Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
von friederike zoe grasshoff

Stuttgart– SilanKösker hat die Daumen
in die blaue Weste gehakt, aufrecht steckt
sie in der Uniform. Ihr Blick wandert: hier
ein Berg voller Plüschtiere. Dort Abiturien-
ten mit Wodkaflasche. Und ein Mann
nebst Mass: „Hallo, Frau Polizistin!“ – La-
chen, Männerlachen.
Noch ist es ruhig, Freitagnachmittag
um fünf Uhr auf dem Cannstatter Wasen,
dem Stuttgarter Volksfest. Kösker, langer
geflochtener Zopf, große braune Augen,
ist mit drei Kollegen auf Streife. Ein Junge
kommt auf einen der Kollegen zu und ki-
chert, „können wir ein Foto machen?“ Sie
laufen weiter. „Willsch ’n Bier?“, lallt ein
Mann, als er Kösker sieht. Sie lächelt das
weg. Zwanzig Minuten später meldet sich
der Knopf in ihrem Ohr – ein Mann läuft
auf sie zu, Kösker will ihn packen, da ist ei-
ne andere Streife schon da und nimmt ihn
fest. „Er hat ACAB gerufen“, sagt Kösker.
All cops are bastards.
Dass alle Polizisten Bastarde sind, hört
Kösker oft. Oder „Scheiß Bullen“. Ein paar
Stunden vor Dienstbeginn sitzt sie in ei-
nem sehr weißen Büro auf der Wasen-Wa-
che hinter einem Bildschirm, die Jalousien
sind runtergelassen. Es ist Frühlingsfest
in Stuttgart, und Kösker redet schon jetzt
über den Wasen im Herbst, der am vergan-
genen Sonntag endete und auf dem sie
auch dieses Mal unterwegs war, privat wie
beruflich. Die Mütze, die ihr immer ein we-
nig im Gesicht hängt, hat sie abgenom-
men. Kösker ist 26, vor sechs Jahren kam
sie zur Polizei; Ausbildung in Lahr, Bereit-
schaftspolizei Göppingen, seit zwei Jahren
ist sie in Stuttgart; Polizeiobermeisterin
im mittleren Dienst. Eine Frau in einem
nach wie vor von Männern dominierten Be-
ruf und auch: eine Polizeibeamtin, die Tür-
kisch und Kurdisch spricht, eine Polizistin
mit Migrationshintergrund.

Migrationshintergrund – das ist ein
sperriges Wort, ein Wort, das es für Silan
Kösker eigentlich nicht braucht. „Ich ge-
hör’ hier ganz normal dazu. Und ich bin
auch, ich sag’ mal: sehr integriert – falls
man das so sagen kann. Also ich muss
mich ja nicht integrieren, weil ich ja immer
dazugehör’“, sagt sie, ihre Stimme klingt
tief und fest. Der Mann, der ihr gegenüber-
sitzt und ihr nicht von der Seite weichen
wird, bis die Frau von der Zeitung weg ist,
ist der Pressesprecher der Polizei Stutt-
gart. Auch er ist nicht so glücklich über die-
ses sperrige Wort. Er sagt: „Insgesamt wä-
re es schöner, wenn das gar kein Thema
mehr wäre.“
Ist es das denn: gar kein Thema? In ei-
ner Polizei, die ein Spiegel der Gesellschaft
sein will; die eine Viertelmillion Beamtin-
nen und Beamte hat, aber zu wenig Frauen
und zu wenig Menschen mit Migrations-
hintergrund, also zu nicht unbedeutenden
Teilen weiß und männlich ist? Spätestens
nach den Morden des NSU sah sich eben-
jene deutsche Polizei dem Vorwurf ausge-
setzt, auf dem rechten Auge blind zu sein.
Der Untersuchungsausschuss des Bundes-
tages forderte 2013 im Abschlussbericht,
sich mehr darum zu bemühen, „junge
Menschen unterschiedlicher Herkunft für
den Polizeiberuf zu gewinnen“.
Menschen, die vielleicht anders hin-
schauen, die vielleicht anderes sehen. Nun
wirbt zwar eine Stadt wie Hamburg gar
mit Broschüren auf Koreanisch um
Nachwuchs, und die Öffnung der Polizei
steht im baden-württembergischen Koali-
tionsvertrag. Es gibt jedoch in manchen
Städten keine einzige Beamtin mit auslän-
dischen Wurzeln. Was es aber gibt: ver-
mehrte Vorwürfe, Rechte in den eigenen

