Evangelikalen. Beide wollen den Amazo-
nas vernichten. Die mächtigen Groß-
farmer lechzen nach dem Boden. Die Evan-
gelikalen wollen die Seelen der letzten „Wil-
den“ retten, sie missionieren um jeden
Preis und zerstören so all diese Kulturen.

Wenn es nicht eine globale Koalition gibt,
die Bolsonaro in den Arm fällt, wird der
größte Teil Amazoniens bald zerstört sein.
20 Prozent sind ja bereits verschwunden.
Aber was kann man von Europa aus ma-
chen gegen diese Zerstörungen?
Das Mercosur-EU-Freihandelsabkom-
men, das gerade ausgehandelt wird, ist ein
einziges Geldverschiebeprojekt mit Süd-
amerika. Am meisten davon profitieren
wird Brasilien. Das Land hat ein enormes
Interesse daran, noch mehr Rindfleisch in
die EU zu exportieren, und will das Abkom-
men deshalb um jeden Preis. Also sollte

Europa sich das zunutze machen und den
Schutz des Regenwaldes und der indige-
nen Bevölkerung zur Bedingung für das Ab-
kommen machen. Nicht nur mit windelwei-
chen Willensbekundungen, es muss jähr-
lich von internationalen Beobachtern über-
prüft werden, ob sich die Regierung daran
hält. So wie das Abkommen momentan for-
muliert ist, würde die EU mit der Unter-
zeichnung im Grunde nur die weitere
rasend schnelle Zerstörung finanzieren.
Glauben Sie, Ihr Instituto-Terra-Projekt
ist auf andere Gegenden übertragbar?
Mit anderen Worten: Ist Wiederauffor-
stung das Wichtigste, was man momen-
tan machen kann?
Absolut. Wobei ja Wald nicht Wald ist. Das
meiste, was bei euch in Deutschland an
Wäldern wächst, ist einfach nur Holzzucht,
damit man Nachschub für Möbel, Pellets,
Bauholz hat. Ihr braucht wilde Wälder. Bio-
diversität, Termiten, Vögel, Unterholz.
Immerhin glauben Sie ja, dass man all die
Zerstörung rückgängig machen kann.
Selbstverständlich. Aber man muss es
wirklich wollen. Wir müssen uns spirituell
unserem Planeten zuwenden.
Wie meinen Sie das denn?

Wir haben das Geld und die technischen
Möglichkeiten, dem Planeten das Leben zu-
rückzugeben, das wir ihm im Lauf der letz-
ten 150 Jahre geraubt haben. Dafür müs-
sen wir aber überhaupt erst wahrnehmen,
welchen unglaublichen Reichtum die Evo-
lution hervorgebracht hat.
Fotografieren Sie deshalb mittlerweile
vor allem Eisberge, Urvölker, wilde Tiere?
Mein „Genesis“-Projekt ist geboren auf un-
serer Fazenda. Als ich gesehen habe, wie
all die Tiere zurückkommen in diese zuvor
zerstörte Gegend, habe ich mich auf den
Weg gemacht, die Tiere und Landschaften
zu fotografieren, die weltweit am Ver-
schwinden sind. Ich wollte zeigen, wie fra-
gil und wertvoll das alles ist. Das war 2004.
„Genesis“ ist dann als Ausstellung um die
Welt gezogen. Ist das Projekt der Natur-
fotografie damit für Sie abgeschlossen?
Aber nein. Momentan arbeite ich an einem
Buch über den Reichtum Amazoniens. Das
soll 2021 als Buch fertig werden und dann
als Ausstellung auf Reisen gehen.
Sehen Sie selbst eigentlich einen Zusam-
menhang zwischen Ihren früheren Foto-
arbeiten und Ihrer heutigen großformati-
gen Naturverherrlichung?

In den Arbeiten über rechtlose Arbeiter in
Goldminen oder Kriegsflüchtlinge im Kon-
go ging es mir um soziale Gerechtigkeit.
Um Ethik. Im Grunde sind die Fragen die-
selben geblieben, nur dass sich mein Blick
geweitet hat, ich sehe den Menschen heute
als Teil eines größeren Zusammenhangs.
Sie nennen Ihren Stil barock. Warum?
Weil ich extrem vom portugiesisch-brasili-
anischen Barock beeinflusst wurde. Ich
bin mitten im Barock aufgewachsen, zwi-
schen den opulenten Kirchen und wogen-
den Fassaden, das hat meine Fotografien
beeinflusst.
Ihre Kritiker sprechen in dem Zusammen-
hang von Überwältigung und Pathos. Was
sagen Sie dazu?

