Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
In Konkurrenz zum Weltverband Fina
haben Spitzenschwimmer eine neue
Wettkampfserie entwickelt Seite 42

von johannes aumüller

D


onnerstagabend in Nordrhein-
Westfalen, Rhein-Kreis Neuss.
Ein Fußball-Spiel der Kreisliga C
ist angesetzt, eine türkisch geprägte
Mannschaft empfängt eine kurdisch ge-
prägte Mannschaft, mehrere Dutzend Po-
lizisten sind vor Ort. In der 65. Minute
fällt das 3:0, nach Informationen der Poli-
zei kommt es bei der Heimmannschaft zu
einem Salut-Jubel, die Gäste verlassen
daraufhin den Platz. Die genauen Um-
stände und Abläufe sind noch unklar.
Aber es ist einer der extremeren Vorfälle
dieser Art, die sich gerade so häufen.
Aus nahezu allen Landesverbänden ka-
men in den vergangenen Tagen vergleich-
bare Meldungen. Da ein Spielabbruch
nach einem Salut-Jubel, dort drei Fälle
fürs Verbandsgericht, und einmal gar ei-
ne Jugend-Mannschaft, die bei der Prä-
sentation ihrer neuen Trainingsausrüs-
tung den militärischen Gruß entbot.


Der deutsche Fußball preist oft – und
oft zu Recht – seine integrative Kraft.
Doch in diesen Tagen muss er ein Thema
managen, das diese integrationspoliti-
schen Bemühungen stark erschwert. Vor
einer Woche jubelten türkische National-
spieler beim 1:0 gegen Albanien erstmals
mit dem militärischen Gruß, und trotz ei-
ner Verfahrenseröffnung durch Europas
Fußball-Union geschah es beim 1:1 gegen
Frankreich ein weiteres Mal. Es war ein
Gruß an die Soldaten, die für das türki-
sche Militär einen völkerrechtswidrigen
Angriff gegen Kurden in Nordsyrien füh-
ren – und damit eine völlig unangebrach-
te Geste. Auf Deutschland schwappte das
Thema nicht nur über, weil die National-
spieler Ilkay Gündogan und Emre Can
ein Foto mit diesem Salutjubel in den sozi-
alen Netzwerken zunächst likten (und
dann ihre Zustimmung wieder zurück-
nahmen). Sondern auch, weil es sofort
Nachahmer in unteren Ligen fand.
Es ist eine sehr komplizierte, ausfa-
sernde Debatte. Aber in jedem Fall ist es
ein Beispiel dafür, wie sich das Verhalten
der Protagonisten aus dem Spitzensport
auf die vielen tausend Asche- und Rasen-
plätze des Landes auswirkt. Dorthin
strahlen die großen Konflikte der Weltpo-
litik und gesellschaftliche Fehlentwick-
lungen ja ohnehin oft genug ab. Und das
Salut-Thema wird das aus verschiedenen
Gründen nun noch verschärfen.
Mehrere Hunderttausend Amateur-
spieler in Deutschland haben türkische
Wurzeln. Von den rund 700 000 Men-
schen, die bei der türkischen Präsident-
schaftswahl in Deutschland abstimmten,
wählten fast 65 Prozent Erdoğan. Dessen
Aussagen aus dieser Woche wiederum
klangen – ebenso wie die des Botschaf-
ters in Deutschland oder mancher türki-
scher Vereinsvertreter – nicht nur nach ei-
ner Rechtfertigung der umstrittenen Ges-
te, sondern geradezu nach einer Aufforde-
rung, sie zu wiederholen. Der Salut-Jubel
seiner Nationalspieler sei „selbstver-
ständlich“ und „natürlich“, so Erdogan.
Andererseits ist aber auch klar, dass es in
den vielen Spielen des Landes auch an
Provokationen gegenüber manchen tür-
kischen Spielern nicht mangeln wird.
Die Landesverbände warnen jetzt flä-
chendeckend vor weiteren Nachahmern.
Aber wie im Zweifel damit umgegangen
wird, ist noch unklar. Ziemlich harte Wor-
te finden die einen. Es solle nicht nur um
Strafandrohung gehen, sondern eher um
Sensibilisierung, sagen die anderen. Und
es wird auch Unterschiede in der Bewer-
tung geben: ob etwa die Aktion in einem
bekanntermaßen politisierten Verein er-
folgt; oder ob ein Halbstarker irgendet-
was nachahmt, ohne dass er sich der Sa-
che genau bewusst ist – und sich so, wie
er bis vergangene Woche das Tänzchen
aus dem Computerspiel Fortnite vorführ-
te, jetzt halt die Hand an die Stirn hält.
Eines aber ist klar: Dieses Thema wird
den deutschen Fußball noch eine Weile
beschäftigen. Und er sollte ziemlich viele
Ressourcen investieren.


