Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
von markus zydra

M


ario Draghi greift ins Regal
und zieht aus einem Stapel
ein Foto hervor. Es zeigt ihn
zusammen mit dem frühe-
ren Bundesbankchef Hans
Tietmeyer. Der neue Präsident der Euro-
päischen Zentralbank wirkt, als wolle er
mit dem Foto seine tiefe Sympathie für die
Bundesbank unterstreichen. Draghi trägt
damals noch seine markante rundliche
Brille. Er ist an diesem Tag im März 2012
erst einige Monate im Amt und wundert
sich über einen Brief von Jens Weidmann,
dessen Inhalt an die Öffentlichkeit gelangt
war. Darin warnte der Bundesbankpräsi-
dent vor den Risiken der lockeren Geldpoli-
tik. „Anrufen“ habe Weidmann doch kön-
nen, meint Draghi und erzählt, wie die Bun-
desbank ihre Geldpolitik früher gegen viel
Kritik durchgezogen habe. Jetzt müsse
auch die EZB einen mutigen, vielleicht un-
populären Weg gehen. Doch er spüre
„Angst“ in Deutschland.

Draghi, der Ende dieses Monats, nach
acht Jahren im Amt, seinen Posten an die
Französin Christine Lagarde abgibt, mag
damals klar geworden sein: Es wird nicht
leicht werden zwischen ihm und den Deut-
schen. Schon vor seiner Berufung grassier-
te Misstrauen gegen den ehrgeizigen Öko-
nomen, der in den 1970er-Jahren mit fünf
späteren Nobelpreisträgern an der renom-
mierten amerikanischen Universität MIT
studiert und später unter anderem als In-
vestmentbanker bei Goldman Sachs gear-
beitet hatte. Außerdem war er Italiener,
was in den Augen einiger schon allein
Grund genug war, ihn abzulehnen. Doch
der Mann aus Rom wollte den Posten unbe-
dingt. Er traute sich zu, den Euro zu retten.
Christine Lagarde, die am Freitag von
den EU-Staats- und Regierungschefs offi-
ziell zur neuen EZB-Präsidentin ernannt
wurde, übernimmt wegen Draghis locke-
rer Geldpolitik ein schweres Erbe. Der Leit-
zins liegt bei null Prozent, das Volumen
der Anleihekäufe beträgt fast drei Billio-
nen Euro. Den Negativzins auf Bankeinla-

