Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1

D


ie SPD ist 156 Jahre alt, ihren heu-
tigen Namen trägt sie seit 1890.
Sie ist also noch viel älter als der
alte Holzmichl, über den in
einem berühmten Volkslied viele Stro-
phen lang gerätselt wird, ob er noch lebt.
Dieser Frage folgt dann jeweils ein jubeln-
der Ruf mit einem mächtigen „Jaaaah, er
lebt noch“. Dieses Holzmichl-Lied ist ein
Stimmungslied, das geeignet ist, auch drö-
ge Menschen zu begeistern; besonders
wenn die Zuhörerinnen und Zuhörer bei
der Textzeile „Ja, er lebt noch“ beide Arme
in die Luft reißen und so ins Geschehen
einbezogen werden.
So stellt sich das auch die SPD vor. Sie
hat bei der Bundestagswahl im Jahr 2017
das schlechteste Ergebnis seit dem Zwei-
ten Weltkrieg erzielt und sie sinkt in den
Umfragen immer weiter. Über sie wird da-
her gesagt, dass sie dem Tod näher sei als
dem Leben. Aber sie ist, trotz sehr fallen-
der Mitgliederzahlen, immer noch die
größte Partei in Deutschland. Und in den
vergangenen Wochen hat sie erfahren und
erspürt, dass sie noch lebt: Die Vorstel-
lungstour der Kandidatinnen und Kandi-
daten für den Parteivorsitz war der Ver-
such, 23 Strophen des Holzmichl-Lieds
für die SPD zu singen: „Ja, sie lebt noch“.
Und es hat gut geklappt: An 23 Orten hat
diese Vorstellungsveranstaltung stattge-
funden, an der kleinsten Veranstaltung, in
Sachsen-Anhalt, haben 120 Leute teilge-
nommen, an der größten zweitausend. Es
war dies ein anrührendes Erlebnis für eine
Partei, von der zu Unrecht gesagt wird,
dass sich bei ihr gar nichts mehr rührt.
Nun muss man wissen, dass die zwan-
zigtausend begeisterten Besucher der Kan-
didaten-Vorstellungsrunde nur einen klei-
nen Bruchteil der immer noch 430 000
SPD-Mitglieder ausmachen, die derzeit
über die künftigen Parteichefs abstim-
men dürfen. In einer Woche steht das Er-
gebnis fest, dann wird wohl eine zweite
Mitgliederbefragung mit einer Stichwahl
notwendig sein. Eindeutige Favoriten gibt
es nicht. Wenn auf den Veranstaltungen
das Duo aus Norbert Walter-Borjans, dem
früheren NRW-Finanzminister, und der
Bundestagsabgeordneten Saskia Esken
umjubelt worden ist, besagt das nicht so
viel. Die Jusos haben zur Wahl dieses Duos
aufgerufen; es heißt, dem Juso-Chef Ke-
vin Kühnert sei der Posten des SPD-Gene-
ralsekretärs versprochen worden.
Borjans/Esken sind freilich für viele
Mitglieder nur halbbekannte Kandidaten,
ebenso die Duos Pistorius/Köpping und
Roth/Kampmann. Der einzig allbekannte
Kandidat ist der in der Vorstellungsrunde
viel kritisierte Olaf Scholz. Er gilt als Kandi-
dat des Weiter-so, die anderen stehen für
Aufbruch und Risiko. Aber ist nicht das
Weiter-so das wirkliche Risiko? Willy
Brandt würde wohl der langwierigen Wahl-


prozedur applaudieren – weil sie sich aus-
nimmt wie ein Exempel für seinen be-
rühmten Satz „Mehr Demokratie wagen“.
Es ist dies ein Schlüsselsatz aus der ersten
Regierungserklärung Brandts vom 28. Ok-
tober 1969. Zwei Tage nach der Bekanntga-
be des Ergebnisses der SPD-Mitgliederab-
stimmung über die neuen Parteichefs
wird dieser Satz 50 Jahre alt. Er wird heute
mit leuchtenden Augen zitiert, als handele
es sich um die Auszüge aus der Bergpre-
digt der Moderne: „Wir stehen nicht am
Ende unserer Demokratie, sondern wir
fangen damit erst richtig an.“ Dazu hat
dann freilich der Radikalenerlass der Re-
gierung Brandt von 1972 absolut nicht ge-
passt, mit dem linke Postboten, Lehrer
und Eisenbahner aus dem Staatsdienst
entfernt wurden. War das „Mehr Demokra-
tie wagen“?