FOTO: OLIVER HARDT / GETTY

Johannes Aumüller ist
sportpolitischer
Korrespondentin Frankfurt

von freddie röckenhaus

Dortmund– Eigentlich hätten Lucien Fav-
re die Ohren klingen müssen, als würde im
Dom die Messe geläutet. Sein Chef Aki
Watzke saß mit Favres Vorvorgänger Jür-
gen Klopp bei der Pressekonferenz zum Er-
scheinen von Watzkes Buch-Biografie –
und Borussia Dortmunds Geschäftsführer
grämte sich öffentlich: Einen Trainer wie
Klopp bekomme man nie wieder, im Nach-
hinein betrachtet, so Watzke, hätte man da-
mals, vor dem 2015er-Abschied des inzwi-
schen zum Welttrainer 2019 gekürten
Klopp, „lieber die ganze Mannschaft raus-
werfen sollen als den Trainer“. Man darf
aber davon ausgehen, dass Favre als ech-
ter Jura-Schweizer genug Phlegma be-
sitzt, selbst die Glocken des Doms nicht zu
hören, wenn er sie nicht hören will.
An diesem Samstag spielt Favre mit
dem BVB gegen seinen alten Verein Borus-
sia Mönchengladbach, was schon interes-
sant genug wäre. Aber die andere Borussia
steht auch noch in der Bundesligatabelle
auf genau dem Rang, den sie eigentlich in
Dortmund für sich selbst in dieser Saison
reserviert hatten: auf Platz eins. Favres
Team dagegen dümpelt auf Rang acht.

Menschen, die eher halb volle als halb
leere Gläser vor sich stehen sehen, sagen
zwar, dass es nur vier Punkte Rückstand
bis zur Spitze seien, aber das ist nur das hal-
be Problem beim BVB. Was Favre mehr als
die Offenbarungen seines Vorgesetzten
und mehr als der blanke Tabellenplatz in
die Bredouille bringt, das sind die drei letz-
ten Spiele, die allesamt 2:2 ausgingen. Und
zwar immer nach ähnlichem Muster, stets
nach einer Dortmunder Führung und im-
mer mit einer Art Angsthasen-Fußball, für
den nicht wenige die taktischen Vorgaben
des Trainers verantwortlich machen.
Nicht wenige auch hatten bereits für die
Länderspielpause der Bundesliga vorher-

gesagt, dass Dortmund die Atempause nut-
zen würde, um den Trainermarkt zu son-
dieren. Allzu sehr hat sich zuletzt offenbar
die Ahnung breitgemacht, dass mit dem
im Sommer nochmals hochgejazzten BVB-
Kader auch diese Saison so weitergehen
würde, wie die vergangene zu Ende ging.
Zur Erinnerung: Dortmund hatte vor ei-
nem Jahr in der Hinrunde bis zu elf Punkte
Vorsprung auf den späteren Meister
FC Bayern – und kam am Ende mit zwei
Punkten Rückstand ins Ziel.
Da zauderte, haderte und krampfte der
Spitzenreiter Dortmund, und monatelang
traute sich niemand im Klub, Favre die kla-
re Ansage zu machen, dass sich angesichts
eines so klaren Punktevorsprungs auch
das Saisonziel zu verändern habe. Wer der-
art souverän Herbstmeister wird, muss
zwingend auch den Titel ausrufen.