gen, mit dem deutsche Sparer hadern, hat
Draghi im September sogar noch auf
0,5 Prozent erhöht. Es wirkt bizarr: Euro-
pas Wirtschaft wächst und die EZB steckt
im Panikmodus. Das versteht in der deut-
schen Bevölkerung kaum noch jemand.
Der Clinch mit deutschen Politikern,
Ökonomen, Bankern und Währungshü-
tern prägte Draghis Amtszeit. Es ging rup-
pig zu. So gab es den Vorwurf, Draghi, der
„Falschmünzer“ wolle „seinen“ Italienern
auf Kosten der Deutschen helfen. Der da-
malige Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble (CDU) giftete, Draghis Geldpoli-
tik sei für den Erfolg der AfD mitverant-
wortlich. Der EZB-Präsident retournierte,
Deutschland solle nicht immer „Nein zu al-
lem“ sagen, das sei keine Lösung.
Draghi musste früh lernen, Verantwor-
tung zu übernehmen, auch für die jünge-
ren Geschwister. Die Eltern starben, als er
15 Jahre alt war. Sein Vater sprach sehr gut
Deutsch, überhaupt sei die Familie von
der deutschen Kultur und dem europäi-
schen Gedanken geprägt gewesen, erzählt
er. Das Erbe der Eltern ging durch die hohe
Inflation in Italien fast vollständig verlo-
ren. Diese Erfahrung machte ihn sensibel
für die Furcht der Deutschen vor Geldent-
wertung. Die Schulzeit verbrachte er in ei-
ner Jesuitenschule. Dort brachten ihm die
Geistlichen einerseits Demut bei, gaben
ihm andererseits aber auch mit auf den
Weg, sich stets treu zu bleiben. Seine Erfah-
rungen aus der Studienzeit in den USA be-
stärkten ihn, dass die EZB ihre Probleme
pragmatisch lösen müsste – wenn nötig,
auch gegen den Willen der Deutschen.
Dem Gewissen folgen, lautet der Draghi-
Code. Man dürfe nicht ständig fragen: Was
wäre wenn? Die Tatsache, dass er eine ex-
zellente Ausbildung und viel Erfahrung
mitbrachte aus dem Finanzministerium,
der Kreditwirtschaft, der Notenbank und
der akademischen Welt, überforderte eini-
ge Kritiker intellektuell. Auch Gegner räu-
men ein, er sei ein brillanter Kopf.
Mit seiner „Whatever it takes-Rede“ in
London 2012, mit der er jenen, die gegen
den Euro spekulierten, den Kampf ansag-
te, ging Draghi als Retter der Euro-Zone in
die Geschichte ein. Die Wortwahl war sei-
ne Idee, er hatte sie aber nicht mit den Kol-
legen in der EZB abgesprochen. Draghi
galt als Held, sein entschlossenes Gesicht
kam auf die Titelseiten. Vielleicht verführ-
te ihn der plötzliche Ruhm sogar ein wenig
zu Übermut, denn er kultivierte fortan sei-
ne Alleingänge. Immer wieder kündigte
Draghi in Reden wichtige geldpolitische
Maßnahmen an, ohne sie mit den Kollegen
im EZB-Rat konkret besprochen zu haben.
Diese Guerillataktik setzte die Kollegen un-
ter Druck. Sie fühlten sich fast gezwungen,
später der Entscheidung zuzustimmen,
wollten sie nicht die Reputation der Noten-
bank aufs Spiel setzen. So autokratisch hat-
ten Draghis Vorgänger in der EZB nicht re-
giert.
„Draghi konzentriert sich auf Sachen,
die ihm wichtig sind und die er gewinnen
kann. Den Rest delegiert er“, erzählt je-
mand aus seinem Umfeld. Sein Führungs-

stil sorgte für Unmut im EZB-Rat und der
Belegschaft. Sicher, man bewunderte
Draghis Leistung, fühlte sich aber im Lauf
der Zeit durch seine Alleingänge immer
stärker zurückgesetzt. Noch kurz vor sei-
nem Abschied drückte er erneut eine
Lockerung der Geldpolitik im Rat durch,
gegen die Empfehlung der eigenen Leute
im Haus und gegen die Stimmen vieler No-
tenbankkollegen.

Draghi ist diplomatisch versiert, kann
sich ausdrücken und macht in großer Run-
debella figura. Aber Small Talk ist seine
Sache nicht. Persönliches gibt Draghi
nicht preis. Man erzählt sich, wie er bei ei-
nem Notenbankertreffen in Washington
abends keine Lust hatte, mit den Kollegen
essen zu gehen. Er setzte sich lieber allein
in ein italienisches Lokal, las Zeitung, dach-
te nach. Das Recht auf Eskapismus gönnte

sich Draghi schon als Notenbankchef in
Rom. Die Frage: „Wo steckt Draghi?“ ist in
Italien ein geflügeltes Wort geworden.
Manchmal traf er diskret EU-Regie-
rungschefs und nicht immer informierte
er die Kollegen im Direktorium über das,
was er erfahren hatte. Draghi hielt sich
gern bedeckt. Im obersten Gremium der
Notenbank, so hört man, war man sich nie
sicher, was er in Sachfragen wirklich dach-
te. Er mochte keine Gruppendiskussionen
und verhandelte die von ihm erdachte Lö-
sung lieber mit jedem der Kollegen allein.
Er wusste um seine Überzeugungskraft.