Damals erkannte kaum jemand diese
Sätze als Schlüsselsätze einer soziallibera-
len Epoche. „Progressive Trompetenstöße
sind ausgeblieben“, schrieb die Saarbrü-
cker Zeitung. Und über dem Leitartikel der
Süddeutschen Zeitungstand nicht „Mani-
fest des Neubeginns“ sondern „Mit Vor-
sicht voran“. Die Verherrlichung von
Brandts Regierungserklärung begann erst
nach dem Amtsantritt von Kohl, als dieser
seine verspottete erste Rede über die „geis-
tig-moralische Wende“ gehalten hatte:
Seitdem ist „Mehr Demokratie wagen“ ein
sozialdemokratisches Leitwort.
Die ausgiebige Abstimmungsprozedur,
wie sie gerade zur Kür der neuen SPD-Füh-
rung stattfindet, kann ein neuer Einstieg
sein in „Mehr Demokratie wagen“. Dieser
alte Spruch könnte animieren zu neuen
kraftvollen Formulierungen; zum Bei-
spiel: „Mehr Umverteilung wagen“. So
geht man in die Kontroverse und besetzt
das Thema Ungleichheit. Eine gute Demo-
kratie muss ja mehr sein als ein Urnenritu-
al. Sie ist eine Wertegemeinschaft. Sie
muss die Grundrechte achten; sie muss

die Armen aus der Armut führen; sie muss
darauf achten, dass jeder und jede wirk-
lich Bürgerin und Bürger sein kann. Die
SPD braucht, wenn sie aufleben will, eine
Führung, die mehr soziale Demokratie
wagt und hinter der sich die Partei samt
der unterlegenen Bewerber sammelt. Ihr
wird es gelingen müssen, wieder als Ver-
körperung der Sozialstaatlichkeit verstan-
den zu werden. Es müssen neue Geschich-
ten geschrieben werden – Geschichten
über Kinder mit migrantischen Wurzeln,
geboren in Berlin-Neukölln oder Duisburg-
Marxloh, die den Hubertus-Heil-Weg, den
Franziska-Giffey-Weg oder den Sahra-Wa-
genknecht-Pfad gehen und es bis zur Mi-
nisterin oder Kanzlerin bringen können.
Mehr soziale Demokratie wagen: Es
gibt einen überquellenden Reichtum in
der Gesellschaft; aber es ist leider nur der
Reichtum von wenigen. Verantwortungs-
bewusste Sozial- und Gesellschaftspolitik
muss ihn abschöpfen. Umverteilung ist
kein sozialistischer Restposten, kein Sozi-
alklimbim, kein Gedöns; sie ist ein demo-
kratisches Gebot. Das beginnt mit der Neu-
regelung von Erbschaft- und Vermögen-
steuer. So kann es gelingen, für annä-
hernd gleiche Lebenschancen zu sorgen.
So kann man soziale Grundsicherung fi-
nanzieren. Ein Sozialstaat gibt nicht dem,
der schon hat; er nimmt nicht dem, der we-
nig hat. Er schafft ausgeglichene Lebens-
verhältnisse; er sorgt für lebenswerte Woh-
nungen und für Arbeitsverhältnisse, bei
denen man sich nicht von Befristung zu Be-
fristung hangelt. Es geht um eine Umver-
teilung auch von Zeit, die dann mehr
Raum lässt fürs Private und die sozialen
Bindungen. Wenn der Sozialstaat so funk-
tioniert, ist er Heimat für die Menschen.
Das ist das Rezept gegen den populisti-
schen Extremismus. Das wäre, das ist
„Mehr Demokratie wagen“, zweiter Teil.

Heribert Prantl
ist Kolumnist und Autor
der Süddeutschen Zeitung All you need is Love

DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 HF2 MEINUNG 5


Holzmichls Partei


Ja, die SPD lebt noch, ein wenig. „Mehr Demokratie
wagen“: Was braucht sie, 50 Jahre nach Willy Brandts
Regierungserklärung von 1969, für einen neuen Anlauf?

VON HERIBERT PRANTL


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Das neue Motto könnte lauten:
„MehrUmverteilung wagen“.
So geht man in die Kontroverse

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