Favre weigerte sich, zauderte weiter,
warnte inständig vor den überragenden
Qualitäten späterer Absteiger. Das muss
nicht der Grund für den BVB-Absturz in
der Rückrunde gewesen sein. Aber viele
Experten und Meinungsführer im Klub se-
hen es so, und Favre hat das als Hypothek
mit in die neue Saison genommen. Nun
rangiert er mit seinem vermeintlichen Su-
perkader auf Platz acht. Selbst der SC Frei-
burg droht sich davor abzusetzen – von
den Gladbachern ganz zu schweigen.
Am Donnerstag, bei der Pressekonfe-
renz vor dem Borussen-Duell, schienen
Favre und Sportdirektor Michael Zorc auf-
fällig um gute Laune bemüht zu sein. Die
Sondierungen des Trainermarktes waren
kurz – und erwartungsgemäß nicht son-
derlich ermunternd im Hinblick auf Alter-
nativen zu Favre. Trainer in Verträgen

kommen für Boss Watzke nicht infrage.
Und von denen, die aktuell arbeitslos sind,
passt kaum einer ins Anforderungsprofil.
Von den deutschen Trainern läge zwar
sofort Ralf Rangnick nahe, aber der ist
beim BVB-Anhang so unvermittelbar wie
jemand, der im Schalker Trikot auf der Bo-
russen-Bank sitzen würde. Rangnick wäre
fachlich ziemlich perfekt, aber seine letz-
ten Vereine – Hoffenheim, Schalke und RB
Leipzig – haben ihn für Dortmunds Ultras
disqualifiziert; das würde sich auch Rang-
nick selbst wohl nicht antun wollen.
Von Massimo Allegri, Baumeister des
aktuellen Erfolgsmodells von Juventus Tu-
rin, heißt es, dass er nur deshalb noch auf
dem Markt sei, weil er zwar die Fußball-Er-
folgsbücher „Alles ganz einfach“ und
„ABC des Fußballs“ geschrieben habe,
aber weder Deutsch noch Englisch könne,
nicht mal Französisch. José Mourinho da-
gegen, der Spezielle, zuletzt englischer Vi-
zemeister und Europa-League-Sieger mit
Manchester United, spricht fünf Sprachen
und lernt gerade die sechste, nämlich
Deutsch, wartet aber dem Vernehmen
nach lieber darauf, dass sie bei Real Zinédi-
ne Zidane vor die Tür setzen, damit er nach
Madrid zurückkehren könne. Und damit
ist die Liste auch schon zu Ende.
Lucien Favres Fußball scheint in Dort-
mund generell inzwischen mindestens so
angezweifelt zu werden, wie man es aus
München oft hört, wenn es um Niko Kovac
geht. Manche Spieler, heißt es, stören sich
am „Kontrollwahn“ Favres. Statt das meis-
te aus den überschwappenden Offensiv-
qualitäten seines Kaders herauszuholen,
predige er Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle.
Manche sagen dazu auch: Fußball ohne
Selbstvertrauen. Von emotionaler Anspra-
che à la Klopp könne erst recht keine Rede
sein. Hinter vorgehaltener Hand wird über
Favre gesagt, er sei ein halbes Jahr ein tol-
ler Trainer für jede Mannschaft – und da-
nach nur noch für eine solche, die sich von
Platz acht oder zehn auf Platz drei oder
vier verbessern möchten.
Einen Titel aber würde Favre nie gewin-
nen, weil seine Spielidee viel zu sehr auf
Vorsicht und angezogene Handbremse ge-

