Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
von hanno charisius

A


ls Peter-André Alt, Präsident der
Hochschulrektorenkonferenz, im
Juni zum Semesterausklang von
Journalisten befragt wurde, sagte er:
„Die Studienanfänger erfüllen die Voraus-
setzungen deutlich schlechter als frü-
her.“ Dieses Lamento erklingt jedes Jahr,
es erinnert an das bekannte Denkmuster,
das immer so beginnt: „Die Jugend von
heute ...“ – und dann folgt meistens ir-
gendeine Aussage darüber, inwiefern die
jüngere Generation defizitär sei im Ver-
gleich zu früheren.
Dieses Denkmuster taucht in jedem
Kulturkreis auf und reicht belegbar bis in
die Antike und wahrscheinlich noch viel
weiter in der Menschheitsgeschichte zu-
rück. Es hat, wie die meisten Pauschalur-
teile, eher was mit einem selbst als mit
jenen zu tun, über die man meint urteilen
zu müssen.


Eine aktuelle Studie aus den USA bestä-
tigt diese These nun. Psychologen von
der University of California in Santa Bar-
bara befragten 3458 Männer und Frauen
im Alter zwischen 33 und 51 Jahren, ob
sie glauben, dass „kids these days“ dreis-
ter, dümmer und unbelesener sind als frü-
her. Die Antworten fielen je nach persönli-
chem Hintergrund der Befragten, der
ebenfalls geprüft wurde, grob zusammen-
gefasst in etwa so aus: Autoritäre Men-
schen gaben an, dass es der Jugend an
Respekt mangele. Intelligentere sagten,
die Jugend sei weniger schlau als früher
und die Belesenen beklagten, dass heute
zu wenig gelesen werde.
Man betrachtet also sein heutiges Ich,
glaubt, schon immer so gewesen zu sein,
und nimmt sich dann selbst als Maßstab,
um den Verfall der Jugend zu diagnosti-
zieren. Gegen diese Selbstbestätigungs-
mechanik kann die gegenwärtige Jugend
eigentlich nur verlieren. Dass dieser Fehl-
schluss seit Jahrtausenden und überall
auf der Welt gezogen wird, zeigt, wie tief
das Muster im menschlichen Wesen
steckt, nämlich in der evolutionär verwur-
zelten Angst vor Veränderung. Je drasti-
scher der Wandel, desto stärker die Ab-
wehr. Das zeigt sich in nahezu jedem
Lebensbereich und macht etwa auch den
Kampf gegen die Klimakrise zu einer
traurigen Angelegenheit.
Um sich auch in dieser Frage selbst zu
beruhigen, hilft erneut der verächtliche
Blick auf die Jugend: Schulstreik für Kli-
maschutz? Von wegen, faules Pack! Sonst
würden sie ja am Wochenende streiken!
Am Beispiel Klima zeigt sich übrigens,
wie gefährlich die menschliche Fähigkeit
zum Stillstand ist: Vor 40 Jahren wäre es
einfach gewesen, die Erderwärmung zu
verhindern, kaum spürbare politische
Maßnahmen hätten ausgereicht. Inzwi-
schen braucht es einen enormen Kraft-
akt, um die Erde vorm wahrscheinlichen
Kollaps im kommenden Jahrhundert zu
bewahren. Wer könnte den schaffen ohne
die Jugend von heute?


DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 HF3 35


WISSEN


von christina berndt

F


ür die meisten Menschen, die ein
lebensrettendes Organ brau-
chen, ist es ein zermürbendes
Warten. Wird rechtzeitig ein pas-
sendes Spenderorgan zur Verfü-
gung stehen, das den Tod noch abwenden
kann? Darum zittern schwerkranke Patien-
ten oft eine unerträglich lange Zeit, in
Deutschland im Schnitt zweieinhalb Mona-
te, in Österreich sogar mehr als sechs.
Bei einer griechischen Patientin dage-
gen ging alles schnell. Seltsam schnell. Ge-
rade mal vier Stunden vergingen, bis für
die 47-Jährige ein Organ gefunden war.
Am Dienstag, den 8. Oktober gegen 14 Uhr
setzten Ärzte des Allgemeinen Kranken-
hauses Wien (AKH) die Frau, die an einer
Lungenhochdruckerkrankung litt, auf die
Warteliste. Als gegen 18 Uhr eine Spender-
lunge von der Organverteilungsstelle Euro-
transplant angeboten wurde, schlugen die
Wiener Ärzte binnen fünf Minuten zu, so
schnell konnten andere europäische Zen-
tren ihre Akten gar nicht sichten.
Es klingt nach einer besonders glückli-
chen Geschichte aus der an glücklichen Ge-
schichten reichen Transplantationsmedi-
zin. Sie scheint aber eher eine besonders
fragwürdige Geschichte zu sein. Das plötz-
liche Glück der 47-Jährigen fügt sich jeden-
falls in eine Reihe seltsamer Vorgänge im
Lungentransplantationsprogramm am
AKH, zu denen der SZ Unterlagen zuge-
spielt wurden. „Das ist bizarr“, sagt einer,
der den Fall aus nächster Nähe verfolgt hat
und deshalb nicht namentlich genannt
werden will. „Aus Griechenland kommt je-
mand auf die Liste, und vier Stunden spä-
ter kriegt er ein Organ.“
Organspende sei ein Akt der Nächsten-
liebe, heißt es oft. In Wien aber ist die
Transplantation von Lungen seit vielen
Jahren mehr als das. Die Organe gehen oft
nicht an die Nächsten, sondern an Patien-
ten, die im Ausland leben – und die des-
halb gar kein Anrecht auf ein Organ haben,
das von Eurotransplant verteilt wird. Das
Problem: Spenderorgane sind rar. Viele
Menschen auf der Welt hätten gerne eines,
die nierenkranke Näherin aus Indien eben-
so wie der herzkranke Scheich aus Kuwait.
Aber auch im Gebiet von Eurotransplant,
zu dem Österreich und Deutschland, Belgi-
en, die Niederlande, Luxemburg, Ungarn,
Slowenien und Kroatien gehören, wird um
die Organe gerungen. Jedes Jahr sterben
rund 100 Menschen, weil sie nicht rechtzei-
tig eine Spenderlunge erhalten haben. Des-
halb verbietet sich die Versorgung von im
Ausland lebenden Patienten mit Spender-
organen. Eigentlich.

„Das ist eine Frage der Solidarität“, sagt
Bruno Meiser, der Präsident von Euro-
transplant. Der Zugang zur Warteliste sei
in der Regel eine Frage von Leben und Tod.
Für jedes Organ, das ins Ausland gehe, feh-
le eines für hiesige Patienten. Doch bin-
dend sind die Empfehlungen seiner Stif-
tung nicht. Es gilt jeweils das Recht der Mit-
gliedsländer, und in Deutschland und Ös-
terreich ist die Vergabe von Organen an Pa-
tienten aus dem Ausland nicht verboten.
Am AKH hat die Lungentransplantati-
on bei Menschen mit Wohnsitz im Ausland
jedenfalls Tradition. Und sie lohnt sich für
den Leiter der dortigen Chirurgie, Walter
Klepetko. Der 64-Jährige genießt eine ge-
wisse Prominenz in Österreich, er hat auch
dem Rennfahrer Niki Lauda eine Spender-
lunge transplantiert. Immer wieder wird
in den Medien über seine enge Zusammen-
arbeit mit osteuropäischen Kliniken be-
richtet. Klepetko, heißt es, habe die Trans-
plantationsmedizin in diesen Ländern vor-
angebracht.

Doch Klepetko hat aus seiner Zusam-
menarbeit mit Osteuropa nicht nur Ruhm
gezogen, sondern auch finanzielle Vortei-
le. Das belegen Rechnungen, die der SZ vor-
liegen. Der Professor ließ sich von den aus-
ländischen Patienten für seine chirurgi-
schen Dienste erheblich besser bezahlen,
als ihm das bei österreichischen Patienten
möglich war. Dabei ist bei Organtransplan-
tationen jeder finanzielle Gewinn unter-
sagt. Das verbietet das österreichische
Transplantationsgesetz ebenso wie das
deutsche.
Grundlage von Klepetkos Osteuropa-
Aktivitäten waren jahrelang sogenannte
Twinning-Agreements – ursprünglich ei-
ne Idee von Eurotransplant. Krankenhäu-
ser mit einem gut funktionierenden Trans-
plantationsprogramm sollten Kliniken au-
ßerhalb des Eurotransplant-Gebiets zur