Sein Stab verzweifelte, wenn der Chef
wichtige Reden in letzter Sekunde hand-
schriftlich änderte. Draghi wollte immer
eine Nasenlänge voraus sein. Er habe die
Aura eines undurchschaubaren Weisen, er-
zählen Mitarbeiter. Bei einer Notenbank-
konferenz im portugiesischen Sintra trug
die Platzkarte an Draghis Dinner-Tisch
den Namen „Albert Einstein“.
Nun sagt Europaciao. Draghi wird am
kommenden Donnerstag das letzte Mal als
EZB-Chef vor die Presse treten, wenige Ta-
ge später folgt das Farewell im EZB-Turm.
Immobilienbesitzer und Aktionäre haben
von seiner lockeren Geldpolitik mehr profi-
tiert als andere, wobei die Maßnahmen ja
auch dafür sorgten, dass es mehr Jobs und
höhere Löhne gibt. Der Preis dafür war
hoch: Die EZB steht jetzt so gut wie am En-
de ihrer Möglichkeiten. Leitzins und Anlei-
hekäufe – Draghi hat fast alle Maßnah-
men ausgereizt.
Draghi gelang es, mit wenigen Worten
die Euro-Zone zu retten. Die Tragik seiner
Amtszeit liegt vielleicht darin, dass er nie
die richtigen Worte fand, um die Emanzi-
pation der EZB von der Bundesbank zu mo-
derieren. Das ist nun Aufgabe seiner Nach-
folgerin. Der erste EZB-Präsident Wim
Duisenberg hatte für die Akzeptanz des Eu-
ro gesorgt. Die Nachfolger Jean-Claude Tri-
chet und Draghi bewahrten die Währungs-
union vor dem Zerfall. Christine Lagarde
könnte jene sein, die die Deutschen wieder
mit Europas Notenbank versöhnt.

von michael kläsgen

G


enussorientierte Hobbyanarchis-
ten können das Urteil des Bundes-
gerichtshofs nur zutiefst bedau-
ern. Hobbyanarchisten? Ja, doch. Das wa-
ren, wohl ohne es zu wissen, im Prinzip al-
le, die bisher am Sonntagnachmittag in ei-
ner Bäckerei Semmeln, Brot oder andere
Backwaren kauften. Warum? Weil viele
von ihnen das wahrscheinlich nach Ende
der vor allem in Bayern knapp bemesse-
nen gesetzlichen Ladenschlusszeiten ta-
ten, die Bäckerei aber trotzdem offen hat-
te. Bäcker und Kunde tätigten ihr Tausch-
geschäft, Geld gegen Brötchen, sozusa-
gen im rechtsfreien Raum, am Rande der
Legalität. Es war ein wunderbar anarchi-
scher Zustand. Kein Polizist schritt ein,
keiner wurde angezeigt, keiner gemaßre-
gelt, und das mitten in Deutschland.
Der Gesetzgeber hatte es schlicht ver-
säumt zu regeln, ob es rechtens ist, wenn
der Bäcker ein paar Tische und Stühle in
seinen Laden räumt und Kaffee serviert,
also so tut, als betreibe er gar keine Bäcke-
rei, sondern ein Café, ein Bäckereicafé.
Der Bundesgerichtshof stopft nun diese
Rechtslücke und erklärt den seit Langem
währenden Istzustand für legal. Schade
eigentlich. Wer je einen gewissen Kitzel
beim Semmeldealen in aller Öffentlich-
keit verspürte, dem muss nun gewahr
werden: Damit ist es vorbei, ein für alle-
mal. Der BGH hat gesprochen.
Aber im Ernst: Die Bäcker oder genau-
er gesagt die Betreiber von Bäckercafés
tun nichts anderes, als dem Wunsch vie-
ler Kunden nachzukommen. Viele Men-
schen wollen am Sonntag, wenn sie Zeit
haben, gemütlich mit Freunden, im Kreis
der Familie oder allein frische Brötchen
essen. In einer Welt des Überflusses, in
der online zu jeder Stunde alles verfüg-
bar und sofort lieferbar ist, wäre es ab-
surd, den Verbrauchern diese kleine Freu-
de zu verwehren.


