Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
Der eigentliche Held redet zum Schluss.
MichelBarnier ergreift als Letzter das
Wort bei der Pressekonferenz, auf der die
Annahme des überarbeiteten Brexit-
Deals durch die EU-27 erläutert wird, und
er redet zunächst über andere. Er dankt
den Männern, die neben ihm stehen: Jean-
Claude Juncker und Donald Tusk, die
scheidenden Präsidenten von EU-Kom-
mission und Europäischem Rat, sowie Ir-
lands Premier Leo Varadkar hätten ihn als
Chefunterhändler sehr gut unterstützt.
Und der Franzose dankt namentlich je-
nen Männern und Frauen (an den ent-
scheidenden Stellen saßen Expertinnen)
aus der „Article 50 Taskforce“, die seit
Sommer 2016 so viele Rechtstexte zum
Brexit schrieben: Sie seien „außergewöhn-
lich kompetent und immer verfügbar“.
Diese Worte beschreiben auch den
68-Jährigen, dem viele in Brüssel gern ein
Denkmal bauen würden für seine enorme
Leistung. Dank seiner jahrzehntelangen
Erfahrung als Berufspolitiker hat er es ge-
schafft, auch mit Boris Johnson einen
Deal zu finden. „Immer verfügbar“ hieß
für Barnier nicht nur, in die Hauptstädte
zu reisen und dort zu informieren, son-
dern auch sich ständig mit den Brexit-Ex-
perten des Europaparlaments auszutau-
schen und Kontakte zu Gewerkschaften
und Unternehmern zu pflegen. Der dreifa-
che Vater lobt die „Mannschaftsleistung“,
aber nur wenig andere besitzen die nötige
Mischung aus Detailkenntnis, Fingerspit-
zengefühl und Selbstdisziplin.
Wo immer er auftaucht, versuchen ihn
Reporter zu Prognosen oder Provokatio-
nen zu bewegen. Der asketisch wirkende
Barnier bleibt stets in seiner Rolle als Gen-
tleman und spottet nicht über die turbu-
lente britische Innenpolitik. „Ich bedaue-

re den Brexit zutiefst, aber ich respektiere
die Entscheidung“, sagt er erneut in der
Pressekonferenz und spricht von Bewun-
derung für das Königreich: „Wir verges-
sen nie die britische Solidarität in unse-
ren düstersten Stunden.“ Er sage dies als
„Gaullist“, also als französischer Christde-
mokrat, dessen Parteigründer Charles de
Gaulle im Zweiten Weltkrieg in London
Schutz fand. Bei den Gaullisten machte
der begeisterte Bergsteiger aus Savoyen
früh Karriere. Er wurde mit 27 Abgeordne-
ter, war zur selben Zeit wie Angela Merkel
Umweltminister und als EU-Kommissar
sowohl für Regionalpolitik als auch für

den Binnenmarkt zuständig. Damals,
2010, nannte ihn derDaily Telegraph„den
gefährlichsten Mann Europas“, weil er
Auflagen für die Finanzmärkte forderte.
Als Brexit-Unterhändler verlor Barnier
nie aus den Augen, welch gravierende Fol-
gen der EU-Austritt Großbritanniens für
die irische Insel haben wird: „Was wirk-
lich zählt, sind die Menschen und der Frie-
den.“ Als früherer Europaabgeordneter
kennt er die Befindlichkeiten der kleine-
ren Länder, und deren Politiker sind be-
eindruckt davon, dass ein Franzose für
die Interessen der fünf Millionen Iren
kämpft. Die Botschaft „Wenn es hart auf
hart kommt, hält die EU zusammen“ ist
eine der wenigen positiven Begleiterschei-
nungen des Brexit. Barnier fordert von
den Regierungschefs, diese Geschlossen-
heit für eine positive Agenda zu nutzen, al-
so etwa im Umgang mit China oder beim
Kampf gegen die Erderhitzung. Diese The-
men muss die neue EU-Kommission ange-
hen und in Brüssel dürften sich jene bestä-
tigt fühlen, die Barnier als Idealbesetzung
für deren Vorsitz angesehen hatten. Dass
er vor der Europawahl eine Schatten-Wer-
bekampagne für sich führte, passt nicht
zu seinem Gentleman-Image, ist aber
schon wieder vergessen.
Egal wie das britische Unterhaus über
den Deal an diesem Samstag abstimmt,
Barnier wird sich weiter um den Brexit
kümmern. Für einige Zeit soll er die Ge-
spräche mit London über die künftigen
Beziehungen koordinieren. Dass es ihm
an Lust und Energie mangeln sollte, ist
nicht zu erwarten. Nach einer abendli-
chen Sitzung mit Parlamentariern verriet
ein Teilnehmer: „Barnier war deutlich fri-
scher als sein Team“ – und dessen Mitglie-
der sind viel jünger. matthias kolb