Reihen zu haben. So erhielt die Frankfur-
ter Anwältin Seda Başay-Yıldız, Anwältin
eines NSU-Opfers, ein Fax mit rassisti-
schen Drohungen, und es gibt eindeutige
Hinweise, dass die Täter aus den Reihen
der hessischen Polizei stammen.
Wird eine Silan Kösker in dieser Behör-
de also genauso behandelt wie ein Max,
wie eine Erika Mustermann? Kösker selbst
antwortet darauf, dass sie wahrgenom-
men werde wie jede andere. Also fast.
„Klar wird man gefragt, woher man
kommt.“ Und klar brauchen die Leute ihre
Hilfe: Sie kann fließend Türkisch, ständig
rufen Kollegen an: Kannst du für uns über-
setzen? Rassismus habe sie aber nie erlebt,
nicht unter Kollegen, nicht auf AfD-De-
mos, nicht privat. Klar mache man mal Wit-
ze, klar macht auch sie Witze; ein Kollege
habe ihr gestern noch gesagt, wenn die
Frau von der Zeitung kommt, solle sie ein-
fach sagen: „Servus, ich bin Silan, ich trink

Bier und ess Schwein.“ Um mit Kösker
über ein Alles-gut hinauszukommen,
muss man oft nachfragen.
Aber ja: Es gibt Menschen, die sich auf
der Wache ausziehen, um sich schlagen,
spucken. Die über Rot fahren und sie an-
schreien: „Haben Sie nichts Besseres zu
tun?“, sie ahmt eine Frauenstimme nach.
„Man wird schon oft dumm von der Seite
angemacht, auch vom Normalbürger.“
Weil man diese blaue Uniform anhat. Aber
wie ist das als Frau in dieser Behörde? Kös-
ker fasst ihren Zopf an, zieht leicht daran.
Es gebe sie schon, diese Situationen, wo
sie denkt: „Jetzt darf er nicht ausholen“; Si-
tuationen, in denen sie sich unterlegen
fühlt, körperlich. „Aber dass jemand sagt:
Du kannst nichts, das kommt nicht vor.“
Müssen sie ausrücken wegen häuslicher
Gewalt, ist es sie, die sich um die Frau küm-
mert. Reden die Türken türkisch, ist da ei-
ne, die sie versteht. Alles gut also. Also fast.

Spricht man über Polizistinnen mit Mi-
grationshintergrund, muss man auch
über Tania Kambouri sprechen, eine Poli-
zeikommissarin aus Bochum mit griechi-
schen Wurzeln, 2015 erregte ihr Buch
„Deutschland im Blaulicht“ viel Aufsehen:
ein Leidensbericht, in dem sie Übergriffe
auf die Polizei zum Thema machte und
recht pauschal über ihre Probleme mit
Männern, allen voran muslimischen, be-
richtete. Männern, die sagen: Mit einer
Frau rede ich nicht.
Kösker kennt die Causa Kambouri, na-
türlich. Gefragt, was sie darüber denkt,
sagt sie erst einmal: „Schwierig.“ Das sagt
sie oft. Etwas früher an diesem Tag in die-
sem weißen Büro aber sagt Kösker, dass es
egal sei, ob Deutsche, Flüchtlinge, Migran-
ten: „Da gibt’s viele, die einen nicht so für
voll nehmen und sich nichts sagen lassen.“
Weil sie eine Frau ist? „Ja, auch. Manche
schauen mich dann mit so einem abfälli-

gen Grinsen an, wenn ich sag: Nehmen Sie
bitte die Hände aus den Taschen.“ Blicke,
die ihr sagen: „Du als Frau, hast du mir da
was zu sagen?“
Trotz dieser Blicke, trotz des Alltags aus
Auffahrunfällen und Drogendelikten, woll-
te Kösker immer nur Polizistin werden.
Das war als Kind so und das war so, als sie
als Teenager an Karneval an der Bushalte-
stelle stand und die grünen Uniformen
sah. Ende der Achtziger kommen die El-
tern, sie sind Kurden, aus der Türkei nach
Baden-Württemberg, ein paar Jahre spä-
ter wird Silan in Rottweil geboren. Die Mut-
ter geht putzen, der Vater arbeitet mal auf
dem Bau, mal als Busfahrer, heute haben
sie eine Döner-Bude. Zu Hause spricht Kös-
ker kurdisch und türkisch, mit den Nach-
barkindern deutsch. Mach was Ordentli-
ches, sagten ihre Eltern. Sie solle für sich
sorgen können, sagt die Mutter, „wenn je
ein Mann verschwindet oder irgendwas
sein sollte“. Kommt sie heute zu Familien-
feiern, sagen sie stolz: Oh, die Polizistin.
Muss man sich Kösker also als glückli-
che Polizistin vorstellen? Das muss man.
Spricht man mit anderen Polizistinnen
und verspricht, keine Namen zu nennen,
hört man auch andere Geschichten. Da ist
die Polizeibeamtin aus Nordrhein-Westfa-
len, die Ende zwanzig, nicht blond und
nicht weiß ist. Sie sagt, dass ihr Beruf auf
der Straße eher als Männersache angese-
hen werde. Ein Satz sei ihr in Erinnerung
geblieben: „Was willst du Kanakenweib
uns denn erzählen?“ So was käme von Rus-
sen, Algeriern, Deutschen, die nach einem
Kollegen verlangten.

