Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
von josef schnelle

A


ls Sohn eines einfachen Uhrma-
chers blühte Giuseppe Vella al-
lenfalls die Karriere eines Pro-
vinzkaplans in Diensten der rö-
mischen Kurie. Dazu stammte
er nicht einmal aus dem italienischen
Kernland, sondern aus Malta. Dass er ein
noch heute besungener sizilianischer
Volksheld wurde und im Mittelpunkt
eines der größten und folgenreichsten Fäl-
schungsskandale des 18. Jahrhunderts ste-
hen würde, hatte mit den revolutionären
Zeiten zu tun, in die er 1749 hineingeboren
worden war. Außerdem war er mit der be-
merkenswerten Fähigkeit des umtriebi-
gen Kirchenmannes begabt, die Umge-
bung glauben zu machen, dass er des Ara-
bischen ebenso mächtig sei wie des Latei-
nischen; und dass er allein zweifelsfrei ent-
deckt habe, dass die Grundlagen der zen-
tralistischen sizilianischen Staatsord-
nung mit nur eingeschränkten Rechten
für die selbstgerechten Barone schon von
den Emiren der arabischen Herrschafts-
episode gelegt worden waren.

Die Vertreter der Regierung des Sizilia-
nischen Vizekönigs Carraciolo jubelten,
als Vella 1783 ein unbekanntes Dokument
aus der Tasche zog, den „Codex Martinia-
nus“, den er aus dem Arabischen überset-
zen wolle. Es hatte schon vorher Versuche
gegeben, eine etwa 200-jährige Lücke der
Aufzeichnungen mit arabischen oder nor-
mannischen Quellen zu füllen. Eine gewis-
se Neugier auf die Hinterlassenschaften
der arabischen Kultur in Europa hatte
sich breitgemacht. So waren die angebli-
chen Korrespondenzen zwischen arabi-
schen Unterführern in Sizilien und den Fa-
timiden-Kalifen in Ägypten, die Vella als
„Codice diplomatico siciliano“ und vor al-
lem als „Libro del Consiglio Egitto“ bis
1793 veröffentlichte, die Sensation in der
europäischen Gelehrtenwelt. Denn es kün-
digte sich eine völlige Neubewertung der
arabisch-normannischen Übergangsperi-
ode für die Zeit zwischen 1074 und 1119 an.
Der Vizekönig konnte sich nun darauf be-
rufen, dass die verringerte Macht der Baro-
ne schon eine gute alte Tradition wäre. Zu-
gleich aber brach eine Gegenbewegung
los. Es wurden immer neue Gutachten zu
Vellas umstrittener Übersetzung verfasst,
seine Kenntnisse des Arabischen ange-
zweifelt, was zu einem aufsehenerregen-

den Prozess führte, an dessen Ende der in-
zwischen zum Abt erhobene Fälscher zu
15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Um den tiefen Fall des Giuseppe Vella
zu verstehen, muss man seinen beispiello-
sen Aufstieg vom Kaplan zum politischen
Strippenzieher nachvollziehen. Der be-
gann am 17. Dezember 1782, als das Schiff
des Gesandten des Königreichs Marokko
im Hafen von Palermo Schutz vor Sturm
suchte. Dieser, Muhammad Ibn Uthman,
schien sich besonders für die Relikte der
mittelalterlichen maurischen Herrschaft
über Sizilien zu interessieren und brauch-
te einen Gesprächspartner und Dolmet-
scher. Mehr oder weniger zufällig war ihm

der kleine maltesische Kaplan Giuseppe
Vella begegnet, mit dem er sich einigerma-
ßen verständigen konnte, denn das Malte-
sische hat Wurzeln im maghrebinischen
Arabisch. Mit diesem siculo-arabischen
Dialekt haben sie sich wohl verständigt,
und die Neugier des Arabers brachte Vella
auf den Gedanken, arabische Originaldo-
kumente zu suchen und sie, wenn schon
nicht zu finden, zu erfinden.
Tatsächlich konnte Vella nur wenig
Hocharabisch. Die Dokumente, die angeb-
lich von verschiedenen historischen Perso-
nen abgefasst worden waren, waren verrä-
terischerweise alle im gleichen Sprach-
duktus geschrieben. So hatte Vella auch

den eigens für ihn eingerichteten Lehr-
stuhl für Arabisch an der Universität von
Palermo offensichtlich nicht verdient. All
das ist inzwischen wohl nicht mehr zwei-
felhaft.
Aber ein Rätsel bleibt: Warum hat Vella
das gemacht? Er musste doch eine enor-
me kreative Anstrengung unternehmen,
um als „Fake-Historiker“ eine ganze Epo-
che einer fremden Kultur samt ihren sozio-
kulturellen Bezügen auferstehen zu las-
sen. Dabei musste er den aktuell Herr-
schenden gefällig sein und den siziliani-
schen Zeitgeist beachten, um jenes Aufse-
hen zu erregen, das er brauchte, um eine
der mächtigsten Spielfiguren am Hofe des