N


atürlich hat kein Land einen auto-
matischen Anspruch darauf, frü-
her oder später in die Europäische
Union aufgenommen zu werden, nur weil
es auf der Landkarte westlich des Ural-
Gebirges liegt. Natürlich muss jede Regie-
rung, die den Beitritt anstrebt, ein großes
Maß an Vorleistungen vorweisen. Natür-
lich muss die EU ihre Lehren daraus zie-
hen, dass sie sich in der Vergangenheit
stellenweise etwas voreilig erweitert hat.
Aber deswegen nun eine Pauschalblocka-
de zu verhängen, wie es Frankreichs Prä-
sident Emmanuel Macron gegen Nordma-
zedonien und Albanien tut?
Insbesondere Nordmazedonien kann
man schwerlich vorwerfen, es sei nicht be-
reit zu Vorleistungen; das Land hat sogar
seinen Namen geändert, um einen Kon-
flikt mit dem Nachbarn Griechenland
auszuräumen. Und es geht ja nun, wohlge-
merkt, nicht um pro oder contra Sofort-
beitritt, sondern um den Beginn von Ver-
handlungen, die Jahre dauern und noch
von vielen Prüfsteinen gepflastert sein
werden. Diese Verhandlungen zu begin-
nen, wie versprochen, heißt: den Gesell-
schaften einer gebeutelten Region Per-
spektiven für die politische Orientierung
zu bieten. Russland, China, die Türkei,
Saudi-Arabien: Die Konkurrenz schläft
nicht, gerade nicht auf dem Balkan.
Macrons Motive sind vor allem innen-
politisch, ihm sitzt Marine Le Pen im Na-
cken, die ihm die vielen albanischen Asyl-
bewerber in Frankreich vorhält. Aber
Rechtspopulisten schwächt man nicht, in-
dem man ihre Positionen übernimmt.
Und Europa stärkt man nicht, indem
man wortbrüchig wird. tobias zick


G


anz gleich, mit welchem Ergeb-
nis Markus Söder als CSU-Chef
wiedergewählt worden wäre – er
hatte vorher schon gewonnen. Unange-
fochten steht Söder an der Spitze der
Partei, als hätte er bei der Landtagswahl
vor einem Jahr nicht ein historisch mie-
ses Ergebnis, sondern einen glanzvol-
len Sieg eingefahren. Sich mit mehr als
zehn Prozent Verlust zum Alleinherr-
scher der CSU aufzuschwingen: Das
muss man erst einmal schaffen.
Die CSU hat ihre Neigung, sich star-
ken Anführern zu unterwerfen, bis heu-
te nicht abgelegt. Es ist daher nicht
überraschend, dass sie Söder folgt, ob-
wohl er selbst zu denen gehört, die sie in
dieses Tal geführt haben. Eine Serie von
Wahlschlappen hat die Partei ausge-
laugt, der epische Machtkampf Söders
mit Horst Seehofer hat sie gespalten.
Mehr als andere hat Söder jetzt aber ver-
standen, welche Modernisierung die
CSU benötigt, damit sie Volkspartei blei-
ben kann. Er hat gegen interne Wider-
stände ein Artenschutz-Volksbegehren
angenommen, er hat der Partei ein Kli-
makonzept verordnet, er trimmt sie auf
jünger, weiblicher, digitaler.
Die Partei trägt Söders Kurs in wei-
ten Teilen mit. Die meisten wissen, dass
es keine Alternative gibt: weder inhalt-
lich noch personell. Entscheidend sind
aber niemals interne Wahlen, alleiniger
Maßstab ist die Landtagswahl 2023. Sie
entscheidet über die Zukunft der CSU,
und noch mehr über die von Söder. Ein
erstes Mal hat ihn die Partei verschont.
Ein zweites Mal wird sie nicht so nach-
sichtig sein. wolfgang wittl

