Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
von hedwig richter

U


nd verstehe die Freiheit/ Auf-
zubrechen“ – darum geht es
in dieser Biografie. Friedrich
Hölderlin auf dem Weg von
Tübingen nach Stuttgart, von
Heidelberg nach Frankfurt und über die
Schwäbische Alb in die Schweiz. Am Ne-
ckarentlang nach Nürtingen. Und von dort
nach Jena, dem Sehnsuchtsort, wo Hölder-
lin aber auch nicht zu bleiben vermag.
Rüdiger Safranski schreibt eine konven-
tionelle Biografie, die 1770 mit der Geburt
in Lauffen am Neckar beginnt, bis zu Höl-
derlins Tod 1843 im Tübinger Turm, eini-
ge Kilometer den Fluss hinauf. Das Werk
schließt mit einem letzten Kapitel über
die Rezeption des Dichters. Und doch ist
dieses Buch so ungewöhnlich schön und
„trunken“, voll des „göttlichen Feuers“,
das Friedrich Hölderlin nicht loskommen
lässt von der Sehnsucht nach der neuen
Freiheit. „Göttliches Feuer auch treibet,
bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen, So
komm! daß wir das Offene schauen“, heißt
es in einer Elegie. „Was also ist das für ein
Feuer, das in Leben und Poesie Hölderlins
brennt? Das ist die Frage, der dieses Buch
nachgeht“, schreibt Safranski einleitend.


Der Autor bietet keine originellen The-
sen und keine schlichten Antworten.
Safranski erzählt mit großer Meister-
schaft und entfaltet die merkwürdig schö-
ne und ungeheure Welt des Aufbruchs in
die Moderne. Und wie ließe sich diese Ge-
schichte besser erzählen als am Neckar,
wo die hoffnungsfrohen Jünglinge in Se-
minaren saßen und Kant feierten und die
Welteroberung planten, insbesondere die
geistige? In seinen Text flicht Safranski
die Hölderlin-Verse und Strophen und
Hymnen. Ihr eigentümlicher Glanz be-
leuchtet die Landschaften zwischen Ne-
ckar, Rhein und Main und die gewaltigen
Geisteswelten zwischen Himmel und Er-
de. „In deinen Tälern wachte mein Herz
mir auf. / Zum Leben, deine Wellen um-
spielten mich.“ In der schwäbischen Enge
schien das Licht des Neuen einfach beson-
ders hell zu strahlen.
Safranski erzählt vom Herkunftsmilieu
des Dichters, der „Ehrbarkeit“, diesem
selbstbewussten Bürgertum im armen
Württemberg, in dem sich die Stände
schon früh ein beträchtliches Maß an Mit-
bestimmung erstritten hatten. Die anmu-
tige Landschaft ist voller Sonderlinge,
Pfarrerskinder und Genies. Im Tübinger
Stift, wo nach der Reformation begabte
Landeskinder während ihres Theologie-
studiums gehegt und gerüstet wurden,
lebte Hölderlin bekanntermaßen in ei-
nem Zimmer mit Hegel, den seine Kommi-
litonen für schwerfällig hielten, und dem
frühreifen Schelling. Noch genialer frei-
lich war der Primus Karl Christoph Renz,
von dem das Dreigestirn Hegel, Schelling,
Hölderlin die größten Dinge erwartete;
doch Renz wurde Dorfpfarrer und ließ
sich auch nicht durch verschiedene Rufe
auf eine Professur von seinem Glück ab-
bringen.
Renz ist eine kleine Miniatur in dieser
reichen Biografie, ein Gegenbild zu Höl-
derlin. Denn dieser glüht vor Ehrgeiz, es
quält ihn der „Durst nach Männervollkom-
menheit“, wie Hölderlin es selbstkritisch
und selbstbewusst auf den Punkt brachte.
War das sein göttliches Feuer? „Nur Einen
Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! / Und ei-
nen Herbst zu reifem Gesange mir“, fleht
er. Dem Ehrgeiz opfert er die Liebe, die Le-
benspläne der Mutter, die Häuslichkeit
und die Anmut des Daseins, die allesamt
für ihn in der Kindheit versunken bleiben.