Gar nichts. Natürlich enthalten meine Bil-
der ein gewisses Pathos. Gabriel García
Márquez hat mir mal gesagt: Ich schreibe
immer dasselbe Buch in immer neuen Ver-
sionen. Auch ich mache eigentlich immer
dasselbe Bild mit anderen Motiven, ande-
rem Licht. Dass das den einen gefällt und
den anderen nicht, ist doch klar.
Haben Sie eigentlich immer in Schwarz-
Weiß gearbeitet?
Ich habe angefangen in Farbe. Ich war ja
nicht reich, sondern habe Auftragsarbei-
ten für Magazine gemacht. Das war alles in
Farbe. Aber als ich 1986 Arbeiter in einer

verschlammten Goldmine fotografierte,
fand ich das stimmiger in Schwarz-Weiß.
Diese Bilder haben dieSunday Timesund
dieNew York Timesgedruckt. Die Serie
brach das Monopol der Farbfotografie, ich
habe danach nie mehr in Farbe gearbeitet.
Sie sagen, Fotografie sei eine universelle
Sprache. Was braucht man, um ein gutes
Foto zu machen?
Den Instinkt für den richtigen Moment.
Wissen um kulturelle und geschichtliche
Zusammenhänge. Aber die drei wichtigs-
ten Dinge: Geduld. Viel Geduld. Noch mehr
Geduld.
Wie geht es Ihnen damit, dass Sie mit
Ihrer ganzen Rumfliegerei selbst eine
Spur der Zerstörung legen?
Das ist furchtbar. Und der Grundwider-
spruch, in dem unsere ganze Gesellschaft
steckt. Wir müssen unser Leben komplett
umstellen. Ansonsten wird es furchtbar
werden. Es ist ja nicht nur der Amazonas,
der brennt. Ganz Afrika steht in Flammen.
Sumatra war früher ein einziger, wunder-
schöner Urwald. Heute gibt es dort nur
noch schnurgerade Palmölplantagen. Und
die ganze Zerstörung einzig und allein für
unsere Schokolade. Die war früher härter.
Nur um sie geschmeidiger zu machen, hat
man Palmöl zugesetzt – und aus diesem
geradezu absurden Grund mehr Urwälder
zerstört als durch alle Feuer.
Haben Sie eigentlich noch Hoffnung?
Oh ja. Viel mehr als früher. Als ich nach
dem Genozid in Ruanda meinen Zusam-
menbruch hatte, war ich absolut düster.
Weil ich bis dahin alle Hoffnung allein auf
den Menschen gesetzt hatte. Durch unser
Aufforstungsprojekt habe ich all die ande-
ren Spezies erst entdeckt. Ich bin ein Exem-
plar einer Art neben Zehntausenden ande-
ren Arten. Das hat mir die Hoffnung wie-
dergegeben. Wir Menschen sind Raubtie-
re. Aber der Planet wird uns überleben.
Sie sagen, die Menschen müssten sich
wieder der Natur zuwenden. Aber wie?
Tja, das ist schwer... Wir leben in unseren
Städten in derart künstlichen Lebenswel-
ten, im Grunde wie Aliens. Wir müssen den
Planeten Erde überhaupt erst wieder ent-
decken. Aber ich weiß, dass das möglich
ist. Schauen Sie mich an, früher hatte ich
keine Ahnung, heute freue ich mich über
Aras, Habichte und diese Ozelotfamilie,
die bei uns auf der Farm gesichtet wurde.

„Wir leben in den
Städten in künstlichen Welten,
im Grunde wie Aliens.“

„Ich bin mitten im Barock
aufgewachsen (...), das hat
meine Fotografie beeinflusst.“

Pinguine


im Barock


Sebastião Salgado ist der erste Fotograf, der


den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält.


Ein Gespräch über Kunst und Engagement


18 FEUILLETON HF2 Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


Fotos aus dem
Großbildband „Genesis“
(Taschen-Verlag,
60 Euro): Pinguine auf den
Sandwichinseln. Blick
auf den Zusammenfluss
von Little Colorado
und Colorado am Grand
Canyon. Unten:
Sebastião Salgado in seiner
Berliner Ausstellung
von „Genesis“, 2015.
FOTOS: REGINA SCHMEKEN; TASCHEN (2)

Samstag, 19. Oktober 2019


10.00 | Katja Brandis, Seawalkers: Gefährliche Gestalten | Roswitha Budeus-Budde


10.30 | Thomas Schuler, Auf Napoleons Spuren | Susanne Hermanski


11.00 | Thorsten Schröder, Mit jeder Faser. Mein Weg zum härtesten Triathlon der Welt | Martin Schneider


12.00 | Rolf und Adele Seelmann-Eggebert, In Hütten und Palästen | Susanne Hermanski


13.00 | Jan Weiler, Kühn hat Hunger | Susanne Hermanski


13.30 | Paul Maar, Der kleine Troll Tojok | Roswitha Budeus-Budde


14.00 | Uwe Timm und Axel Scheffler zum 30. Geburtstag von Rennschwein Rudi Rüssel | Roswitha Budeus-Budde


1 5.00 | Reinhold Messner, Rettet die Berge / Benevento und Der Eispapst. Die Akte Weizenbach | Martin Schneider


Sonntag, 20. Oktober 2019


12.00 | Christian Roos, Autor der Reihe Glücklich in / Glücklich reisen –
sieben Dinge, die wir durchs Reisen gelernt haben

Weitere Infos zu Veranstaltungen

der Süddeutschen Zeitung unter

sz-veranstaltungen.de

Sie finden uns in

Halle 3.0,

C 103

Autorengespräche mit SZ-Journalisten


auf der Frankfurter Buchmesse 2019

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