Andere Beamtinnen erzählen, wie froh
manche Menschen seien, wenn jemand ih-
re Sprache könne, Türkisch verstehe, auf
Russisch antworte, verstehe, was passiert
sei. Was alle Frauen sagen, mit denen man
spricht, so positiv sie sich über ihren Ar-
beitgeber auch auslassen: Als Nichtmann
sei es schwerer, sich durchzusetzen. Domi-
nant müsste man auftreten, so das Man-
tra. Bei den meisten Frauen klingt das
stolz, bei anderen resigniert. Ob man auch
innerhalb der Polizei anders behandelt
wird als andere, diese Frage wird verneint,
unisono.
Die Polizei ist ein großer, aber ver-
schwiegener Zirkel. Wenn jemand redet,
scheint da viel Angst zu sein, etwas Fal-
sches zu sagen. Qua Amt hat Christiane
Kern nicht so viel Angst, etwas Falsches zu
sagen, sie ist Personalrätin für die Bayeri-
sche Landespolizei und Gewerkschafte-
rin. 1990 wurde sie Polizistin, „da gab es
noch ganz wenige von uns“, sagt Kern.
Kein Bundesland zögerte so lange wie Bay-
ern, bis es Frauen in Uniform zuließ. So,
wie sie damals auf der Straße gefragt wur-
de, ob man „mal mit einem Polizisten spre-
chen könnte“, hörten ihre Kolleginnen mit
Migrationshintergrund 2019 den Spruch:
„Von einer Frau lasse ich mir gar nichts sa-
gen“, oft komme das von muslimischen
Männern, von Landsleuten, sagt Kern. Ras-
sistische Sprüche innerhalb der Polizei sei-
en ihr nicht bekannt. Was ihr jedoch be-
kannt ist: Witze über den vermeintlichen
„Tittenbonus“, Streifenpartner, die ihre
Kollegin nachts auf dem Parkplatz fragen:
„Willst du ficken?“ Oder der Beamte, der
seiner Kollegin in der Dienststelle den BH
aufmacht; „nur eine Gaudi“, war sein Kom-
mentar dazu. Ist die Polizei also frauen-
feindlich? „Manchmal schon.“
Silan Kösker steht mit ihren Kollegen
vor der Wasen-Wache, Männer, Frauen,
ein paar rauchen. Gleich muss sie zurück
aufs Fest, zurück zu den Betrunkenen, den
Plüschtieren. „Was hab ich denn ge-
macht?“, hört man einen Mann drinnen
schreien. Ein anderer gestikuliert wild,
der Mann, der „All cops are bastards“ geru-
fen haben soll. Volksfest eben. Kösker mag
das, „den Wasen“, jenes schwäbische Okto-
berfest-Äquivalent. „Hier siehst du so vie-
le Menschen, hier passieren so viele Sa-
chen.“ Im letzten Jahr habe ihr jemand ei-
ne Rose geschenkt, sich bedankt, dass sie
„all das auf sich nehme“. Auf sich genom-
men hat sie dann auch einen privaten Be-
such, wie immer. In Zivil. Im Dirndl.