Allerdings verfällt Rüdiger Safranski
nicht der Versuchung, Hölderlins Biogra-
fie als die Geschichte des revolutionären
Märtyrers zu erzählen, die seit den Sechzi-
gern präsentiert wurde und jene vielfälti-
ge Kompliziertheit der Aufbruchs- und
Freiheitssehnsüchte auf ein politisches
Motiv dezimiert. Württemberg war nicht
schlicht ein Hort der Tyrannei – ein ahisto-
risches Urteil. Die Studenten im Stift
machten aus ihrer freiheitsliebenden Ge-
sinnung keinen Hehl, verehrten den ge-
schassten Schiller, Hölderlin besuchte
Schubart, der nach seiner Haft als Frei-
heitskämpfer gefeiert und verehrt wurde.
Dozenten und Professoren brachten
den Studenten die neueste Philosophie na-
he, Spinoza, Leibniz und immer wieder
Kant. Denn tatsächlich: Der Aufbruch und
das göttliche Feuer zeigten sich vor allem
hier, in der „revolutionären Denkungsart“
der neuen Philosophie, von der ganz Tü-
bingen erfüllt war. Kant brachte „die Ka-
thedralen der Metaphysik zum Einsturz“,
so Safranski. Den Verboten zum Trotz tra-
fen sich die jungen Männer abends zum
Singen und Saufen, Politisieren und Re-
nommieren. Für Hölderlin und seine
Freunde jedenfalls traf zu, was 1790 in ei-

nem herzoglichen Reskript gegen die Stift-
ler vorgebracht wurde: „Geringschätzung
der Theologie, Abneigung gegen den Pfar-
rerberuf, Hang zur Frivolität und Wohlle-
ben, Unbotmäßigkeit und falscher Frei-
heitssinn“. Der Herzog mochte das nicht,
aber seine Macht hatte Grenzen. Als er
Schelling zur Rede stellte, weil dieser die
Marseillaise ins Deutsche übersetzt ha-
ben soll, antwortete der in pietistischer
Manier: „Durchlaucht, wir fehlen alle man-
nigfaltig.“
Auch der Pietismus der Mutter, der
schönen Witwe, und der ganze protestanti-
sche Glaubensapparat lassen sich nicht
nur als Bedrängnis des großen Geistes
Hölderlin verstehen. Er lebte in dieser
Frömmigkeit, und er ist nie von ihr losge-
kommen. Schelling, Hölderlin und Hegel
greifen auf die lutherischen Sprach- und
Vorstellungswelten zurück, sie reden vom
„Reich Gottes“ als einem Jugendtraum,
der das Religiöse transzendierend bis ins
Politische reicht. Das göttliche Feuer der

Liebe, die Sehnsucht nach einem „Absolu-
ten“, was auch immer damit gemeint war:
Sie treiben zur Freiheit. Hölderlin findet
in der antiken Götterwelt nicht nur gelehr-
ten Stoff, vielmehr entdeckt er hier echte
Religion. Und selbst in seinem frommen
Griechenland verehrt er die Republik.
„Rauschte dort die Stimme des Volks, die
stürmisch-bewegte, / Aus der Agora nicht
her“? Hölderlin, notiert Safranski, ist „re-
volutionsfromm“.
Fieberhaft verfolgen die Tübinger die
Französische Revolution und wissen: Hier
ist Aufbruch, hier brennt das Feuer. Poli-
tik macht sich auf von den Höfen und
kehrt ein in die Herzen der Menschen. Die
„Vaterlandsliebe“ ist für sie die Freiheits-
liebe in den Landschaften ihrer Heimat.
Safranskis Hölderlin erweist sich auch
nicht als der im tumben Deutschland ver-
kannte Genius. Frauen und Männer such-
ten die Nähe des geistvollen schönen Dich-
ters. Man nannte ihn den Apoll. Hölderlin
hatte Glück und zahlreiche Freunde, die
ihm ehrenwerte Stellungen besorgten,
ihn verehrten und ihm Gedichtausgaben
besorgten oder einfach Kost und Logis
schenkten. Schiller präsentierte Hölderlin
der Welt: „Das ist mein liebster Schwabe“.

