Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1

A


uf den ersten Blick mögen Hel-
mut Kohl und die Deutsche
Bahn nichts miteinander zu tun
haben, auf den zweiten dafür
jede Menge. Es ist im Prinzip
dieselbe Geschichte. Zwei deutsche Institu-
tionen und die Chance ihres Lebens. Nur
dass Helmut Kohl alles schon hinter sich
hat, und die Bahn hat alles noch vor sich.
Es geht um den Imagewandel durch ein
epochales Ereignis, die Neuerfindung. Zeit-
genossen erinnern sich: Helmut Kohl war
im September 1989 ein erledigter Fall. Sie-
ben Jahre Kanzler und noch immer zu
klein für das Amt. Sie nannten ihn Birne,
jeder konnte seinen Dialekt nachmachen.
Wenn man mal die Lachnummer ist,
kommt man aus der Rolle schlecht wieder
raus, das gilt für Menschen genauso wie
für Unternehmen. Aber Helmut Kohl ist
auch ein Beispiel dafür, dass die Dinge sich
drehen können, wenn etwas Außergewöhn-
liches passiert. Im November 1989 fiel die
Mauer, und auch wenn Kohl danach so ge-
tan hat, als hätte er sie persönlich eingeris-
sen mit der Wucht seines abrissbirnenför-
migen Leibes: Ein freundliches Schicksal
hat ihm die Gelegenheit in den Lauf ge-
spielt. Und Kohl hat die Chance genutzt, er
war bald Kanzler der Einheit, eine Art
Weltstaatsmann. Die Leute belächelten
ihn nicht länger, sie lachten nur noch über
dessen Knautsch-Parodie bei „Hurra
Deutschland“. Sitzt er also in der Küche
überm Kreuzworträtsel. Kanzler der Wie-
dervereinigung mit vier Buchstaben?
„ICH!“, pfälzert der Gummi-Kohl.


Die Deutsche Bahn spielt imagetech-
nisch gerade in derselben Liga wie der
Kohl der Vorwendezeit, sie ist das Gespött
und tut alles dafür, das Gespött zu bleiben.
Ein unzuverlässiges Witzunternehmen, in
dem immer die Klimaanlage ausfällt. Die
Bahn versagt im Großen wie im Kleinen,
sie tritt regelmäßig den Beweis an, kein zu-
verlässiger Dienstleister zu sein. Strecken
sind stillgelegt, der ganze Betrieb ist nicht
modernisiert worden, Folgen der Reform
von 1994, jetzt kommt die Bahn dauernd
zu spät. Das ist das Große. Das Kleine: Der
ICE rauscht wieder mal ohne Halt an Wolfs-
burg vorbei. Dann funktioniert wieder das
Wlan nicht, im IC gibt es sowieso keins. Auf
bestimmten Strecken, etwa vom Chiem-
gau hinein nach München, ist man trotz
Smartphone komplett abgeschnitten vom
Geschehen auf der Welt, es fühlt sich wie-
der an wie 1957. In der Bahn sind fast im-
mer die Toiletten verstopft, die Reservie-
rungen können nicht angezeigt werden. Es
ist dann immer kein Trost, wenn der Zugbe-
gleiter in seinem Zugbegleiterenglisch ins
Bordmikro säuselt: „We wish you a very
good Johnny.“
Sie sagen es wirklich so, alles mit eige-
nen Ohren gehört. Man weiß nicht, ob die
Witze, die man sich über die Bahn erzählt,
von den freundlichen Mitarbeitern der
Bahn inzwischen nachgespielt werden.
Die Verliererbahn bräuchte – wie da-
mals Kohl – einen Wink von außen, ein neu-
es Oberthema, an dem sie wachsen kann.
Sie hat es gefunden, es sah lange nicht da-
nach aus, aber jetzt ist es da, und langsam
drängt die Chance auch ins Bewusstsein
derjenigen, die die Nachrichten nur noch
beiläufig verfolgen in dieser durchgeknall-
ten Zeit, die nur Loser hervorzubringen
scheint. Aber die Bahn könnte Sieger sein.
Ausgerechnet die Bahn. Es ist ein Wunder.
Die Nachricht ist erst wenige Wochen
alt: Der Klimawandel beschenkt die Bahn
mit dem größten Investitionsprogramm ih-
rer Geschichte. Bis 2030 soll die Bahn aus
dem Klimapaket der Bundesregierung zu-
sätzlich 20 Milliarden Euro bekommen. Es
wird also richtig Geld da sein. Wegen der
Mehrwertsteuersenkung wird die Bahn Ti-
ckets billiger anbieten können, das allein
könnte fünf Millionen zusätzliche Reisen-
de pro Jahr anlocken. (Wer mal in Fulda
mit drei Millionen anderen Reisenden we-
gen Triebwerkschaden aus dem ICE gewor-
fen worden ist, mag diese Aussicht furcht-
bar finden.) Aber die Bahn wird von den Kli-
ma-Milliarden ja neue Hochgeschwindig-
keitszüge anschaffen, sie wird Schienen re-
parieren, Strecken beleben. Was für Kanz-
ler Kohl der Mauerfall war, ist für die Bahn
der Klimawandel: die letzte große Chance.
Es geht um mehr als nur ums Image.
Denn wenn die Bahn die Chance nutzt,
wird keiner mehr davon reden, dass es seit
2018 keine Vollkornschnitte mehr im Bord-
restaurant gibt. Es geht um Größeres.
Wird die Bahn das Klima retten? Also,
im Rahmen ihrer Möglichkeiten?
Beim ICE pappt oft ein Sticker am Trieb-
wagengehäuse: unterwegs mit Ökostrom.
Aber das klingt grüner, als es ist. Erst 2038
sollen sämtliche Züge mit Ökostrom unter-
wegs sein, komplett CO2-frei will die Bahn


