Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1

Wer jetzt gerade etwas Geld übrig hat und mit einem einzigen
Teilseine Wintergarderobe aufmotzen will, der investiere
nicht in eine Thermojacke oder einen dicken Pullover oder wol-
lene Hosen. Sondern in Stiefel. Sie können grau oder braun
oder bordeauxfarben sein, flach mit rustikaler Sohle oder hoch-
hackig mit messerscharfem Absatz, gleichgültig, die Mode ist
ja heute nicht mehr so. Aber sie haben, bitte, unbedingt hoch
zu sein – der Schaft also über die Wade hinaus bis zur Knie-
scheibe oder, noch besser, eine Handbreit darüber. Solches
Schuhwerk veredelt wirklich jedes Outfit zu einem Look: Sieht
tough aus zu weiten Dreiviertelhosen oder über Skinny Jeans
getragen, elegant zum schwingenden Midi-Rock, sexy zum Mi-
ni. Wenn sie nicht, wie hier bei Celine, mit Lammfell gefüttert
sind, handelt es sich sogar um ein weitsichtiges Investment,
denn nach Ansicht der Schauen fürs kommende Jahr kann
man hier vermelden: Wir stiefeln auch im Frühjahr noch. tar


Der gesunde Menschenverstand sollte meinen, dass im Preis
von2500 Euro für einen Mantel wenigstens die Nachhaltigkeit
inbegriffen ist. Aber da täuscht er sich. Auch wenn die großen
Luxushäuser gerade „Heads of Sustainability“ ernennen und
Pressemitteilungen raushauen, in denen von Klimaneutralität
und Engagement für den Regenwald die Rede ist: Die Ferti-
gungsketten bleiben so undurchsichtig wie Briefkastenfirmen
auf den Caymans. Solange nur die letzte Naht in Mailand ge-
näht wird, können die Einzelteile auch acht Mal um den Globus
transportiert worden sein, es kommt doch das Gütesiegel
„Made in Italy“ drauf. Doch es gibt Ausnahmen: Stella McCart-
neys Mode ist seit jeher vegan, Marine Serre hat es mit Upcyc-
ling auf den Kalender der Fashion Week geschafft(im Bild),
Gabriela Hearst verarbeitet Wolle von ihren eigenen Schafen.
Davon abgesehen gilt: Das nachhaltigste Kleidungsstück ist
immer noch das, das man ein Leben lang trägt. tar

Und wieder ein Häkchen in der Liste „Neunzigerjahre-Trends,
die uns ein weiteres Mal heimsuchen“. Nach Scrunchies und
Radlerhosen nun: dicker Gliederschmuck. Damals behängten
sich männliche Hip-Hopper damit, mittlerweile ist die Panzer-
kette auf dem Laufsteg angekommen – für Frauen. Bei Saint
Laurent und vor allem bei Bottega Veneta(im Bild), wo sogar
der Ausschnitt eines Pullovers von einer goldenen Kette ge-
säumt ist. Unterschied zum früheren Milieu: der dicke Hals als
Luxusversion, etwa mit Gliedern, die abwechselnd aus Gold
und Jaspis oder Silber und Lapislazuli gefertigt sind. wich

Wer immer noch meint, die Modewelt sei realitätsfern, sollte
sich die Schaufenster diesen Herbst genauer ansehen. Jede
Menge schwere Militaryboots, außerdem Cargohosen und na-
türlich Uniformjacken und -mäntel. Düstere Zeiten, entspre-
chende Entwürfe. Aber es gibt Hoffnung am Ende des Tunnel-
zugs! Jedenfalls bei Miuccia Prada. Sie kombiniert diese Mili-
tärjacke aus Loden zum Spitzenrock, Stiefel zum geblümten Sa-
tinkleid. Das Zarte ringt mit dem Harten, alles hat zwei Seiten


  • ach, die Welt ist schrecklich kompliziert geworden. Immer-
    hin modisch ergibt das ein hübsches Spannungsfeld. wich


Wenn es einen Trend gibt, den man Männern nicht näher erläu-
tern muss, dann ist es Leder. Logo, Kleidung aus Tierhaut, liegt
doch nahe – diese erfrischende Unkompliziertheit in einer Mo-
defrage muss archaische Wurzeln haben. Der Urmensch und
-mann kannte ja bloß die Hülle erlegter Wildtiere, um sich zu
bedecken. Das erklärt die rührende Treue zu speckigen Leder-
jacken, aber diese Saison ist etwas Flexibilität gefragt. Die Pa-
lette auf den Laufstegen reichte vom Nappatrench bis zum
„Lamb Hoodie“. Acne Studios(im Bild)kombiniert lederne Car-
gohosen mit Grasgrün, ideal für Großstadt-Trapper. Bei Frau-
en geht der Trend dagegen eindeutig zu „all in“: Leder von
Kopf bis Fuß, in Form von Kostümen bei Gucci und Dior, butter-
weichen Hosen zu kastigen Jacken wie bei Chanel und Altuzar-
ra. Oder – der neue Streetstyle-Liebling – Overalls aus Leder.
Bei den jungen ungarischen Labels Áeron oder Nanushka gibt
es die sogar in „Vegan Leather“. goeb, wich