Ich gehör’ hier ganz normal
dazu. Und ich bin auch,
ich sag’ mal: sehr integriert –
falls man das so sagen kann.
Also ich muss mich ja
nicht integrieren,
weil ich ja immer dazugehör’.“

Silan Kösker

Berlin –Mehr Schutz für Synagogen, ein
strengeres Waffenrecht und eine strikte
Bekämpfung von Hass und Hetze im Inter-
net. Das sind die zentralen Maßnahmen,
auf die sich die Innenminister der Länder
am Freitag auf einer Sonderkonferenz in
Berlin geeinigt haben. Zehn Tage nach
dem rechtsextremistischen Anschlag auf
eine Synagoge in Halle demonstrierten
Bund und Länder Geschlossenheit im
Kampf gegen den erstarkenden Antisemi-
tismus und Rechtsradikalismus in
Deutschland. Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) erklärte den stärkeren
Schutz von Synagogen zur „Staatsräson“.
Seehofer sprach von einem „Maßnah-
menkatalog“, der schnell umgesetzt wer-
den solle. Man einigte sich auf zehn Punk-
te. Polizeiliche Präsenz vor Synagogen ha-
be oberste Priorität, sagte Seehofer. Zu-
dem solle das Gemeinsame Extremis-
mus- und Terrorabwehrzentrum Rechts
schnell auf die erforderliche Leistungsfä-
higkeit gebracht werden. Auch durch
mehr personelle Ressourcen. Extremisti-
sche Veranstaltungen sollen unterbunden
und Vereinsverbote geprüft werden.
Betreiber von Internetplattformen sol-
len verpflichtet werden, von Usern die per-
sönlichen Bestandsdaten aufzunehmen
und an die Sicherheitsbehörden zu mel-
den, falls sie Straftaten oder Hetze auf den
Portalen begehen. Bislang müssen sie ent-


sprechende Kommentare nach dem Netz-
werkdurchsetzungsgesetz lediglich lö-
schen. Online-Spiel-Plattformen sollen
strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stun-
den prüfen und gegebenenfalls löschen.
Der niedersächsische Innenminister
Boris Pistorius (SPD) kündigte an, dass
auch Kommunalpolitiker vor Anfeindun-
gen geschützt werden sollen. Er unter-
stützt damit das Vorhaben von Bundesjus-
tizministerin Christine Lambrecht, den Pa-
ragrafen 188 des Strafgesetzbuchs zu än-
dern. Denn der schützt de facto nur Lan-
des- und Bundespolitiker vor übler Nach-
rede und Verleumdung. Um die große Zahl
von Straftaten der Hasskriminalität verfol-
gen zu können, könnten Schwerpunkt-
Staatsanwaltschaften gebildet werden.
Schließlich ist man sich auch darüber ei-
nig, dass das Waffenrecht verschärft wer-
den solle. Die rechtsextremistische Szene
sei außerordentlich „gewaltbereit und waf-
fenaffin“, sagte Seehofer. So soll durch ei-
ne Regelabfrage verhindert werden, dass
Waffen in Hände von Rechtsextremisten
gelangen können.
Aus der Antwort auf eine kleine Anfra-
ge der Grünen zur Lage 2019 geht hervor,
dass die Gewaltbereitschaft und die Zahl
der Straftaten mit rechtem Hintergrund
in der ersten Jahreshälfte 2019 auf hohem
Niveau verharrt oder gar noch gestiegen
ist. Laut den Zahlen für das erste Halbjahr

2019, die derSüddeutschen Zeitungvorlie-
gen, gab es knapp 700 Angriffe auf Politi-
ker und Mandatsträger; das sind fast vier
jeden Tag und hochgerechnet aufs Ge-
samtjahr deutlich mehr als 2018. Im glei-
chen Zeitraum zählten die Behörden fast
2000 Straftaten gegenüber Asylbewer-
bern. emo, steb

Karlsruhe– Wenn passiert, was nie hätte
passieren dürfen, wenn ein inhaftierter
Straftäter bei einem erlaubten Ausgang
aus der Haft ein Kind vergewaltigt oder ei-
nen Menschen tötet, dann reagiert die Öf-
fentlichkeit begreiflicherweise mit einer
Mischung aus Wut, Hilflosigkeit und Un-
verständnis. Wie konnte es dazu kommen,
warum durfte ein Gewaltverbrecher über-
haupt einen Fuß in die Freiheit setzen? Sol-
che Fragen werden dann gestellt. Nun hat
das Bundesverfassungsgericht in drei Fäl-
len beanstandet, dass Langzeithäftlingen
solche Vollzugslockerungen versagt wor-
den sind; einer saß wegen Mordes, ein
anderer wegen Kindesmissbrauchs, der
dritte wegen Totschlags. Die Beschlüsse
lassen sich so zusammenfassen: Bei Haft-
lockerungen geht es nicht um Milde gegen-
über Verbrechern. Sondern darum, dass
die Grundbedingungen des Menschseins
auch hinter Gittern erhalten bleiben.
Das Gericht nennt zwar keine Details,
aber es ist klar, dass es sich um Schwerver-
brecher handelt. Einer sitzt wegen Mordes
seit mehr als 14 Jahren in einer Haftan-
stalt in Rheinland-Pfalz, der frühestmögli-
che Entlassungstermin wäre 2022. Die
Anstaltsleitung zeichnet kein sonderlich
günstiges Bild von ihm; den Mord habe er
nie eingestanden, und er habe die Ange-
wohnheit, anderen zu drohen. Weil auf sei-
nem Facebookaccount – der, so sagt er,