2050 sein. Dabei war ihre Umweltfreund-
lichkeit immer ein Trumpf. „Unsere Loks
gewöhnen sich das Rauchen ab“, stand
1968 auf Plakaten, mit denen das Aus der
Dampfloks angekündigt wurde. Es war
dann eher ein sanfter Entzug, die letzte
Dampflok fuhr erst 1977 in den Rangier-
bahnhof Emden ein.
Die Gemengelage jetzt ist günstig, viele
Menschen haben verstanden, dass es öko-
logischer Irrsinn ist, innerhalb Deutsch-
lands zu fliegen. Viele wollen angeblich für
die Umwelt etwas tun, jetzt liegt es an der
Bahn, die beweglich gewordenen Leute
aus den Autos zu holen und aus den Kurz-
streckenfliegern.
Was müsste diese neue Bahn anbieten,
wie müsste die neue Bahn sein?

Geplant ist, den ICEs einen grünen Strei-
fen aufzumalen. Wie man die unglückliche
Bahn kennt, wird der Lack so beschaffen
sein, dass er vom Regen weggewaschen
wird und, im Abgang, Nahe Kassel-Wil-
helmshöhe, einen der letzten Nistplätze
von schützenswerten Taschenbären ver-
seucht. Aber auch wenn der Lack hielte –
ein grüner Streifen ist nur Tünche. Hand-
festeres muss geschehen, Spürbares.
Alles an der Bahn muss besser werden,
die Zugbegleiter dürfen sich nicht mehr in
schweigsame Trappistenmönche verwan-
deln, wenn man mal wieder in der Wala-
chei rumsteht. Der Mensch will doch wis-
sen, wie es weitergeht. Besser noch: Man
steht da gar nicht rum. Und wenn doch: Die
Bahn sollte richtige Restaurants haben,

mit frischen Speisen, womöglich zuberei-
tet in schweren Pfannen wie bei den Tsche-
chen. Wachteleier in der Walachei, das wä-
re es. Vor allem: Sie sollte pünktlich sein,
die Bahn, es ist sonst sehr ärgerlich und

peinlich. In Japan kommt der Zug um
22.05 Uhr, wenn er um 22.05 Uhr angekün-
digt war. In Deutschland kommt er irgend-
wann herangetrödelt, die Japaner sind
dann immer schon sehr aufgeregt, und so
geht es natürlich nicht. Was sollen diese
Menschen denn von uns denken?

