Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
von uwe ritzer
und jan willmroth

Frankfurt– DenMenschen, die er bewegt,
begegnet Thomas Middelhoff, am Stand
des christlichen Verlags. Das Poster mit sei-
nem Porträt ist schon von Weitem sicht-
bar, ein angeleuchteter Middelhoff auf
schwarzem Grund, dasselbe Bild wie auf
dem Buchrücken seines Bestsellers „Schul-
dig“. Der Autor, 66, hat sich hinter einen
Stapel seiner Bücher gestellt. Mit Filzstift
schreibt er persönliche Widmungen und
verschenkt ein Buch nach dem anderen.
Das leichte Zittern seiner Hände fällt
kaum auf. Was soll er schreiben? „Ach, Ihr
Name reicht“, sagt eine Frau. „Ja“, sagt Mid-
delhoff mit sanftem Lächeln, „ich hab
auch oft genug von meinem Namen.“
Es ist Buchmesse in Frankfurt, durch
die Hallen und Gänge schlendern viele
mehr oder minder prominente Autoren,
und an diesem Donnerstagnachmittag ist
einer darunter, der in seinem früheren Le-
ben als Manager vieles war: erfolgreich
und bewundert, berüchtigt und gehasst,


reich und dann pleite, als Straftäter im Ge-
fängnis, kübelweise mit Häme übergos-
sen. Im Leben des Thomas Middelhoff
schlugen die Amplituden nach oben wie
nach unten so extrem aus wie bei keinem
anderen deutschen Wirtschaftsführer. Vor
der Signierstunde ist er wieder auf öffentli-
cher Bühne, im Lesezelt auf der Buchmes-
se, das der Teehersteller Yogi sponsert. Der
Duft ayurvedischer Teemischungen liegt
in der Luft, als Middelhoff Platz nimmt. Ne-
ben Benediktinerpater Anselm Grün, 74.
Middelhoffs erstes Buch „A 115 – Der
Sturz“, erschienen nach seinem Gefängnis-
aufenthalt 2017, enthielt bereits allerhand
mea culpa. Vor allem aber war es eine Ab-
rechnung. Mit Staatsanwälten, Richtern,
Journalisten und den Verhältnissen im Es-
sener Knast, wo Middelhoff nach eigenem
Empfinden mit Schlafentzug krank drang-
saliert wurde. Das Landgericht Essen hatte
ihn am 14. November 2014 direkt aus dem
Gerichtssaal in die Zelle A 115 verfrachten
lassen, verurteilt zu drei Jahren Haft we-


gen Untreue, zulasten der Arcandor AG.
Hauptsächlich ging es um Privatflüge in
Privatflugzeugen, die sich Vorstandschef
Middelhoff vom zwischenzeitlich unterge-
gangenen Handelsriesen zahlen ließ.
Sein zweites Buch „Schuldig“ handelt
„vom Scheitern und Wiederaufstehen“. So
steht es auf dem Cover. Thomas Middel-
hoff ist damit zum Star einer vorwiegend
gläubigen Gemeinschaft geworden, die
zum Teil hingerissen davon ist, dass da ei-
ner der einstmals „Großen“ dieses Landes
öffentlich Fehler zugibt, Asche auf sein
Haupt streut und Buße tut, seine Groß-
mannssucht beklagt, von Reue und Läute-
rung erzählt und davon, wie er zu Gott ge-
funden habe. Von alldem berichtet der Bü-
ßer Thomas Middelhoff ausführlich, im
Buch, in Talkshows, in Interviews, auf klei-
nen und großen Bühnen, wie im Sommer
beim evangelischen Kirchentag in Dort-
mund oder nun auf der Buchmesse.
Pater Anselm Grün trägt seine Mönchs-
kutte, Middelhoff ein weißes Hemd unter
einem hellblauen Baumwollpullover. „Ach-
ten statt Ächten“ lautet der Titel der von
evangelischen und katholischen Verlegern
und Buchhändlern organisierten Zelt-
Show. Die halbe Stunde gerät zum Ge-
spräch über Bewusstsein und Selbstbe-
wusstsein und die Schwierigkeit, nicht
ständig über andere zu urteilen, die man
nicht kennt. Was sein letztes großes Aben-
teuer gewesen sei, will der Moderator von
Middelhoff wissen. Es ist der Moment, um
über den besagten 14. November 2014 zu
sprechen, den Tag des Urteils, und wie
man ihn zu seinem Entsetzen aus dem Ge-
richtssaal direkt in den Knast bringen ließ,
aus Sorge, er könnte sonst vor seiner Stra-
fe flüchten.
Nun ist Misstrauen etwas, das Thomas
Middelhoff von Beginn seiner Karriere an
als erfolgreicher Chef des Medienkon-
zerns Bertelsmann begleitet. Viele seiner
Kritiker und Gegner lassen sich auch von
noch so vielen selbstkritisch-frommen
Auftritten nicht überzeugen, die er dieser
Tage hinlegt. Seine Gläubiger etwa, von de-
nen sich manche bewusst hereingelegt füh-
len. Sie hegen den Verdacht, Middelhoff ha-
be einen großen Teil seines Vermögens mit
Blick auf die absehbare Privatinsolvenz
illegal beiseiteschaffen lassen, lange bevor
er aus dem Gefängnis heraus Antrag auf
ein Privatinsolvenzverfahren gestellt hat,
das seit dem 3. Juli 2015 läuft.
Weit mehr als 400 Millionen Euro Forde-
rungen haben seine Gläubiger bei Insol-
venzverwalter Thorsten Fuest angemel-
det, knapp 80 Millionen davon sind festge-
stellt. Mühsam ackert sich Fuest durch die
Vermögensverhältnisse des einstigen Top-
managers, der heute in Hamburg vom un-
pfändbaren Teil einer Rente lebt, zwischen
3000 und 4000 Euro sollen es monatlich
sein. Die Gagen und Honorare für Bücher