Vizekönigs und in der kirchlichen Hierar-
chie zu werden. Er schaffte es sogar, die
ganze Welt um sich herum zum „Tanzen“
zu bringen, als er ankündigte, als nächs-
tes die 17 verschwundenen Bücher des
Titus Livius, die er gefunden habe, in ei-
ner Rückübersetzung aus dem Arabi-
schen anzugehen!
Was trieb Giuseppe Vella an? Hochmut,
der persönliche Triumph als „genialer Ma-
nipulator“ einer ganzen Gesellschaft?
Oder war er nur wie ein „gewöhnlicher Be-
trüger“ auf schnellen Reichtum und
Macht aus?
Etwas anderes vermutet der siziliani-
sche Schriftsteller und Mafiakritiker Leo-
nardo Sciascia 1963 in seinem Roman
„Das ägyptische Konzil“. Auch er be-
schreibt Vella als lupenreinen selbstver-
liebten Illusionisten und Fälscher, stellt
ihm aber den Revolutionär Francesco Pao-
lo di Blasi an die Seite, der mit ihm als sei-
nem Verbündeten einen an der Französi-
schen Revolution inspirierten Umsturz
versuchen wollte. Der scheitert allerdings.
Di Blasis Hinrichtung am Ende des Ro-
mans hebt die vorweggehenden Täu-
schungsorgien Giuseppe Vellas trotzdem
auf eine andere Bewertungsstufe.
Tatsächlich gelang es dem offenbar im-
mer noch einflussreichen Guiseppe Vella,
seine Strafe nach und nach in komfortab-
len Hausarrest umwandeln zu lassen.
Selbst sein eingezogener Besitz wurde
ihm zurückgegeben, und er blieb Abt, so-
dass er entspannt über seine Rolle als
größter Betrüger aller Zeiten und die Be-
deutung von Wahrheit und Lüge über-
haupt philosophierend seine Tage im
Landhaus bei Mezzomonreale, Palermo,
beschließen konnte.

Jede Zahl von 1 bis 9 kommt pro Zeile und Spalte
höchstens einmal vor. Ununterbrochene Reihen
weißer Felder (Straßen) enthalten nur aufeinander-
folgende Zahlen, aber in beliebiger Reihenfolge.
Zahlen auf schwarzen Trennfeldern gehören zu
keiner Straße. © 2010 Syndicated Puzzles Inc.
 http://www.sz-shop.de/str8ts

89 32
978612453
876534
76 54 12
5642731
32 78 45
324 56 7
245139786
32 67

6

1

9
8

4

768 21
85764 32
89 23451
76845 32
47536 89
21 345 98
3542 67
23 7546
32 98 65

93

6

1
7
8

4

Leonardo Sciascia beschreibt
ihn alsselbstverliebten
Illusionisten und Fälscher

LÖSUNGEN VOM FREITAG ...


... UNDVOM WOCHENENDE


STR8TS: SO GEHT’S


Quartett mittelschwerDie FlaggevonPanama,
die 80er-PopgruppeWind, allerhandKabelund ein
Ärmel: Allen vieren kann man „...kanal“ anhängen.
SchwerWo fremde Erwachsene einander duzen:
in derSPD, unter Studierenden an derUniversität–
und unterwegs im Gebirge giltoberhalb von 1000
Meternvielerorts das Bergsteiger-Du. Auch der
Ikea-Katalogduzt, ohne zu fragen.Aller Anfang
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann
auch erkennen, dass A falsch war.“ (Bertolt Brecht)

Ausgerechnet für den Hochstapler wurde der erste Lehrstuhl für Arabisch
in Palermogegründet. ABBILDUNG: BUCHCOVER „IL CONSIGLIO D’EGITTO“ VON LEONARDO SCIASCIA,
ADELPHI VERLAG MAILAND

DEM GEHEIMNIS AUF DER SPUR

Kreative Buchführung


Wieder Abt Giuseppe Vella im 18. Jahrhundert die Geschichte


Siziliens fälschte und damit politischen Einfluss erlangte


38 RÄTSEL Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


824716359
156493782
397825614
568231497
739684521
241957863
683142975
472569138
915378246