Seite stehen. Der Plan: Nach und nach
könnten die Partner im Ausland dazuler-
nen, bis sie ein eigenständiges Programm
in ihren Ländern anbieten könnten. Chirur-
gische Entwicklungshilfe sozusagen.
Doch es gab immer auch Bedenken ge-
gen diese Kooperationen. „Wir fanden,
dass wir nicht sicher sein können, wie die
Patienten im Ausland Zugang zur Wartelis-
te erhalten“, sagt Dirk Van Raemdonck,
Lungenchirurg an der Katholischen Uni-
versität im belgischen Leuven. „Zahlen sie
selbst für die Transplantation? Dann wür-
de ihre Selektion auf ihrem finanziellen
Status basieren, das ist etwas, das wir
nicht wollten.“
Walter Klepetko hatte diese Bedenken
offenbar nicht. Während kein anderes Eu-
rotransplant-Zentrum jemals ein Twin-
ning-Agreement mit dem Ausland ein-
ging, hatte Klepetko Verträge unter ande-
rem mit Kliniken aus Griechenland, Bulga-
rien, Estland, Rumänien und Serbien.
Doch er unterlief die Regeln für diese Ver-
einbarungen. Denn eigentlich gab es klare
Maßgaben für die Twinning-Agreements.
Erstens: Sie durften nicht zulasten der
Kranken im Eurotransplant-Raum gehen.
Wenn aus Rumänien fünf Lungen gespen-
det werden, dürfen rumänische Patienten
auch nur fünf Lungen erhalten. Zweitens:
Die Vereinbarungen waren auf einen be-
grenzten Zeitraum ausgelegt, danach soll-
ten die Länder selbständig arbeiten. Und
drittens: Jegliche Bereicherung war verbo-
ten – für die Ärzte in den osteuropäischen
Ländern ebenso wie für die Ärzte im Euro-
transplant-Raum. „Es ging ja darum, Pati-
enten zu helfen, und nicht, Profit zu ma-
chen“, betont Van Raemdonck.
Doch all diese Regeln wurden in Wien
über Jahre verletzt. Dass Organe durch das
AKH aus der Solidargemeinschaft abwan-
derten, fiel Eurotransplant spätestens An-
fang 2016 auf. Auch die Deutsche Trans-
plantationsgesellschaft fragte damals kri-
tisch nach, aber ließ sich mit Zahlenspie-
len aus Wien beruhigen. Die Bilanz der
Spenderlungen sei doch insgesamt posi-
tiv, antwortete Klepetko auf Anfrage. Auch
der SZ teilte er mit: „Wir haben zu jedem
Zeitpunkt darauf geachtet, dass die Ge-
samtbilanz der Organe positiv für Euro-
transplant und Österreich ausfällt.“ In die
Statistiken rechnete Klepetko allerdings
auch Organe ein, die in Ländern gespendet
wurden, welche längst zu Eurotransplant
dazugehören. Allen voran Ungarn mit sei-
nem sehr hohen Spenderaufkommen.
In Wirklichkeit war die Bilanz der Wie-
ner Twinnings überwiegend negativ. So
gingen zwischen 2012 und 2015 allein
17 Lungen an rumänische Patienten, ohne

dass ein einziges Organ von dort kam;
31 Lungen erhielt die Slowakei, die im Ge-
genzug 10 Organe spendete, und Serbien
bekam 7 Lungen, ohne eine zurückzuge-
ben. Insgesamt ergab sich zwischen 2012
und 2015 bei den über diesen Zeitraum
existierenden Twinnings nach Berechnun-
gen von Eurotransplant ein Verlust von
37 Lungen. Das ist eine stattliche Zahl,
wenn man bedenkt, dass in einem Jahr im
ganzen Eurotransplant-Raum nur etwa
700 Lungentransplantationen stattfinden.
Im Februar 2016 schrieb Eurotrans-
plant deshalb an Klepetko, man habe „un-
glücklicherweise (...) eine schwerwiegen-
de Imbalance für die meisten Twinning-
Agreements entdeckt“. Diese Imbalance
sei „inakzeptabel und ein Nachteil für die
Patienten auf der Warteliste von Euro-
transplant“. Klepetko erhielt mehrere
Mahnschreiben, die in Kopie auch an das
AKH und an die Medizinische Universität
Wien gingen, zu der das AKH gehört.

Im Januar 2017 schaffte Eurotransplant
schließlich alle Twinning-Agreements ab.
Denn auch die zweite Voraussetzung für
die Twinnings – die baldige Entlassung
der Partner in die Selbständigkeit – erfüll-
te Klepetko aus Sicht der Stiftung allen-
falls dürftig. Er verweist zwar darauf,
„dass hier durch mein Team eine einzigar-
tige Leistung vollbracht worden ist“. So ha-
be er etwa Programme in Slowenien und
Ungarn erfolgreich aufgebaut, außerdem
beginne ein kroatisches Team in diesem
Monat das Training bei ihm. Doch die Ko-
operation mit Kroatien begann bereits vor
zehn Jahren, und auch Ungarn ist 14 Jahre
nach Beginn der Kooperation zum Teil im-
mer noch vom AKH abhängig.
Das alles ist nicht unbedingt zum Nach-
teil von Klepetko, der bei den ausländi-
schen Patienten lukrative Privathonorare
in Rechnung stellte und damit auch gegen