Und doch blieb er ein Geheimtipp für die
Kennerinnen und Eingeweihten, ein Au-
tor des Nachruhms. Das Ende im Wahn-
sinn, in dem Hölderlin die Hälfte seines Le-
bens, 36 Jahre, verbrachte, muss gleich-
wohl nicht als ein verzweifeltes erzählt
werden; auch das wird bei Safranski deut-
lich. Schon gar nicht bedarf es der empirie-
fernen Thesen des Germanisten Pierre
Bertaux: Der Jakobiner Hölderlin habe
sich im simulierten Wahnsinn der deut-
schen Kleingeisterei entzogen. Studenten
besuchten den Dichter in den späten Jah-
ren und lauschten seiner Rede. Die verach-
tete Obrigkeit zahlte eine Rente, er hatte
ein gutes Auskommen und fand Ruhe. Bei
der Familie des Tischlermeisters Zimmer
konnte er von seinem Turmzimmer hinun-
ter auf den Neckar gucken.
Und doch, es ist eine Zeit im Übergang,
der Aufbruch schmerzt und allzu oft ge-
lingt er nicht. Nicht nur für Frauen bleibt
der Lebenslauf eng; sie haben ihren Auf-
tritt als Liebende, Mahnende, Pflegende
und Bewundernde. Auch das Männerle-
ben ist beschränkt.

Hölderlin misslingt der Weg in die Selb-
ständigkeit, er kann sich nicht als Dichter
ernähren; er hätte, wie von der Familie vor-
bestimmt, heiraten und Pfarrherr werden
sollen. Auch seiner Liebe mit Susette
Gontard, der Frankfurter Bankiersgattin,
glückt nicht der Aufbruch. Sie können
nicht aus den Verhältnissen ausbrechen,
das wissen sie. Doch in der Dichtung lebt
die Liebe und wird versöhnt: „Größers
wolltest auch du, aber die Liebe
zwingt/ Alluns nieder; das Laid beuget ge-
waltiger; / Doch es kehret umsonst
nicht/ Unser Bogen, woher er kommt.“
Und auf die Poesie kommt es an! Hier
brennt das Feuer! Hier geschieht das
„wirklich ‚freie Handeln‘“, so der Biograf,
„Poesie ist nicht an die Wirklichkeit gefes-
selt, sie schafft neue Wirklichkeiten; sie
ist nicht einfach nur weltabbildend und
welterklärend, sondern sie ist im eminen-
ten Sinne weltschaffend.“
Selbst da, wo der Aufbruch gelang, er-
wies er sich oft genug als fragwürdig. Die
Menschen sind sich selbst entfremdet. In
Hölderlins einzigem Roman „Hyperion“
ist der Held ein Suchender. Hölderlin
bricht auf – und leidet daran. Es ist ihm,
dem „mehr von Göttern ward, als er ver-
dauen konnte“, zu viel. Er liebt die Revolu-
tion und ist entsetzt über den Terror und
die Raubzüge des Revolutionsheeres. Höl-
derlin nutzt die Säkularisierungstenden-
zen, und doch wird dem frommen Sohn
die Welt ohne Götter zu kalt. Brechung
und Beschränkung sind in dieser neuen
Welt inhärent.
Safranski erzählt uns Hölderlins Leben
als das des modernen Menschen in seiner
Zerrissenheit und in seiner Schönheit. Es
ist nicht eine Geschichte der Dekadenz,
sondern die Geschichte des göttlichen
Feuers, das erleuchtet – und verbrennt.
Ein Abenteuer. „Alles prüfe der Mensch,
sagen die Himmlischen,/ Daß er, kräftig
genährt, danken für Alles lern’,/ Und ver-
stehe die Freiheit, / Aufzubrechen, wohin
er will“.

Göttliches Feuer


Poesie ist nicht an die Wirklichkeit gefesselt,


sie schafft neue Wirklichkeiten: Rüdiger Safranskis Dichterbiografie


„Hölderlin: Komm! ins Offene, Freund!“


Rüdiger Safranski:
Hölderlin:Komm! ins
Offene, Freund!
Biografie. Carl Hanser
Verlag, München 2019.
336 Seiten, 28 Euro.