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
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MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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NACHRICHTENCHEFS: Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
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von christiane schlötzer

S


o einig waren sich Amerika und die
Türkei selten. Ankara feiert einen
„Sieg“ in Syrien, und Donald
Trump feiert sich selbst. „Härte und Lie-
be“ gegenüber der Türkei habe diesen
„unkonventionellen“ diplomatischen Er-
folg ermöglicht, jubelt der US-Präsident.
In Wahrheit aber war es wohl die Angst
vor dem, was sie da gemeinsam im Nor-
den Syriens angerichtet haben, die Wa-
shingtons Emissäre nach Ankara trieb
und die Türken in einen vorläufigen Waf-
fenstillstand einwilligen ließ.
Es war der von Trump persönlich be-
fohlene US-Truppenrückzug aus der Re-
gion, der dem türkischen Präsidenten Re-
cep Tayyip Erdoğan den Freibrief für den
Angriff gab. Schon in den ersten Tagen
der Offensive waren in Syrien wieder
Zehntausende auf der Flucht, es gab viele
Tote und Verletzte auf beiden Seiten der
türkisch-syrischen Grenze. Dass die von
Amerika im Stich gelassene und sich
selbst überlassene syrische Kurdenmiliz
YPG auch auf türkisches Gebiet zurück-
schießen würde, hatte Ankara wohl ir-
gendwie nicht bedacht. Die Türkei konn-
te ihre eigene Bevölkerung nicht schüt-
zen, auch in den türkischen Grenzstäd-
ten ergriffen die Menschen die Flucht.
Als die ersten Gefangenen der Terror-
miliz Islamischer Staat in dem Kugelha-
gel die Gunst der Stunde nutzten und
sich davonmachten, wirkte dies wie eine
Sturmwarnung, nicht nur in Washington,
sondern auch in Moskau. In Ankara dürf-
te es ebenfalls einigen Leuten bange ge-
worden sein, schließlich hat es in der Tür-
kei in der Vergangenheit verheerende An-
schläge des IS gegeben. Dann kündigten
die syrischen Kurden auch noch offiziell
ihre Verantwortung für alle IS-Häftlinge
auf, weil sie sich selbst zu verteidigen hät-
ten. Spätestens da musste allen klar sein,

welches Chaos nur neun Tage Krieg in
Nordsyrien angerichtet hatten.
Gegen die Angst hilft gewöhnlich lau-
tes Singen. Deshalb wird die Einigung
von Ankara nun bejubelt. Nur, was haben
US-Vizepräsident Mike Pence und Erdo-
ğan wirklich in den viereinhalb Stunden
am Verhandlungstisch erreicht? Die Waf-
fen sollen für 120 Stunden schweigen,
das ist uneingeschränkt zu begrüßen,
weil es den Menschen auf beiden Seiten
der Grenze eine Atempause gibt. Ameri-
ka und die Türkei aber haben ihren Deal
ohne den Diktator in Damaskus ge-
macht, der keine türkischen Truppen auf
syrischem Territorium dulden will.