von außen geführt wird – Fotos aus dem
Knast aufgetaucht waren, mutmaßt die
Anstalt, dass er zeitweise ein Handy ge-
habt haben müsse. Schon deshalb bestehe
ein „erhebliches, unkalkulierbares Flucht-
risiko“, sobald man ihm Lockerungen ge-
währe. Im zweiten Fall sitzt der Häftling
wegen schweren sexuellen Missbrauchs
von Kindern und Besitzes von kinderpor-
nografischem Material seit zwölf Jahren
in einem niedersächsischen Gefängnis.
Sein Antrag auf eine begleitete Ausfüh-
rung wurde abgelehnt: Noch drohe ihm
kein Verlust seiner „Lebenstüchtigkeit“ –
kein Anlass also, mit kurzzeitigen Locke-
rungen gegenzusteuern.

Gegen dieses in allen drei Fällen vorge-
brachte Argument erhebt das Bundesver-
fassungsgericht grundlegende Einwände.
Strafvollzug müsse stets auf das Ziel aus-
gerichtet sein, den Inhaftierten wieder ein
straffreies Leben in Freiheit zu ermögli-
chen – also auf Resozialisierung. Den
schädlichen Wirkungen der Haft müsse
man daher entgegenwirken und die „Le-
benstüchtigkeit“ der Häftlinge erhalten,
auch wenn noch keine Entlassung bevor-

stehe. Das sei umso dringlicher, je länger
die Haft dauere. Und es gelte eben nicht
erst dann, wenn sich ihr Zustand durch die
Haft bereits deutlich verschlechtert habe.
Anstaltsleitung und Gerichte dürfen dem-
nach nicht abwarten, bis der Häftling in
dumpfer Perspektivlosigkeit versinkt,
sich von der Umwelt abschottet und krank-
hafte Persönlichkeitsveränderungen bis
hin zur Haftpsychose entwickelt; „haftbe-
dingte Depravation“, so nennt man diesen
Prozess der zunehmenden Abstumpfung,
der auf einen menschlichen Verfall hinter
Gittern hinausläuft. Die Strafvollzugskam-
mern hätten diese Umstände „grundle-
gend missverstanden“, befand Karlsruhe.
Die zweite Kammer des Zweiten Senats
macht aber zugleich deutlich, dass das
Thema Sicherheit hier eine große Rolle
spielt. In allen drei Fällen ging es um „Aus-
führungen“ in Begleitung von Sicherheits-
personal – und nicht um einen ungleich
riskanteren Ausgang. Ein Fluchtrisiko
müsse aber konkret belegt sein und dürfe
nicht pauschal unterstellt werden. Zudem
könnten solche Risiken verringert wer-
den, etwa durch eine „Hamburger Fessel“,
eine von außen nicht sichtbare Fesselung,
die eine Flucht erschwert. Einen Einwand
jedenfalls lässt Karlsruhe nicht gelten –
Personalknappheit: „Der damit verbunde-
ne personelle Aufwand ist dann hinzuneh-
men.“ wolfgang janisch

