Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
Auf dieser Seite
zeigen wirjede
Woche neue,
unbekannte oder
verschollene
Werke von Künst-
lern, Autoren,
Architekten,
Komponisten,
Regisseuren und
Designern. Sie
sprechen für sich
selbst, wir erzählen
die Geschichte
ihrer Entstehung.

Der Berliner Künstler Leon Kahane hat sich auf die Spuren seiner


Großmutter begeben. Sie führten ihn in einen modernistischen Wohnkomplex


bei Paris, der den Nazis als Konzentrationslager diente.


24 FEUILLETON GROSSFORMAT Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


ABB.: DORIS KAHANE, 1944 VIDEOSTILLS: LEON KAHANE

Rechts obere vier Bilder:
Die Citéde la Muette,
ein modernistisches
Arbeiterwohnprojekt
von Marcel Lods
und Jean Prouvé,
diente den Nazis als
Konzentrationslager
und ist heute ein
Wohnheim vor allem
für Migranten.

Bild 5:
Das offizielle
Gedenkzentrum
ist Teil des Mémorial
de la Shoah in Paris,
entworfen von den
Architekten
Diener &Diener.

Bilder 6 und 7:
Das kleine private
Archiv mitten in der
Cité wird von
Nachkommen der von
den Nazis Inhaftierten
betrieben.

W


ie soll man gedenken?
Welche Geschichten wer-
den gehört – oder über-
haupt erzählt? Und wie
kann institutionelles Erin-
nern gelingen, aufklärend und zugleich er-
greifend, ohne dass es zu Ritualen ver-
kommt? Am 28. November eröffnet im
Münchner NS-Dokumentationszentrum
die Ausstellung „Tell me about yesterday
tomorrow“, in der sich 30 Künstlerinnen
und Künstlern mit der Deutung von Ver-
gangenheit und der Anknüpfung an unse-
re Gegenwart beschäftigen. Die Ausstel-
lung greift explizit den politischen Kon-
text einer global erstarkenden Rechten
auf: Wie erinnert man in Zeiten, in denen
historische Tatsachen offiziell umgedeu-
tet, verwischt, verschwiegen werden?
Einer der ausstellenden Künstler ist der
Berliner Leon Kahane. Seine jüdische
Großmutter, die Malerin Doris Kahane,
war als junge Frau in Drancy interniert, ei-
nem Lager bei Paris, von dem aus über
67 000 Menschen nach Auschwitz depor-
tiert wurden. Sie hat mehrere Zeichnun-
gen von inhaftierten Kindern angefertigt,
die meist sofort bei der Ankunft von ihren
Eltern getrennt wurden (oben). Leon Kaha-
ne war überrascht, als er auf seiner Recher-
che merkte, dass die Nazis das Lager in ei-
nem Gebäudekomplex untergebracht ha-
ben, der ursprünglich Teil der Cité de la
Muette, eines modernistischen Arbeiter-
wohnprojekts war, von Marcel Lods und
Jean Prouvé geplant als „vertikale Garten-

stadt“, in dem man den Bewohnern
„Licht, Luft und ungestörtes Privatleben“
versprochen hatte. „Es ist interessant zu
sehen, wie die antimodernen Nazis sich
die Moderne stets gefügig gemacht ha-
ben. Das Ensemble war für sie enorm
praktisch, weil man darin viele Men-
schen unterbringen und überwachen
konnte,“ so Kahane: „Dieses Phänomen
gleichzeitiger Abwertung und Aneignung
der Moderne durch antimoderne politi-
sche Kräfte feiert gerade eine Renais-
sance – man braucht sich nur anzuschau-
en, wie die Rechtspopulisten die sozialen
Medien kapern.“ Paradoxerweise steht
ausgerechnet der Teil der Cité, der als La-
ger diente, immer noch und beherbergt
Sozialwohnungen, in erster Linie für Mi-
granten. An die Lagerzeit erinnern zwei
unterschiedliche Dokumentationszen-
tren. Eines ist Teil des großen Mémorial
de la Shoah in Paris, entworfen von den
Architekten Diener & Diener, „auf dem
neuesten Forschungsstand, mit großem
Archiv“, so Kahane. Das andere ein winzi-
ges Museum, das von Nachkommen der
Überlebenden mitten in der Cité betrie-
ben wird und Fotos der Inhaftierten zeigt.
„Dieser zweite Ort ist persönlicher, anrüh-
render“, so Kahane. „Im Grunde sagt er
vor allem: Wir sind noch da.“ Zwei Arten
des Gedenkens, beide unabdingbar. Wie
können sie in ein Verhältnis zueinander
gesetzt werden? In Drancy herrscht Funk-
stille zwischen den beiden Orten und Ver-
einen. alex rühle
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