und Auftritte liefert Middelhoff dem Ver-
nehmen nach pflichtgemäß beim Insol-
venzverwalter ab.
Strafrechtlich ist das Thema Vermö-
gensverschiebungen für ihn ausgestan-
den. Vor wenigen Tagen stellte die Staats-
anwaltschaft Bielefeld nach Informatio-
nen derSüddeutschen Zeitungein entspre-
chendes Ermittlungsverfahren gegen Mid-
delhoff sowie dessen Anwalt und Intimus
Hartmut Fromm ein. Man habe „nicht mit
der zur Anklageerhebung notwendigen Si-
cherheit feststellen können, wann bei
Herrn Middelhoff Zahlungsunfähigkeit
eingetreten ist“, sagte der zuständige Ober-
staatsanwalt Ralf Günther. Damit seien
strafbare Handlungen mit dem Ziel, Gläu-
bigern ihnen zustehendes Geld zu verste-
cken, nicht nachweisbar.
Dann ist da aber noch eine Zivilklage,
die Insolvenzverwalter Fuest vor mehr als
einem Jahr beim Landgericht Bielefeld ein-
gereicht hat. Er fordert für die Gläubiger
5,1 Millionen Euro von Middelhoff-Anwalt
Fromm. Hauptsächlich soll es sich um
Geld aus dem Verkauf jener mondänen Vil-
la „Aldea“ in St. Tropez handeln, in der Mid-
delhoff einst residierte. Auch diese Klage
fußt auf der Überzeugung, Fromm habe
Vermögenswerte seines Freundes und
Mandanten über ein Geflecht aus internati-
onalen Gesellschaften beiseitegeschafft.
Beide weisen die Vorwürfe energisch zu-
rück. Das Verfahren könnte Jahre dauern.
Derweil arbeitet Thomas Middelhoff an
seinem neuen Erscheinungsbild vom cha-
rakterlich, spirituell und moralisch runder-
neuerten Menschen. Dem Bild vom Geläu-
terten. Das persönliche Geschäftsmodell
dahinter ähnelt in einer Hinsicht aller-
dings dem alten: Es zieht ihn in die Öffent-
lichkeit, so wie früher. Man hat den Ein-
druck, er braucht dieses Rampenlicht.
Seine Webseite ist professionell gestal-
tet, Middelhoff bietet sich dort auch als
Keynote-Speaker für Themen wie Digitali-
sierung, Innovationsmanagement oder Pri-
vate Equity an. Nächstes Jahr soll ein Wirt-
schafts-Thriller von ihm erscheinen und
an einem Buch über das Internet schreibe
er schon, erzählt er in Frankfurt.
Middelhoff genießt die Aufmerksam-
keit. Früher haben ihn die Menschen mit
Distanz bewundert, bestenfalls. Er war ent-
rückt. Damals wäre er in Limousine mit
Chauffeur angereist. Heute, sagt er, fahre
er im ICE, zweite Klasse. Er kämpft um sei-
ne zweite Chance. „Wie ehrlich er es mit all-
dem meint, was er da schreibt und sagt,
weiß nur der liebe Gott“, sagt ein Wegge-
fährte. Das gilt für jeden Menschen. So vie-
le Leute wie möglich wolle er erreichen,
sagt Middelhoff auf dem Podium. Das ge-
be ihm Hoffnung. „Und dass ich vielleicht
den Weg zurück von der Hölle in den Him-
mel wieder antreten darf.“ Für diesen Satz
gibt es im vollen Zelt lauten Applaus.