Berlin– Frauen in der Polizei: Noch vor ei-
ner Generation hat man da bundesweit
bei Null angefangen, „Bulletten an die
Front“, schrieb das Nachrichtenmagazin
Der Spiegel, als es im Jahr 1987 losging,
und die Innenminister des Bundes und
der damals elf Bundesländer in feierli-
cher Herrenrunde beschlossen, die Lauf-
bahnen in der Polizei für Frauen zu öff-
nen. Bis 1982 durften Frauen im Polizei-
dienst ausschließlich Parksünder notie-
ren und, bei der Kripo, einige wenige Spe-
zialaufträge bearbeiten.
Frauen in der Polizei, das ist auch heu-
te noch immer eine kleine Minderheit.
Der Anteil der Frauen unterscheidet sich
durch alle Regionen hindurch wenig. In
fast allen Bundesländern, so zeigt eine
Umfrage derSüddeutschen Zeitungbei
den Innenministerien, schwankt ihr An-
teil zwischen 20 und 30 Prozent. Es gibt
nur einen Ausschlag nach unten, Rhein-
land-Pfalz mit nur 16 Prozent. Und drei
Ausschläge nach oben, Baden-Württem-
berg (38 Prozent), Niedersachsen (35 Pro-
zent) und Sachsen-Anhalt (31 Prozent).
Weder lässt sich ein klares Ost-West-,
noch ein Nord-Süd-Gefälle ausmachen.
Die Rekrutierung von Frauen ist von
Landesregierungen lange vernachlässigt
worden, unabhängig von der politischen
Couleur. Das schwarz regierte Bayern
liegt heute mit 28 Prozent Frauenanteil
bei der Polizei im Mittelfeld und sogar
fünf Prozentpunkte über dem rot-rot-
grün regierten Thüringen. Dabei hatte
der Bayern historisch am längsten gezö-
gert mit der Öffnung: bis 1990. Bewaffne-
te Polizistinnen waren bis dahin ein The-
ma, das die CSU entzweit hatte.
Zumindest diese Debatte ist vorbei. Ei-
ne ähnliche Debatte gibt es heute, eine Ge-
neration später, aber wieder. Diesmal
geht es um den Anteil von Einwanderer-
kindern in der Polizei. Es gebe zu wenige
in der Polizei, mahnen Kriminologen wie
Christian Pfeiffer: Je gemischter die Trup-
pe sei, je höher die „interkulturelle Kom-
petenz“, desto besser könnten Konflikte
mit Worten entschärft werden.
In Berlin etwa bemüht sich der Innen-
senator, Andreas Geisel (SPD), seit einer
Weile sehr offensiv darum, mehr Schüler
mit Migrationshintergrund für den Poli-
zeiberuf zu interessieren, die Polizei solle
zumindest annähernd so vielfältig wer-
den wie die Stadt. Inzwischen hätten 38
Prozent der neu eingestellten Polizisten
eine nichtdeutsche Herkunft, so erklärt
er stolz. Unter älteren Beamten gibt es Wi-
derstände: „Es dauert nicht mehr lang,
und die Polizei in Berlin sieht aus wie die
Polizei in Ramallah“, ätzt einer, der an-
onym bleiben will. Die Polizei würde un-
terwandert von Clans, hört man zuwei-
len. Belege fehlen. ronen steinke


Alles gut. Also fast


Silan Kösker, 26, arbeitet als Polizeibeamtin in Stuttgart. Politisch ist
das erwünscht: junge Frau mit Migrationshintergrund in einem von Männern
dominierten Beruf. Ihr Alltag ist hart – aber genau das mag sie

Zehn-Punkte-Plan gegen rechts


Innenminister wollen besseren Schutz von Synagogen und schärferes Waffenrecht


Eine Ahnung von Freiheit


Bundesverfassungsgericht: Auch Schwerverbrecher haben ein Recht auf Haftlockerung


Langsame


Öffnung


Frauen sind bei der Polizei
immer noch in der Minderheit

6 POLITIK HF3 Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


Silan Kösker auf dem Cannstatter Wasen, sie liebt die Volksfest-Atmosphäre, „hier passieren so viele Sachen“. Vergange-
nes Jahr habe ihr sogar jemand mit einer Rose für ihren Einsatz gedankt. FOTO: FRIEDERIKE ZOE GRASSHOFF

Der Rechtsextremist Stephan E. sitzt als
Tatverdächtigerim Mordfall Walter Lüb-
cke in Haft. FOTO: ULI DECK/DPA

Ist die Polizei frauenfeindlich?
„Manchmal schon“, sagt die
Polizeigewerkschafterin

Die Lebenstüchtigkeit der
Gefangenen muss erhalten
bleiben, sagen die Richter

SZ-Grafik: Mainka; Quelle: Innenministerien

Für Rheinland-Pfalz lagen bis Redaktionsschluss keine verlässichen Daten vor

Polizistinnen im Einsatz


Frauenanteil bei der Polizei in Prozent


Baden-Württemberg
Niedersachsen
Sachsen-Anhalt
Berlin
Brandenburg
Hamburg
Bayern
Nordrhein-Westfalen
Hessen
Thüringen
Schleswig-Holstein
Sachsen
Saarland
Mecklenburg-Vorpommern
Bundespolizei
Bremen

37,


35,


31,


29,


29,


28,


27,


25,


25,


24,


24,


23,


23,


22,


22,


21,

Free download pdf