Die Türkei möchte jedoch immer noch
ein Gebiet zur „Schutzzone“ unter ihrer
Kontrolle machen, das größer ist als Liba-
non. Dabei dürfte sie sich künftig auf die
Zustimmung Amerikas berufen. Die syri-
schen Kurden aber sagen, die Abma-
chung gelte nur für ein viel kleineres Ter-
ritorium. Es gibt noch weit mehr Luftlö-
cher in der Vereinbarung.
Die USA und die Türkei versprechen
darin eine gemeinsame Bekämpfung des
IS, aber wie soll das gehen? Werden die
US-Truppen ihren Abzug absagen? Nur
was machen sie dann ohne ihre kurdi-
schen Fußtruppen? Die haben die Seiten
gewechselt und sich zum Selbstschutz Da-
maskus unterstellt. Wenn es also einen
Sieger gibt, dann ist es Diktator Baschar
al-Assad. Wie er diesen Vorteil nutzen
wird – gegen den Erzfeind Türkei – ist of-
fen. Für die Türkei bedeutet das: Sie wird
eine Verständigung mit den Kurden fin-
den müssen, auch für ihren inneren Frie-
den, bevor sich neue Fronten auftun.

von felix stephan

I


mSvenska Dagbladetist soeben ein
Aufsatz des schwedischen Literatur-
wissenschaftlers Henrik Pedersen er-
schienen, in dem es um die Frage geht, ob
Peter Handke ein ideologischer Autor ist.
Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert.
Zum einen wegen des Vorgangs selbst:
Henrik Pedersen ist externes Mitglied je-
nes Komitees, das Peter Handke den No-
belpreis zuerkannt hat. Bislang hatte sich
die Schwedische Akademie eher verhal-
ten wie das Orakel von Delphi: In knappen
Sätzen verkündete sie die Namen der
Preisträger und ließ die Menschheit mit
der Aufgabe, ihre Entscheidungen auszu-
legen, weitgehend allein. Diese Zurückhal-
tung trug zu dem Nimbus der Akademie
als einer Instanz bei, die dem täglichen
Auslegungsstress enthoben ist, die nicht
in Saisons denkt, sondern in Jahrhunder-
ten und Epochen. Deshalb ist die Veröf-
fentlichung riskant. Zum ersten Mal lässt
sich die Akademie in die Karten schauen
und erlaubt auf diese Weise Einwände.
Zum anderen verteidigt Pedersen
Handke gegen Vorwürfe, die mit der Kon-
troverse um die Preisvergabe nur am Ran-
de zu tun haben. Die Frage, ob Handke ein
politischer Autor ist, verfehlt den Kern der
Debatte. Der Vorwurf gegen Handke lau-
tet vielmehr, dass er in seinen Texten über
den jugoslawischen Bürgerkrieg die un-
politische, rein poetische Dimension sei-
nes Schreibens so weit getrieben hat, dass
am Ende eine Erzählung herausgekom-
men ist, die faktisch schlicht falsch ist.
Dass er im Sinne der poetischen Subjekti-
vität zur Auslegungssache erklärte, was
sich nicht leugnen ließ: der Genozid der
Serben an den Bosniaken und Kroaten.
Selbst wenn man Handke zugesteht,
dass er der profanen Medienwirklichkeit
seine poetische Wahrheit zur Seite stellen
wollte, bleibt am Ende doch die Relativie-

rung von Kriegsverbrechen. Der Dichter
hatte sich verrannt. Weite Teile der Öffent-
lichkeit haben ihm die Fehler aus dieser
Zeit, die er längst eingeräumt hat, nie ver-
ziehen. Alte Wunden brechen auf, in Kom-
mentaren wird Handke jetzt als Faschist,
Nazi und Kriegstreiber beschimpft.