Berlin– In der Affäre um fragwürdige Be-
raterverträge bei der Deutschen Bahn es-
kaliert der Streit mit der Gewerkschaft
GDL. Gewerkschaftschef Claus Weselsky
forderte am Freitag in Berlin, das für den
Fernverkehr zuständige Vorstandsmit-
glied Berthold Huber abzuberufen. Dieser
habe Beraterverträge wissentlich am Auf-
sichtsrat vorbei geschlossen. Weselsky
verlangte auch einen grundlegenden Um-
bau des Staatskonzerns und einen Unter-
suchungsausschuss des Bundestags, um
das Finanzgebaren des Konzerns zu durch-
leuchten. Nicht nur bei Beraterverträgen,
auch bei Pensionszusagen für Führungs-
kräfte gebe es noch nicht aufgearbeitete
Auffälligkeiten, erklärte der Gewerkschaf-
ter weiter.
Die Bahn soll vom Bund in den nächs-
ten Jahren viele Milliarden zusätzlich für
die Sanierung des Netzes und den Ausbau
des Bahnverkehrs bekommen. Angesichts
der Probleme im Staatskonzern müsse ei-
ne entschlossenere Reaktion des Kon-
zerns und der Politik folgen, bevor weite-
res Geld der Steuerzahler in das Unterneh-
men fließe. Ohne erkennbare Verbesserun-
gen würden seit Jahren Steuergelder un-
rechtmäßig verschwendet, heißt es in ei-
nem Papier der GDL.
Hintergrund des schweren GDL-An-
griffs gegen die Spitze des Staatskonzerns
sind offenbar auch die Folgen einer Medi-
enpanne. Eine Wirtschaftszeitung hatte

Mitte Oktober über einen vertraulichen
Bericht zur Berateraffäre berichtet und da-
zu auch ein Bildschirmfoto veröffentlicht.
Während Teile der Aufnahme in der Zei-
tung unkenntlich waren, war im Netz zu-
mindest zeitweise das digitale Wasserzei-
chen eines Bahn-Aufsichtsrats zu sehen.
Das Foto wurde nach einiger Zeit von der
Homepage entfernt. Für den Aufsichtsrat,

der auch die GDL vertritt, könnte das ern-
ste Konsequenzen haben. Die Bahn prüft
deshalb nun, ob sich der Aufsichtsrat des
Geheimnisverrats schuldig gemacht hat.
Nach Angaben der GDL soll der mögliche
Ausschluss des Kontrolleurs Thema der
nächsten Bahn-Aufsichtsratssitzung sein.

Dagegen werde sich die Gewerkschaft mit
aller Kraft wehren, kündige Weselsky nun
am Freitag an. „Es sollten nicht die Täter
zu Opfern stilisiert werden.“ Die Bahn sol-
le nicht die in die Enge treiben, die redlich
ihrer Arbeit nachgingen. Den Angriff auf
den eigenen Kollegen betrachte die GDL
als Kampfansage. Man selber habe sich
nichts vorzuwerfen.
Aus Kreisen des Bahn-Aufsichtsrates
hieß es, der Vorfall um den Aufsichtsrat
werde nun geprüft. Es gehe um einen Ver-
dacht, der auch strafrechtliche Konse-
quenzen haben könne. Ein Sprecher der
Bahn wies die GDL-Forderungen und An-
schuldigungen zurück. Die Affäre sei voll-
ständig aufgearbeitet worden, sagte er.
Nachdem der internen Revision Bera-
terverträge mit Ex-Vorständen aufgefal-
len waren, hatte der Konzern-Aufsichtsrat
in den vergangenen Monaten Verträge aus
den Jahren 2010 bis 2018 durch die Prü-
fungsgesellschaft EY untersuchen lassen.
Aus Sicht der Gewerkschaft betrafen die
bislang bekannt gewordenen Fälle aber
nur die Spitze des Eisbergs. Weitere Bera-
terverträge gebe es für Geschäftsführer
und Vorstände von Tochtergesellschaften.
Auf die Frage nach Belegen dafür sagte We-
selsky: „Das ist bekannt, die Belege haben
wir nicht.“ Der Bahn-Aufsichtsrat hatte be-
reits Hubers Unterschrift unter einem Ver-
trag kritisiert. Gehen soll der Vorstand
aber deshalb nicht. markus balser

Der gläubige


Thomas


Einst warer Börsenstar, dann pleite, schließlich saß er


im Gefängnis. Heute zeigt sich Thomas Middelhoff


geläutert und religiös. Begegnung mit einem,


der sein Scheitern vermarktet und damit


gerade in christlichen Kreisen sehr erfolgreich ist


Wie ehrlich
er esmit alldem
meint, was er da
schreibt und sagt,
das weiß
nur der liebe
Gott.“

