Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1

DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 HISTORIEGESELLSCHAFT 59


Das Wunder


Vordreißig Jahren erlebte die SZ-Fotografin Regina Schmeken


den Fall der Berliner Mauer auf beiden Seiten der Grenze.


Eine persönliche Erinnerung an die wilde Zeit des Aufbruchs


A


m Abend des 9. November 1989
habe ich die Nachrichten im Fern-
sehen angeschaut. Den Bericht
über die Pressekonferenz von
Günter Schabowski mit seiner
Ankündigung, die ja in diesem Moment
noch keiner wirklich begriffen hatte: dass
alle DDR-Bürger künftig ins Ausland reisen
durften, wie es hieß, eine Regelung, die laut
Schabowski „unverzüglich“ in Kraft treten
sollte. Danach war ich wie elektrisiert. Am
nächsten Morgen lief ich ins Büro von Ger-
not Sittner, damals stellvertretender Chef-
redakteur derSüddeutschen Zeitung, und
sagte nur: „Ich denke, ich fahre nach Ber-
lin.“ Es war ein allgemeiner Aufruhr in der
Redaktion in der Sendlinger Straße; einige
Reporter waren bereits unterwegs nach Ber-
lin. Sittner nickte sofort: „Fahren Sie!“
Ich hatte Glück und erwischte einen der
letzten verfügbaren Flüge von München
nach Berlin-Tegel. Auf den Straßen ging es
wegen des Ansturms total chaotisch zu, es
dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich mit
dem Taxi zum Grenzübergang an der Hein-
rich-Heine-Straße in Kreuzberg gelangte –
von hier aus wollte ich zu meinem Hotel in
der Friedrichstraße. Die Sekretärin hatte
mir dort ein Zimmer reserviert, weil sie
wohl dachte: Im Osten spielt die Musik.
Was sich als Irrtum erweisen sollte – alles
strebte ja nach Westen.
Am späten Nachmittag ließ mich der Ta-
xifahrer an der Grenze aussteigen, er durfte
leider noch nicht in den Osten fahren. Ein
Westberliner um die fünfzig nahm mich in
seinem Auto mit: „Kommen Se ma rin, ick
will och nur kieken, det finden wir schon.“
So kam ich zum Hotel, wo ich hastig ein-
checkte, denn ich hatte nur ein Ziel: das von
Volkspolizisten bewachte Brandenburger
Tor. Interessanterweise waren dort auf
dem Asphalt die Pfeile schon in beide Rich-
tungen markiert. Noch war das Brandenbur-
ger Tor geschlossen, aber die gleißenden
Scheinwerfer der Kamerateams aus aller
Welt wirkten wie eine Verheißung von Wes-
ten – das war das erste Bild, das ich in dieser
Nacht vom Fall der Mauer gemacht habe.
Am 11. November war ich am Branden-
burger Tor, Unter den Linden und am
Checkpoint Charlie unterwegs. Lange
Schlangen bildeten sich dort, alles wollte rü-
ber in den Westen. Passanten hatten damit
begonnen, Löcher in das Bollwerk zu ha-
cken, unter dem Beifall der Umstehenden,
aber noch gab es den Todesstreifen und die
Situation war chaotisch und ungeklärt. Erst
in den frühen Morgenstunden des 12. No-
vember wurden einige Segmente der Mau-
er entfernt und der Übergang am Potsda-
mer Platz eingerichtet. Damals fotografier-
te ich mit einer Olympus, zu dieser Zeit die
kleinste Spiegelreflexkamera der Welt, die
auf den Laien wie eine Amateurkamera
wirkte. So konnte ich relativ unbemerkt ge-
nau auf der Grenze zwischen den dienstha-
benden Volkspolizisten fotografieren, dort
war das Gedränge am größten. Ich wollte
unbedingt eine Aufnahme machen von der
Mauer im Querschnitt, man konnte sich gar
nicht vorstellen, dass dieses schmale Stück
Beton fast dreißig Jahre lang eine Nation ge-
teilt hatte.
Beim Fotografieren fiel mir auf, wie jung
diese Leute waren, die die Grenzen der DDR
bewachen sollten. Das waren teilweise
18- bis 20-Jährige, die auch berührt waren
von der Wucht der Ereignisse, aber in ihrer

Rolle als Befehlsempfänger feststeckten.
Es war eine offene Situation: Die Vopos
wussten nicht genau, wie sie sich verhal-
ten sollten. Anfangs waren sie noch sehr
misstrauisch, doch mit jeder Begegnung
wurden sie lockerer. Sie konnten gegen
die Kraft der friedlichen Ereignisse
nichts mehr ausrichten, sie waren macht-
los geworden. Menschen aus Ost und
West steckten ihnen Blumen ans Revers.