Die Bahn muss besser werden, am Tag.
Und in der Nacht. An diesem Wochenende
veranstaltet das Netzwerk „Back on
Track“ in Hamburg seine europäische Jah-
restagung, die Initiative kümmert sich um
den Ausbau (oder die Wiederbelebung) des
europaweiten Nachtzugnetzes. Wer nachts
mit dem Zug reist, spart sich den klimakil-
lenden Morgenflug, sogar die Anreise mit
dem Auto zum Airport. Nachtzüge verbin-
den Orte, die keine Flughäfen haben. „Der
Adler fliegt allein, der Rabe scharenwei-
se/Gesellschaft braucht der Tor und Ein-
samkeit der Weise“, hat Friedrich Rückert
geschrieben, in einem vernünftig gepfleg-
ten Nachtzug sollte es die Möglichkeit ge-
ben, den Adler im Schlafwagen zu seinem
Recht kommen zu lassen und die Raben im

Sitzplatzwaggon. Abends um 23.30 Uhr in
Bremen rein, am nächsten Morgen um
7.29 Uhr in München-Ost raus.
Wenn man nicht unterwegs ermordet
wird, natürlich: Es gab eine Zeit, da spiel-
ten Nachtzüge eine Rolle im deutschen
Fernsehkrimi und damit im deutschen Le-
ben. „30 Liter Super“ heißt ein „Tatort“
von 1979, ein Mann fährt mit dem Nacht-
zug nach Paris. Er nimmt eine Schlaftablet-
te. Dann legt er (ein Adler) sich ins Bett und
schließt die Kabine ab – leider steigt in
Metz jemand zu, der weiß, wie man verrie-
gelte Kabinen von außen aufbekommt.
Von den Gefahren der Nacht und von
den immensen Ticketpreisen ließ sich die
Kundschaft derart abschrecken, dass die
Bahn den Nachtzugverkehr erst ausdünn-
te und Ende 2016 dann ganz einstellte. Wer
jetzt nachts von Bremen nach München
will, muss um 3.01 Uhr in Köln aus dem IC
in den ICE umsteigen, in der 1. Klasse auch
mal mehr als 200 Euro berappen, Verzöge-
rungen im Betriebsablauf inclusive.
Dann doch besser fliegen, oder?
„Back on track“ hat jede Menge gute Bei-
spiele: Dass die Österreicher vom ÖBB eini-
ge Nachtstrecken in Deutschland bedie-
nen, ist bekannt, aber auch anderswo in Eu-
ropa ist der Nachtzug längst wieder ein gro-
ßes Thema. In Schweden wurde eine Petiti-
on für mehr Nachtzüge von 65 000 Leuten
unterschrieben. Richtig auf die Agenda ge-
bracht hat auch dieses Thema die Aktivis-
tin Greta Thunberg, es gibt bei Twitter ein
Foto von Ende April, Greta schaut von der
obersten Etage eines Stockbetts in die Ka-
mera, sie lächelt. Ein schönes Bild. „Good
night from the night train to Stockholm!“,
schreibt sie, und viele der Drunterkom-
mentare wünschen „Sleep well“ und „Sov
gott!“ – so heißt Sleep well auf Schwedisch.
Wenige Reaktionen übrigens aus Deutsch-
land, wo man ja immer wieder damit be-
schäftigt ist, die junge Frau sehr zu hassen.