Das ist absurd, doch der Schmerz, den
Handkes Texte verursacht haben, ist real.
Für viele Bosniaken und Kroaten, die den
serbischen Massakern oft nur durch
Glück entkommen sind und die heute in
Deutschland oder Frankreich leben, hier
Parlamentarier sind, Romane schreiben,
Unternehmen führen, war die Zuerken-
nung des Nobelpreises an Handke nieder-
schmetternd. Saša Stanišić hat diese Er-
schütterung in seiner Dankesrede für den
Deutschen Buchpreis in Frankfurt zum
Ausdruck gebracht: „Ich hatte das Glück,
dem zu entkommen, was Peter Handke in
seinen Texten nicht beschreibt.“
Vor diesem Hintergrund gibt das Komi-
tee in Henrik Pedersens Aufsatz kein gu-
tes Bild ab. Pedersen verteidigt Handke
nur gegen die abwegigsten Vorwürfe.
Aber er setzt sich nicht mit der Frage aus-
einander, ob die Auszeichnung für Peter
Handke wirklich so unumgänglich war,
dass sie eine erneute Verletzung der Opfer
der serbischen Kriegsverbrechen rechtfer-
tigt. Für diese Minderheit, die jetzt in der
zweiten Generation in den Ländern West-
europas lebt und sich hier eigentlich zu
Hause fühlt, geht von der Entscheidung
der Akademie zwangsläufig die Botschaft
aus: Eure Geschichte spielt für uns keine
Rolle. Pedersens Aufsatz erweckt den Ein-
druck, dass das Komitee über diese Frage
nicht einmal nachgedacht hat.

V


or zwei Jahren rief die Schau-
spielerin Alyssa Milano nach Be-
kanntwerden des Harvey-Wein-
stein-Skandals Frauen auf Twit-
ter dazu auf, unter dem Hash-
tag „MeToo“ ihre Erfahrungen mit sexuel-
ler Belästigung und Demütigung mitzutei-
len. Die weitere Geschichte ist bekannt:
„Me Too“ geriet zu einer viralen Bewe-
gung, in deren Folge immer mehr Frauen
von sexuellen Übergriffen berichteten
und immer mehr Männer ins Visier von Öf-
fentlichkeit und Justiz gerieten. Mag es
für Zeitungen immer mühseliger werden,
Debattenfeuer zu entfachen – die „Me
Too“-Debatte brannte sich in die Köpfe al-
ler ein, die aus Freude am Leben oder aus
beruflichen Gründen am täglichen Mitein-
ander der Geschlechter teilnehmen.
„Me Too“ hat zur Aufarbeitung vieler
Verbrechen geführt und zugleich eine Art
Neustart des Geschlechterverhältnisses
im Alltag erzwungen. Dabei kann es auch
für Männer befreiend wirken, wenn dem
bräsigen Manspreading-Getue mancher
Vorstandsnasen Einhalt geboten wird.
Man kann als Mann auch
einen Zuwachs an Freude
erleben, wenn für paterna-
listische Affekte, die man
an Männern seit jeher ver-
abscheut hat, nun Abmah-
nungen rausgehen. Das
„Buddytum“, eines der ro-
ten Tücher der
„Me Too“-Streiterinnen,
war als männliches Ge-
meinwesen immer eher
unerfreulich, insbesonde-
re dann, wenn man selbst
kein Buddy sein durfte.
Männer machen unter
sich aus, wer welchen Pos-
ten bekommt – diese alte
Steigbügelkultur sollte
nach „Me Too“ passé sein.
Ob sie es in Wirklichkeit
ist, bleibt noch im Wider-
spruch verschiedener Stu-
dien verfangen.
„Me Too“ hat zudem ei-
ne Galerie interessanter
neuer Profile, männlicher
wie weiblicher, entstehen lassen. Neue
Temperamente des Feminismus zählen
dazu, deren Niveaus sich von der gouver-
nantenhaft anklagenden Kolumnistin
über die aggressiv-witzige Bloggerin bis
hin zur kritisch sympathisierenden Philo-
sophin erstrecken. Auf der anderen Seite
steht seitdem – verlegen grinsend – der
weiße alte Mann, dem unterstellt wird, all-
zu lange Zeit im wattewarmen Paternalis-
mus der alten Bundesrepublik verbracht
zu haben, und dessen sexuelle und soziale
Pfründen nun zur Debatte stehen. Dane-
ben lehnt, schillernd in seiner sich anbie-
dernden Häretiker-Rolle, der Feminist als
ein Mann, der gewissermaßen das Herr-
schaftswissen über die dunklen Seiten sei-
nes eigenen Geschlechts besitzt und sich
jetzt ein bisschen nützlich machen will.
Gleichzeitig konnte man sich als halb-
wegs zurückhaltender Mann leicht heuch-
lerisch freuen, wenn man im Katalog der
sprachlichen Übergriffigkeiten nichts
oder nur wenig findet, das man selbst ir-
gendwann mal Frauen gesagt hat. Mit
einem Schaudern beobachtet man dage-
gen, wie am Horizont ein vermeintlicher
Held nach dem anderen verschwindet: Ke-
vin Spacey, Dustin Hoffman, Plácido Do-
mingo, jeden einzelnen hat der Teufel der
frühen wilden Jahre geholt. Eine Reihe
sexueller Belästigungen sowie schwerer