trimmt sei. Selbst aussichtsreiche Angrif-
fe würden oft nicht durchgezogen, wenn
sie nicht zu vermeintlich hundertprozenti-
gen Abschlusssituationen führten. Dass
Dortmund trotzdem Tore schieße, sei un-
vermeidlich, aber nur die Folge der indivi-
duellen Klasse von Spielern wie Marco
Reus, Paco Alcácer, Jadon Sancho, Mario
Götze, Julian Brandt oder Axel Witsel.
Dass ein Trainer nicht zum Kader passt,
ist schon anderen passiert – auch Klopp in
Dortmund. Wenige Monate vor seinem Ab-
schied 2015 lag er zur Saisonmitte auf dem
letzten Platz. Mit demselben Kader wurde
in der nächsten Saison Thomas Tuchel Vi-
zemeister. Und Mourinho badete in Man-
chester aus, dass sein Vorgänger Louis van

Gaal bis zum letzten Tag den Kader zusam-
menkaufen durfte, ehe er dann doch ent-
lassen wurde – und Mourinho sich dann
mit etlichen Spielern arrangieren musste,
die er für charakterschwach hielt.
In Gladbach haben sie Favre lange nach-
getrauert. Manager Max Eberl hätte Favre
2018 am liebsten selbst wieder geholt, als
Dortmund beim Schweizer zum Zuge
kam. Ob Eberl Favre auch am Samstag-
abend noch nachtrauern wird, muss sich
herausstellen. Immerhin haben sie in Dort-
mund die Hoffnung, dass Favres Spielwei-
se gegen offensive, ambitionierte Gegner
noch am besten funktioniert. Leverkusen
etwa ging beim BVB 0:4 unter – gerade
weil Bayer den Dortmundern eine wuchti-
ge Pressing-Gangart aufgezwungen hatte.
Vielleicht tun die Gladbacher ihrem Ex-
Coach Favre ja einen ähnlichen Gefallen.

Selbstbestimmung


Neuseelands Rugby-Team ist bei der WM
in Japan Beherrscher, Botschafter und
Bewahrer seines Sports  Seite 41 Martin Schmidt hat ein Image als eloquenter Trainer mit
einfachem Plan. Beim FC Augsburg muss er sich
nun nach schwachem Saisonstart beweisen  Seite 40

AMATEURFUSSBALL

Militärgruß


auf demAscheplatz


DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 HF2 39


SPORT


Handbremsen-Fußball


Unentschieden-Krise, Tabellenplatz acht, emotionsarme Ansprache, zu viel Vorsicht und Kontrolle: Die interne Kritik an BVB-Trainer Lucien Favre
ist vor dem Topspiel gegen seinen früheren Klub Gladbach leise und doch glockenlaut – geeignete Nachfolger aber gäbe der Markt kaum her

Rangnick? Allegri? Mourinho?
Die Marktanalyse fällt kurz aus


  • und nicht allzu ermunternd


Favres Trainer-Stationen


Die Debatte zeigt beispielhaft,


welcheWirkung das Verhalten


von Spitzensportlern hat


Am Samstag um 22 Uhr erscheint
die digitaleAusgabe
Sport am Wochenende sz.de/sport-we

Sport digital


Frühlingsgefühle: Favre als gefeierter „Retter“ von Borussia Mönchengladbach
nach derErstliga-Relegation im Mai 2011. FOTO: LARS BARON/GETTY

FC Echallens 1993 – 1994
FCYverdon 1996 – 2000
Servette Genf 2000 – 2002
FC Zürich 2003 – 2007
Hertha BSC 2007 – 2009
Borussia Mönchengladbach 2011 – 2015
OGC Nizza 2016 – 2018
Borussia Dortmund seit Juli 2018

Herbstschwere: Trainer Lucien Favre hat bei Borussia Dortmund schon deutlich bessere Phasen erlebt. FOTO: RALF IBING/FIRO

Schreckensbekämpfung
FOTO: WILLIAM WEST / AFP

Geistersuche

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