Als ich nach vielen aufregenden Stun-
den nach Westen ins Büro der SZ in der
Nähe des Kurfürstendamms fahren woll-
te, kam es zu einer besonderen Begeg-
nung: Ein Lada hielt vor mir, kurz hinter
dem neuen Übergang am Potsdamer
Platz. Ich fragte den Fahrer, ob er mich
mitnehmen könne. Er war sehr über-
rascht und sagte: „Ich warte auf meine
Frau und meine Schwägerin, sie wollen
dieses Gefühl der Freiheit Schritt für
Schritt auskosten und zu Fuß über die
Grenze gehen.“ So habe ich Lutz und Bär-
bel aus Königs Wusterhausen in Branden-
burg kennengelernt, die mir gleich erzähl-
ten, dass sie zum Zoo nach Westberlin
wollten, wo sie einst als junges Liebes-
paar noch vor dem Mauerbau spazieren

gegangen waren. Eines hatte ich aller-
dings nicht bedacht: Im Lada sitzend,
war ich plötzlich für alle anderen ein Ossi
geworden; ich hatte die Seiten und die
Perspektive gewechselt. So grüßte uns
ein zu Tränen gerührter Westberliner
vom Straßenrand und rief mir zu: „Will-
kommen, willkommen – Ihnen auch ein
herzliches Willkommen!“ Als dann Foto-
grafen kamen und Bilder von uns im Auto
machten, habe ich mich lieber wegge-
duckt, ich wollte schließlich nicht die Ge-
schichte fälschen.
Vier Tage hielt ich mich damals an der
Berliner Mauer auf und erinnere mich be-
sonders an die friedliche Stimmung und
die strahlenden Gesichter. Viele kamen
auch aus dem Ausland nach Berlin, um
dieses Wunder zu erleben, Amerikaner,
Briten, Franzosen, Italiener, aus der gan-
zen Welt. Es war eine bisher nicht gekann-
te Atmosphäre, die einen durch die Stadt
trug, die Menschen waren glücklich. Für
mich war dies ein universelles Ereignis,
es hatte nichts von Deutschtümelei oder
Nationalismus, ich konnte sogar Bilder
machen, auf denen Menschen die Europa-
fahne mit sich trugen.
Die Dramaturgie dieser Tage wirkt bis
heute nach in den Bildern meiner Erinne-
rung: Das Ankommen in der Nacht, das
Trampen im Berliner Chaos, die Begeg-
nung mit einer unbekannten Welt – ich
hatte die DDR eigentlich nur aus dem
Fernsehen und den Reisen über die Tran-
sitstrecken gekannt. Es war ein wenig wie
das Pfingstwunder mitten im November:
dass plötzlich Menschen miteinander re-
den konnten, die zuvor eine scheinbar un-
überwindbare Mauer trennte, und dass
diese friedlich und fast wie nebenbei ge-
fallen war. Das war ein großes Glück!
So gab es dann auch am Breitscheid-
platz am 12. November einen ökumeni-
schen Dankesgottesdienst in der Kaiser-
Wilhelm-Gedächtniskirche. Es ging dar-
um, die friedliche Revolution zu feiern,
und Tausende wollten dabei sein. Um in
dem Getümmel einen besseren Über-
blick zu haben, kletterte ich auf einen
Lkw. Ich wollte von dort die Politiker foto-
grafieren, die an dem Gottesdienst teilge-
nommen hatten und in der Menge kaum
zu sehen waren, wie Bundespräsident
Richard von Weizsäcker und der Regie-
rende Bürgermeister von Berlin, Walter
Momper. Da entdeckte ich unter mir die
Ladefläche des Lkw, von der aus man an
die Umstehenden Lebensmittel ausgab,
viele Hände streckten sich den Tüten ent-
gegen. Die großen Lebensmittelkonzer-
ne hatten sofort die Chance erkannt, Kun-
den zu gewinnen; deshalb verteilten sie
kostenlos Kaffee, Bananen, Apfelsinen,
für DDR-Bewohner wahre Luxusgüter.
Eine meiner Fotografien aus den wil-
den Wochen nach dem Mauerfall nimmt
die weitere Entwicklung vorweg: Sie
zeigt die DDR-Volkskammer, vor der ein
dicker Dienstwagen parkt. Da prallen
Welten aufeinander, vorne der Mercedes-
Stern, hinten das Gebäude mit Hammer
und Sichel. Wenn man das Bild heute be-
trachtet, lässt sich die Entwicklung be-
reits erkennen: Die Begeisterung über
das Ende der deutschen Teilung kann
schnell umschlagen, weil es in dieser Ge-
schichte leider nicht nur Gewinner gibt.
Protokoll: Christian Mayer

Rechts: Das noch geschlossene Brandenburger Tor in der Nacht des 10. November von der Ostseite gesehen – im Westen illuminie-
ren dieScheinwerfer den Himmel. Links: Westlimousine vor der DDR-Volkskammer in den Wochen danach.


Volkspolizisten der DDR im Gespräch mit einem Westberliner Polizeibeamten am



  1. November an der Mauer.


Der 11. November 1989 war ein sonniger Samstag, und viele Berliner nutzten die Gelegenheit zu einem Spaziergang an der Mauer – hier der Blick auf den noch unbebauten
Potsdamer Platz (mit dem historischen Weinhaus Huth).

Überall strahlende Gesichter:
Eine völlig neue Atmosphäre
trug die Menschen durch Berlin

Die Mauer im Querschnitt, gesehen am 12. November am neu geschaffenen Übergang Potsdamer Platz. Volkspolizisten versuchen,
im Gedränge die Kontrolle zu bewahren, im Hintergrund der Reichstag und das Brandenburger Tor. FOTOS: REGINA SCHMEKEN


Ausgabe von Westprodukten an DDR-
Bürger am Breitscheidplatz in Berlin.

Vom Westen aus versuchten viele, Lö-
cher in die Mauer zu schlagen.
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