Gewalttaten wie die von Weinstein und
Bill Cosby, fanden dabei bereits vor Jahr-
zehnten statt. Es ist ein großes Verdienst
der „MeToo“-Bewegung, dass sie nun end-
lich aufgedeckt wurden.
Gelegentlich wurde in der „MeToo“-De-
batte der Hedonismus der Siebziger- und
Achtzigerjahre aufgerufen, nach dessen
Prämissen der sexuelle Umgang zwischen
Männern und Frauen eher locker und iro-
nischer gewesen sei. Wer damals halb-
wegs erwachsen war, wird sich der Achtzi-
ger aber kaum als Zeit erinnern, in der es
zu den gängigen Kulturtechniken gehör-
te, dass Männer Frauen an die Brust fass-
ten. „Me Too“ korrigierte also auch die Sit-
tengeschichtsschreibung der späten Nach-
kriegszeit, indem es Mythen entlarvte
und manches larmoyante Pathos, das die
Libertinage des Charmebolzen und Schwe-
renöters beschwor, lächerlich machte.
Wie jede von Debatten und Sanktionen
befeuerte Bewegung hat „MeToo“ ihre Un-
erträglichkeiten. Eine ist die Angewohn-
heit, Kritik an ihr sofort als Fundamental-
opposition zu verstehen. Und die Namen
von solchen Männern, die
wegen der Vorwürfe nicht
von einem Gericht verur-
teilt wurden, gleichwohl
für die Welt für immer
komplett erledigt, am
Pranger stehen zu lassen.
Eine weitere ist die Nei-
gung, selbst übergriffig
zu sein, so in der Ahndung
und autoritären Auslö-
schung vermeintlich sexis-
tischer Kunstwerke wie
dem Gedicht „Avenidas“
von Eugen Gomringer an
einer Fassade der Berliner
Alice-Salomon-Hochschu-
le. Ohne über die Verhält-
nisse in poetischen Räu-
men – die keine safe
spaces sind – nachzuden-
ken, wurde das Werk inkri-
miniert, der Autor zum ly-
rischen Grapscher er-
klärt.
Zwei Jahre nach dem
Beginn der viralen Weltrei-
se von „Me Too“ werden Kosten-Nutzen-
Rechnungen angestellt: Hat es den Frau-
en etwas gebracht? Eine Studie sagt, es ge-
be seither weniger sexuelle Übergriffe am
Arbeitsplatz, eine andere Studie zeigt,
dass Chefs dazu neigen, immer weniger
Frauen einzustellen, weil sie Angst vor
den eigenen Übergriffen haben. Männer,
die glauben, ihr Terrain schwinde, weil die-
ses Terrain nun auch von Frauen bewirt-
schaftet wird, sind genauso blöd wie Frau-
en, die in jedem Gruppenfoto buchhalte-
risch die Anzahl der Männer und Frauen
prüfen.
Das Verhältnis von Männern und Frau-
en ist natürlich auch immer sehr komisch
gewesen, deshalb kann die „Me Too“-De-
batte – jenseits des strafrechtlich relevan-
ten Bereichs – ein paar Gran mehr an
Selbstironie gebrauchen. Die Sängerin
Debbie Harry erzählte jüngst imSpiegel,
wie David Bowie vor ihren Augen seinen
Penis herausgeholt hat. Der Interviewer
fragte besorgt, ob das nicht übergriffig
oder peinlich gewesen sei. Darauf Debbie
Harry verneinend: „Wir waren doch Freun-
de.“ Wer Witz genug hat zu denken, wird
diesen Satz nicht missverstehen. Hier hat
sich kein Chef vor einer Angestellten ge-
zeigt, nein: Zwei libertäre Leute, ein Mann
und eine Frau, haben sich auf, na ja,
Augenhöhe einen Spaß gemacht.