die dritte Twinning-Auflage verstieß: aus
den Kooperationen keinen Profit zu schla-
gen. So kassierte er für die Nicht-Euro-
transplant-Patienten etwa 17 000 Euro
und damit dreimal so viel wie für die öster-
reichischen Privatpatienten. Bei diesen
Summen handelt es sich ausschließlich
um die Zusatzzahlungen an Klepetko, von
denen er einen Obulus ans AKH sowie an
seine Mitarbeiter abführen muss. Die
Transplantation selbst, die in Wien um die
100000 Euro kostet, wird vom Kranken-
haus abgerechnet. „Das ist alles ganz nor-
mal und legal“, betont Klepetko, der Auf-
wand sei bei den Patienten aus dem Aus-
land nun einmal höher. Es sei nicht seine
Intention, Profit zu machen. Vielmehr ge-
he es ihm darum, „Transplantationen in
diesen Ländern auf die Beine zu stellen“.
Die Universität stützt ihren Chefchirur-
gen. Sie erklärte, dass ein Audit im Jahr
2017 keinerlei Auffälligkeiten ergeben ha-
be. Das AKH betont, keine finanziellen Vor-
teile durch die Transplantationen erfah-
ren zu haben, da der Anteil des Kranken-
hauses an den Privatabrechnungen nur
die höhere „Hotelleriekomponente“ die-
ser Patienten decke. Ansonsten sei man
ein verlässlicher Eurotransplant-Partner.
Zugleich aber hat das Krankenhaus schon
im Mai Konsequenzen gezogen: Damals
lehnte es ein Gesuch Bulgariens um eine
neue Partnerschaft mit Klepetkos Abtei-
lung ab: Das AKH leide unter Personalman-
gel, Tumorpatienten etwa müssten schon
viel zu lange auf einen OP-Termin warten.
Deshalb sei man „nicht länger in der Lage,
internationale Patienten zu akzeptieren“.
Ungeachtet dessen geht die Transplan-
tation von Lungen an Patienten aus dem
Ausland weiter – auch wenn ihre Zahl
nach Ablauf der Twinning-Agreements
deutlich reduziert wurde. Im Jahr 2016 gin-
gen noch 23 Prozent der Lungen vom AKH
an Patienten außerhalb von Eurotrans-
plant, 2018 waren es nur sechs Prozent.
Eine von ihnen: die Lunge für die Grie-
chin mit der Blitzwartezeit. Ihre Lunge sei
aber, so berichtet es Klepetko, ebenso wie
die Patientin selbst aus Griechenland ge-
kommen, wo er ein Trainings- und Aufbau-
programm für Transplantationen entwi-
ckelt habe. Eigentlich hätte die Frau das Or-
gan in ihrer Heimat erhalten sollen, aber
weil ihr Fall medizinisch so kompliziert
war, hätten die Griechen Hilfe aus Wien ge-
braucht. Da habe man eben den Kniff mit
dem Einschleusen der Lunge über Euro-
transplant erdacht. Das Lungentransplan-
tationsprogramm in Griechenland, berich-
tet Klepetko, stehe aber kurz vor der Eigen-
ständigkeit, wirklich ganz kurz.
mitarbeit: vanessa wormer

Lunge ohne Wartezeit


Organspende istein Akt der Nächstenliebe,


heißt es oft. Doch an einem großen Krankenhaus


in Wien gibt es jetzt Ärger um Operationen


von Patienten aus dem Ausland


Hanno Charisius ist für
ein Wahlrecht ab dem


  1. Geburtstag.


Röntgenbild einer Lunge: Etwa 100000 Euro kostet eine Transplantation – zuzüglich eventueller Chefarzthonorare. FOTO: MAURITIUS IMAGES

Nicht nur
Anerkennung war dem
Wiener Chefarzt
sicher – sondern auch
finanzielle Vorteile

Das Krankenhaus
hat die Behandlung
von internationalen Patienten
längst verboten –
wegen des Pflegenotstands

PSYCHOLOGIE

Meister des


Stillstands


Schon bald könnten Menschen zum
Marsreisen. Schwieriger ist es, dort
zu überleben  Seite 36

Fernweh


UNTERM STRICH

RETOUREN

2200 Autofahrten
täglich von Hamburg nach Moskau
erzeugen die gleiche Menge an Emissionen*

SZ-Grafik: Sara Scholz; Quelle: Retourentacho 2018, Uni Bamberg
*Annahme 150 g CO/km

280 Millionen Pakete
wurden 2018 in Deutschland retourniert
underzeugten dabei
5,46 Milliarden Euro Kosten und
238 000 Tonnen CO

Der Mensch hat eine


evolutionär verwurzelte


Angst vor Veränderung

Free download pdf