Eigentlich sollte man in die Mode nicht so viel hineininterpre-
tieren, aber manchmal geht es nicht anders. Nehmen wir die
verheerende Weltlage – und dazu den markantesten Look bei
allen Herbst-Männerschauen: den schwarzen Anzug. Perfek-
ter Sitz, schmale Silhouetten. Wie bitte, die Erde gerät aus den
Fugen und die Herren tragen Festtagsgewand? Interessanter
Fall von Normalitätsbias, so heißt in der Psychologie das Fest-
halten an Bewährtem bei Katastrophen (geigendesTitanic-Or-
chester). Wobei die Lust am klar strukturierten Zweiteiler
nicht nur vom Verlangen nach Verlässlichkeit kommt, sondern
auch vom Überdruss an Streetwear. Plötzlich ist ein Klassiker
spannender als regelloses Casual. Jedenfalls äußerst hübsch
anzusehen, wie viele Variationen die Designer durchspielen.
„Double breasted“ bei Armani, schmächtig bei Saint Laurent.
Und Dior drapiert dem Träger eine feierliche Schärpe um den
Körper. Wenn schon Untergang, dann formvollendet. goeb

Paris Hilton war schuld, dass Hunde in Designertäschchen ge-
setzt wurden. Jetzt werden Handtaschen wie Hündchen getra-
gen – fest umschlungen, damit das teure Stück nicht entwi-
schen kann. Das gilt für extragroße Clutches (quasi die Knud-
delhund-Version, von Bottega Veneta) und für große Shopper,
deren Henkel diese Saison völlig überflüssig sind, wie bei dem
Modell von Givenchy. Die neue Tragweise erinnert an Zeiten,
als Frauen sich noch schutzsuchend bei Männern unterhak-
ten. Mit den neuen XXL-Taschen haben sie auch dafür eine
Alternative gefunden. wich

Das Hemd vom Business-Kontext befreien und den Mann von
der Übergangsjacke, so lässt sich vielleicht der aktuelle Sieges-
zug der Overshirts erklären. Die festeren Hemden werden über
dem Outfit getragen und sorgen für einen lässig improvisierten
Gesamteindruck. Weil die Teile nicht wie Jacken wirken, muss
man sie drinnen nicht unbedingt ausziehen, man diffundiert
einfach so zwischen den Welten. Männlich! Außerdem hat es im-
mer so was von Arbeit im ungeheizten Atelier. Dieses aktuelle
Modell von Levi’s vereint zudem mit dem breiten, grünen Cord
gleich noch zwei weitere Trendzutaten in sich. xig

Wenn der Zeitgeist beschließt, dass gerade wieder Schluss ist
mit Konfetti, wenn alles also wieder ein wenig zurückgenom-
mener, klassischer und wertiger daherkommt, taucht in der
Mode todsicher das Wort „Tailoring“ auf. Gemeint ist die
Essenz der Schneiderkunst, die Fähigkeit also, aus der Zwei-
dimensionalität eines möglichst hochwertigen Stoffes mithilfe
des Schnitts und klug gesetzter Nähte die perfekte dreidimen-
sionale Passform zu erschaffen. Tailoring bedeutet in der Re-
gel, dass die Mode maskuliner wird: zackig auf den Körper ge-
meißelte Blazer, Hosen mit Bügelfalte, Anzugstoffe und Nadel-
streifen wie hier bei Dries Van Noten. Und natürlich der masku-
line Klassiker überhaupt: das weiße Hemd. Eigentlich logisch,
oder? Das weiße Hemd ist die perfekte Garderobe für ernste
Zeiten, in denen wir den Hintern allmählich hochkriegen und
die Dinge anpacken sollten. Obwohl es, unter uns, auch zu zer-
rissenen Jeans gut aussieht. tar

In Hamburg wird gerade ein ganzes Theater umgebaut für die
Harry-Potter-Bühnenversion – ein bisschen versponnenes
Flair ist auch einfacher zu haben: Überlange Schals für Männer
verleihen jedem Herbstspaziergänger etwas Geheimnisvolles.
Es muss nicht das Bordeauxrot des Gryffindor-Schals sein, den
sich Harry und seine Zauberfreunde umbinden. Norwegermus-
ter oder Neonfarben, bei den Schauen war meterlanger Strick
in allen Varianten zu sehen. Dieses Modell von Loewe kommt
klassisch gestreift daher. Unverzichtbar: Viel Länge für mehrfa-
ches Wickeln, nur so klappt der dramatische Auftritt. goeb

Stiefel


Zieht euch warm an


Power Dressing und große Taschen, hohe Stiefel, goldene Ketten und die Rückkehr des schwarzen Anzugs:


Welche Modetrends in diesem Herbst wichtig sind – und welche Investitionen sich langfristig lohnen


Nachhaltig


Gliederketten


Military


Schulterpolster sind wieder da – die gängige Diagnose: klares
Achtzigerjahre-Revival. Stimmt ja auch, auf die „Dallas“-Ära
beziehen sich all die voluminös modellierten Oberkörper, von
Versace bis zu diesem farblich zarten Modell von Stella McCart-
ney. Eigentlich reicht die Geschichte zurück bis zur Diva Joan
Crawford. In den Dreißigern bahnte sie sich mit viel Gespür für
Macht und in einer Garderobe mit Flugzeugträger-Schultern
ihren Weg durch Hollywoods Männergesellschaft. Der Beginn
des weiblichen Power Dressing, das Frauen bis heute gut brau-
chen können. Da darf dann das Kleid ruhig rosa sein. goeb

XXL-Taschen


Overshirts


Leder Maskulin


Schwarze Anzüge


Breite Schultern


62 STIL Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


Überlange Schals


FOTOS: HIROKAZU OHARA; ALESSANDRO LUCIONI; ISIDORE MONTAG; MONICA FEUDI; HERSTELLER
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