Sie sind oft schon wieder
weg, wenn andere zur Arbeit
kommen. Etwa 650 000 Ge-
bäude-, Industrie- und Glas-
reiniger sind Tag für Tag in
Deutschland unterwegs, um den Dreck
anderer zu beseitigen. Sie putzen Büros,
Krankenzimmer, Kaufhäuser, Bahnhöfe,
Kantinen oder Fabriken, säubern Fassa-
den. Die Branche hat deutlich mehr Be-
schäftigte als etwa die chemische Indus-
trie oder die Autohersteller. In den vergan-
genen Jahrzehnten ist sie stark gewach-
sen, weil Dienstleister und Industrie die
Reinigung auslagerten, große Anbieter
entstanden wie Gegenbauer, Piepen-
brock, Dussmann oder Wisag. Gebäude-
reiniger sind Handwerker, sie machen ei-
ne dreijährige Ausbildung. Nach zähen
Verhandlungen einigten sich die Tarif-
partner nun auf einen Rahmentarifver-
trag. Einige Zuschläge werden erhöht. In-
dustriereiniger erhalten 75 Cents die Stun-
de mehr. Der Nachtzuschlag für alle steigt
um fünf Punkte auf 30 Prozent. Erstmals
gibt es einen Weihnachtsbonus. 2019 und
2020 bekommen die Beschäftigten Heilig-
abend oder Silvester als bezahlten Ar-
beitstag frei. Arbeiten sie, erhalten sie ei-
nen 150-prozentigen Lohnzuschlag. Von
2021 an soll es für alle auf Vollzeitbasis ein-
heitlich 30 Tage Urlaub geben. Über Löh-
ne wird 2020 verhandelt. Ein Innenreini-
ger in Westdeutschland etwa erhält den
Mindestlohn von 10,56 Euro. etd

4 MEINUNG Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


EU-ERWEITERUNG

Wortbruch


CSU

Dann halt er


FOTO: AFP

SYRIEN

In Angst vereint


PETER HANDKE

Die Wunden brechen auf


Mit großem Deal ins Unterhaus sz-zeichnung: luis murschetz

„ME TOO“


Neustart


von hilmar klute


AKTUELLES LEXIKON


Gebäudereiniger


PROFIL


Michel


Barnier


Brexit-Verhandler
und
Gentleman

Erdoğan und Trump scheint klar
zu werden, was für ein Desaster
sie in Syrien angerichtet haben

Das Nobelpreiskomitee hat den
Schmerz der Opfer zu Unrecht
außer Acht gelassen

Die Bewegung hat
viele Verbrechen
aufgedeckt und das
Verhältnis zwischen
den Geschlechtern
vorangebracht.
Auch Männer
profitieren davon.
Doch manchmal
schießt „Me Too“
über das Ziel hinaus
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