Doch geht diese Freude nicht zulasten
derjenigen, die am Sonntag arbeiten müs-
sen? Oder noch zugespitzter gefragt:
Wenn nicht am Sonntag, am welchem
Tag sollte der Kommerz denn sonst mal
ruhen? Es ist eine Frage, die zu Recht
wohl ebenso viele Menschen bewegt, wie
es Brötchenkäufer gibt. Wer sie beantwor-
ten will, muss differenzieren. Brötchen,
die man gleich verspeisen will, sind keine
Jeans, die man auch morgen oder über-
morgen kaufen könnte. Das heißt: Waren-
häuser oder Modeboutiquen müssen am
Sonntag nicht geöffnet sein, Bäckereien
sollten aber öffnen dürfen, wenn sie wol-
len. Sie können im Idealfall die Lebens-
qualität der Menschen steigern, wenn die
Semmel schmeckt und der Kunde das Ge-
fühl hat, die Verkäuferin (ja, es sind doch
in der Regel Frauen) mag ihrem Job.
Damit wäre auch die Frage nach der
Sonntagsarbeit beantwortet. Sicher, je-
der hat mal einen schlechten Tag, aber
ein Bäcker, der sonntags keine Brötchen
verkaufen will, wäre wie ein Hotelier, der
abends keinem Gast mehr Einlass ge-
währt oder ein Gastwirt, der nach 17 Uhr
kein Essen mehr serviert, weil dann Feier-
abend ist. Es widerspräche der Dienstleis-
tung, die er anbietet, und schadete sei-
nem eigenen Geschäft. Brötchen am
Sonntag gehören daher zum Leben dazu.
Ruhen können die Angestellten dafür am
Montag oder einem anderen Tag. In der
Wirtschaft nennt man so was eine „Win-
win-Situation“. Alle haben was davon: die
Verbraucher und die Bäcker.
Im Grund geht es hier um eine gesell-
schaftspolitische Frage, nämlich darum,
wie wir leben wollen? Darüber lässt sich
trefflich streiten. Nur: Es darf eigentlich
nicht sein, dass Gerichte die Frage beant-
worten. Das ist Sache der Politik. Sie
muss den großen Rahmen abstecken. Ge-
richte entscheiden immer nur kleinteilig
und fallbezogen, diesmal mit einer törich-
ten Konsequenz: Bäckereicafés dürfen
den ganzen Sonntag öffnen, kleine Bäcke-
reien ohne Tisch und Stuhl in Bayern wei-
terhin nur drei Stunden. Ein Unsinn.


DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 25


WIRTSCHAFT


Gegen alle Widerstände


Ende des Monats übergibt Mario Draghi die Führung der EZB an die Französin Christine Lagarde. Der Italiener
hatte es nicht leicht in Deutschland – er hat es aber auch anderen nicht leicht gemacht. Eine Bilanz

Brötchen sind nicht wie Jeans.


Die kann man genauso gut an


einem anderen Tag kaufen


Der Evonik-Konzern will Fische umerziehen und
an pflanzlicheKost gewöhnen. Das soll helfen, die
Weltmeere zu retten Seite 28 Thomas Middelhoff vermarktet sein Scheitern
und istdamit gerade in christlichen Kreisen
sehr erfolgreich Seite 30

Michael Kläsgen bäckt sein
Brotselber. Na gut, seine
Frau macht’s. Macho!

Sein Stab verzweifelte, wenn
der Chef in letzter Sekunde
eine wichtige Rede änderte

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Spanien hatsich zwar von der Krise
erholt, für die Jugend sieht es
dennoch düster aus  Seite 34

Verlorene Generation


Mario Draghi überraschte oft durch Alleingänge – zum Ärger von Politikern wie dem langjährigen Finanzminister Wolfgang Schäuble. FOTO: M.TANTUSSI/BLOOMBERG

Wie der Lachs zum Vegetarier wird


Der gläubige Thomas


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