Die Helden aus Manga und Anime wer-
den sichauch an diesem Wochenende,
den traditionellen Publikumstagen der
Buchmesse, wieder in der Cosplay Area
der Messe einfinden. Und auch der auf-
blasbare Asterix steht wie immer da und
wirbt für den in der nächsten Woche er-
scheinenden neuen Band. Egmont Ehapa
aber, der Verlag, der die Abenteuer des
Galliers auf den deutschen Markt bringt,
ist erstmals seit Jahrzehnten nicht mehr
mit einem Stand vertreten. Auch die Berli-
ner Verlage Reprodukt und Avant sowie
Edition Moderne aus der Schweiz haben
sich die Kosten eines Messeauftritts ge-
spart. Nachdem sich Panini, Splitter und
Tokyopop schon früher verabschiedet
hatten, spielen Comicverlage auf der
Buchmesse kaum noch eine Rolle. Ledig-
lich Carlsen und Cross Cult leisten sich ei-
nen Messestand. Graphic Novels, Man-
gas oder klassische Comics findet man
dennoch; mehr als 200 Verlage bieten auf
der Messe Comicliteratur an. Die Neunte
Kunst, das ist die gute Nachricht, ist
selbstverständlicher Teil vieler Verlags-
programme geworden. Am Stand des
Berlin-Verlags etwa stechen der berühm-
te rote Umhang und die weiße Haube ins
Auge, die der Leser von der „Report der
Magd“ kennt. Jetzt gibt es den Stoff auch
als Graphic Novel.

Verlage, die ihr Geld überwiegend mit
Comics machen, gehen aber lieber nach
Leipzig, der Publikumsmesse, wo die
Sammler mit ihren Rollkoffern dafür sor-
gen, dass die Kosten wieder eingespielt
werden. Dass die Lizenzmesse Frankfurt
für sie uninteressant geworden sei, liege
an der Veränderung des Marktes: „Frü-
her diente der Messestand auch zum
Vertriebsmarketing“, erklärt Wolf Steg-
maier, der Editorial Direktor der Egmont
Comic Collection. Jetzt würden 90 Pro-
zent des Umsatzes mit großen Ketten
und Amazon gemacht. Bei den Publi-
kumsmessen, dem Comicsalon Erlan-
gen, dem Münchner Comicfestival oder
in Leipzig, werde Egmont Ehapa aber wei-
terhin präsent sein.
„Die Frankfurter Buchmesse verliert
an Bedeutung“, sagt Avant-Verleger Jo-
hann Ulrich. Sie sei zu teuer. Den Einkauf
von Lizenzen könne man heutzutage per
Mail erledigen. Nur beim Cross-Cult-Ver-
lag, der auf Mangas spezialisiert ist, ist
man froh um die persönliche Begegnung
in Frankfurt. „Das ist die beste Gelegen-
heit, Japaner zu treffen“, sagt Lea Heiden-
reich, die für Mangas zuständige Redak-
teurin. Und Verleger Andreas Mergentha-
ler ergänzt: „Bei Comicmessen trifft man
immer die gleichen Leute. Hier findet
man Käufer, die man woanders nicht fin-
det.“ martina knoben

Die Jünglinge saßen im Seminar


am Neckar, feierten Kant


und planten die Welteroberung


Einsamer


Asterix


Warum Comic-Verlage auf die
Frankfurter Buchmesse verzichten

Die Beziehung mit Susette
Gontard, der Bankiersgattin
aus Frankfurt, scheitert

„Die Liebe zwingt / All uns
nieder“: Blickauf den
Hölderlinturm. FOTO: WEBER/IMAGO

DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 HF2 FEUILLETON LITERATUR 19


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rowohlt.de

© Asja Caspari

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«Ein erzählerisches Meisterstück.»


Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung


«Ein Pageturner ... ein atemberaubendes Stück Zeitgeschichte ... Ein großer Roman.»


Carsten Otte, SWR 2 «Lesenswert»


«Schon die wahre Geschichte klingt so spektakulär, als wäre sie erfunden ...


Ein ebenso klug komponiertes wie spannendes Buch.»


Martin Doerry, Der Spiegel


«In der Belletristik gibt es erstaunlich wenig Ve rgleichbares.»


Cornelia Geißler, Berliner Zeitung


Nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des


abnehmenden Lichts» kehrt Eugen Ruge zurück zur Geschichte


seiner Familie – in einem herausragenden neuen Roman.

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