Ein Weggefährte

Berlin– Die deutsche Industrie hat die
Raumfahrt für sich entdeckt. Dem Bundes-
verband der deutschen Industrie (BDI)
reicht es nun nicht mehr, die deutschen
Raumfahrtfirmen aufzumotzen. Sie möch-
te in Deutschland einen eigenen Zugang
zum Weltraum, wie BDI-Präsident Dieter
Kempf beim ersten Weltraumkongress
des Verbandes in Berlin forderte.
„Die Bundesregierung sollte die Voraus-
setzung für den Bau eines privaten Welt-
raumhafens in Deutschland für kleine Trä-
gerraketen schaffen.“ Darüber hinaus soll-
te Berlin eine deutsche Trägerrakete für
kleine Nutzlasten unterstützen. „Wenn
Deutschland keine Möglichkeit schafft,
werden neue Systeme von anderen euro-
päischen Staaten starten“, sagte der BDI-
Präsident.
Um zu zeigen, wie ernst es ihm ist, hatte
er zuvor den Science-Fiction-Klassiker
„Per Anhalter durch die Galaxis“ vor die
Kameras gehalten. Kempf möchte eben
nicht, dass kleinere deutsche Missionen
mitunter auch per Anhalter mit der ameri-
kanischen Space-X-Rakete ins All starten,
sondern mit einer deutschen Kleinrakete.

Und der angedachte deutsche Startplatz
solle keine Konkurrenz zur europäischen
TrägerraketeArianewerden, betonte er.
Um die deutsche Präsenz im All zu stär-
ken, forderte Kempf eine gemeinsame
Mondmission mit den USA mit einer deut-
schen Astronautin. „Raumfahrt ist für
Deutschland und seine Industrie im digita-
len Zeitalter von zentraler Bedeutung“,
sagte er. „Wir brauchen wieder mehr Be-
geisterung und Mut für die Raumfahrt.“

Kempf kritisierte, dass Deutschland in-
ternational nur auf Platz acht bei Raum-
fahrtinvestitionen liege. „Die Bundesrepu-
blik sollte das nationale Programm für
Raumfahrt und Innovation von nur 285
Millionen Euro auf das Niveau des franzö-
sischen Weltraumbudgets von mehr als
700 Millionen Euro erhöhen“, forderte er.
Weitere Punkte in der „Berliner Weltraum-
erklärung“ des BDI sind ein schlankes nati-

onales Weltraumgesetz, Weltraumschrott
zu vermeiden und den internationalen
Weltraumbergbau zu regeln. Wichtig sei
es auch, den eigenständigen europäischen
Zugang zum Weltraum mit derAriane-Ra-
kete zu erhalten und dabei die europäi-
sche Präferenz derArianebei institutionel-
len Missionen festzuschreiben.
„Wir haben eine Weltraumindustrie,
auf die wir stolz sind“, sagte Bundeswirt-
schaftsminister Peter Altmaier. Raum-
fahrt sei relevant für die Zukunft des Wirt-
schaftsstandortes. „Ohne Raumfahrt und
Dienstleistungen wären wir als Wirtschaft
weniger erfolgreich.“ Weltraumfahrt wer-
de zu einer alltäglichen Technologie, sagte
er und nannte unter anderem die Bereiche
Verteidigung, Kommunikation, Sicher-
heit, aber auch Klimaschutz.
Altmaier sagte zwar nationale Unter-
stützung für die Raumfahrt zu, „ich kann
aber nicht viele weitere Milliarden mobili-
sieren“. Das einzig Konkrete, das er zusi-
cherte, war ein Entwurf für das lange ange-
kündigte deutsche Weltraumgesetz. Das
Papier soll nun Anfang nächsten Jahres
kommen. dieter sürig

Gewerkschaftschef Claus
Weselsky.FOTO: DPA

Startrampe für Deutschland


Industrieverband BDI fordert einen Weltraumhafen für kleine Trägerraketen


Entgleiste Affäre


Bahngewerkschaft GDL verlangt wegen Beraterverträgen Entlassung eines Vorstands


„Ohne Raumfahrt wären
wir alsWirtschaft
weniger erfolgreich.“

30 WIRTSCHAFT HF2 Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


Hochmut, Habgier und Maßlosigkeit: In seinem neuen Buch
schreibt Thomas Middelhoff über die Ursachen für seinen tiefen Fall.
„Ich habe alles verloren und trotzdem keinen Mangel“, sagt er heute.
FOTO: IMAGO IMAGES

... OB DIE PROBLEME ANDERER AUCH UNSERE WERDEN?

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