Wer oder was ist eigentlich schlimmer:
die Bahn? Oder sind es die zahlreichen
deutschen Menschen in der Bahn, die die
Bahn ja erst zur Deutschen Bahn machen?
Keine Ahnung, ob die Chinesen die
chinesische Bahn so sehr hassen, die Uru-
guayer die uruguayische. Der deutsche
Mensch hasst die deutsche Bahn ja nicht
nur ihrer Unzuverlässigkeit wegen, son-
dern auch aus dem Grund, dass er sie sich
teilen muss mit anderen Reisenden. Dabei
möchte er sie für sich haben und darin sehr
laut mit dem Diensthandy telefonieren
und sich immer sofort die Schuhe auszie-
hen und schön die dampfenden Schwitzfü-
ße auf den gegenüberliegenden Sitz legen.
Und vor allem: Immer den Rucksack auf
dem Platz neben sich abstellen, auch wenn
der Zug voll ist und heiß und die Leute mit
glasierten Gesichtern auf dem Boden sit-
zen. Der Rucksack bleibt. Wenn er doch
weggenommen wird, dann mit dem Aus-
druck größter Empörung. Nichts verab-
scheut der deutsche Reisende mehr als die
Frage, ob der Platz neben ihm noch frei ist.
„Da ich nun einmal nicht imstande war,
die Menschen vernünftiger zu machen,
war ich lieber fern von ihnen glücklich“,
hat Voltaire gesagt, mit klarem Blick auf
die Stimmung im ICE am Freitagabend.
„Wir spielen nun voll auf Angriff und
Ausbau“, hat dagegen der Bahn-Chef Lutz
gesagt. Die Bahn ist heiß, und diesmal
nicht, weil die Klimaanlage spinnt. Die
Bahn soll jetzt von den vielen Milliarden
bitte ausbauen statt rückbauen, das wäre
das Große. Und, im Kleinen: Jeder, der re-
serviert hat, soll sehen, dass er reserviert
hat, das soll aufleuchten da an seinem Sitz.
Der Mensch will einen Platz im Leben, es
ist eine archaische Geschichte. Steht an sei-
nem Sitz nur „ggf. reserviert“, fängt die Rei-
se schon mit einer Enttäuschung an. Ganz
abgesehen davon, dass viele Seltenreisen-
de nicht wissen, was „ggf.“ bedeutet, man-
cher tippt auf „Gegenfahrt“, und wenn die
Debatte erst mal an dem Punkt angekom-
men ist, wird sie anstrengend.
Andererseits ist die Frage, was die Bahn
jetzt ändern kann, ein schönes Beispiel für
die Klimadebatte an sich. Denn am Ende
geht es darum, dass der Mensch in der
Bahn sich ändern muss, er muss bereit
sein, sich den anderen Leuten auszuset-
zen. Klar, er könnte mit dem Auto fahren,
dann hätte er nicht die Fischbrötchen-
Aficionados in seiner Nähe, andererseits
dreht er dem Klima langsam die Luft ab,
wenn er überallhin allein im Auto fährt. Er
könnte den Frühflug nach Hamburg neh-
men, aber vielleicht tut’s dann doch ein
Platz im Nachtzug. Wenn einer fährt. Zwei-
erabteil. Funktionierte doch früher auch.
Und mal sehen, wer zusteigt.
Es geht um was, für alle. Mal so gesagt:
Die Bahn wird sich ändern müssen, damit
die Bahnreisenden sich ändern können.

Wie die Fotografin Regina Schmeken
im November 1989 den Mauerfall in
Berlin erlebte  Seite 59

Nichts verabscheut der deutsche
Reisende mehr als die Frage, ob
der Platz neben ihm noch frei ist

Es gab eine Zeit, da spielten
Nachtzüge eine Rolle im
deutschen Fernsehkrimi

Zeitenwende
FOTO: REGINA SCHMEKEN

Bettina Erdmann trägt eine tödliche
Krankheitin sich. Wie man damit lebt,
nicht nach vorn zu schauen  Seite 56 Viele Gutachten bei Familiengerichten
sind fehlerhaft, die Folgen oft katastrophal. Wie eine
Rechtspsychologin das ändern will  Seite 55

Was für Kanzler Kohl die Einheit


war, ist für die Bahn das Klima:


die letzte große Chance


Fahrt ins Grüne


Die DeutscheBahn wirkt seit Jahren wie gelähmt.


Nun erhält sie durch das Klimapaket eine Riesenchance. Kommt also endlich


Schwung in den Laden? Ein paar Vorschläge aus dem ICE-Abteil


von holger gertz


DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 53


GESELLSCHAFT


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Zeitbombe
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Zeitmangel


„Ich habe ja überhaupt nichts zu sagen“:
Die französischeDramatikerin
Yasmina Reza im Interview  Seite 60

Absurdes Theater


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