36582 1749
182794356
497365821
953286174
276419538
814573692
739148265
5486 32917
62195 7483

STR8TSmittelschwer


FOTOS: IMAGO (6); REO; EMI

SCHACH


Wilder Wirbel

QUARTETT


Vier Bilder, eine Gemeinsamkeit – welche?

von oliver rezec

mittelschwer


schwer


SUDOKUschwer


SCHWEDENRÄTSELEnergie


a 8 7 6 5 4 3 2 1
bcdef gh

Position nach 18...Se4

Najer – Anand (Nimzoindisch)
Das wohl stärkste Open-Turnier der Ge-
schichte wird auf der Isle of Man ausgetra-
gen. Es ist nicht nur fast die gesamte Welt-
elite inklusive des Weltmeisters vertreten,
auch das restliche Feld von gesamt
119 Spielern besteht vor allem aus Groß-
meistern. Neben einem Preisfonds von
433000 US-Dollar winkt dem Sieger ein di-
rekter Qualifikationsplatz für das Kandida-
tenturnier. Besonders spannend sind in
den ersten Runden die Begegnungen zwi-
schen der Weltelite und Großmeistern aus
der zweiten und dritten Reihe. Nachfol-
gend gelingt dem Russen Evgeniy Najer
ein spektakulärer Favoritensturz gegen Ex-
weltmeister Viswanathan Anand.
1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 0–0
5.Ld2 d5 6.Sf3 b6 7.Tc1 Lb7 8.cxd5 exd5
9.Ld3 Le7 10.0–0 Sbd7 11.Se5 Sxe5(ver-
schiebt die Bauernstruktur im Zentrum
und führt zu einer Verschärfung des
Spiels)12.dxe5 Sd7 13.f4 Sc5 14.Lb1 d4
15.Sb5 d3 16.Sd4 a5 17.Dg4 g6 18.f5 Se4
(dieser plausible Zug unterschätzt das wei-
ße Angriffspotential und erweist sich als


Fehler. Besser war 18...h5 19.Dh3 Dd5)Dia-
gramm 19.Lxd3(entfesselt unter doppel-
tem Läuferopfer einen wilden Angriffswir-
bel) 19...Sxd2 20.fxg6 fxg6 (20...Sxf1
21.Se6 fxe6 22.Dh5 mit Mattangriff)
21.Lxg6 Kh8(21...hxg6 22.Dxg6+ Kh8
23.Dh6+ Kg8 24.Se6 und gewinnt)
22.Lxh7 Txf1+ (nicht 22...Kxh7 23.Sf5
Txf5 24.Txf5)23.Txf1 Lg5(die beste Vertei-
digung, nach 23...Sxf1 gewinnt 24.Lg6)
24.Sf5 Dd3 (24...Kxh7 25.Dh5+ Kg8
26.Dg6+ Kf8 27.Sd6+ und gewinnt)25.Te1
Lxe3+ 26.Kh1 Lh6 27.Dg6(der einzige
Schönheitsfehler, der Schwarz Überlebens-
chancen gibt. Nach 27.Lg6 Se4 28.Dh4
steht Weiß auf Gewinn)27...Lxg2+(nutzt
die Möglichkeit zum Gegenangriff)28.
Kxg2 (beachtlich war 28.Dxg2 Kxh7
29.Sxh6 Sf3)28...Dd5+(verpasst das ret-
tende 28...Df3+ 29.Kg1 Df4 30.Dxh6 (Sf3+
31.Kf2 Sg5+)29.Kh3 Dd3+ 30.Kh4(dieser
kühne Königsmarsch lässt das schwarze
Angriffsfeuer erlöschen. Schwarz gibt auf,
denn 30...Sf3+ 31.Kh5 Sxe1 32.Df6+ Kxh7
33.Dxh6+ Kg8 34.Dg7 führt zum Matt).
stefan kindermann

2


1


16


8


4


65


1


7


4


9


3


6 5 9


1 3 7 8


9 1 2


4 2 3


1


7 6


7 1 2


6 3 1


8 5


ALLER ANFANG


„D····· Z·· v······· h···· i·


u·········· W···········“


AmBahnsteig versetzt diese Durchsage seufzende Massen
in gegenläufige Bewegungen. Wie lautet das Zitat?

Es kam zum Prozess, bei dem
der Geistliche zu 15 Jahren
Gefängnis verurteilt wurde
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