Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
Manchmalmuss manDinge nur umbenen-
nen, damit sie sexy werden: Aus der Bier-
wampe wird der Dad Bod, aus Werbege-
schenken die Goodie Bag, und die Tasse hei-
ße Milch vor dem Schlafengehen heißt
jetzt Moon Milk. An Ideen, wie der Mensch
zur Ruhe findet, mangelt es derzeit nicht.
Dabei ist die mit der Milch so gar nicht neu:
Schon die Oma kam mit der dampfenden
Tasse ins Zimmer, in Indien werden seit
Jahrhunderten Kräuter zur Milch oder ih-
ren pflanzlichen Alternativen gegeben.
Das Rezept ist einfach: Klassischerweise
kommt in die Moon Milk je eine Prise Karda-
mom, Zimt sowie das Kraut Ashwagandha,
alles wird mit der Milch kurz aufgekocht.
Ashwagandha, auch Schlafbeere genannt,
gilt in der ayurvedischen Küche als Mittel
gegen Schlafstörungen. Aus dem Sanskrit
übersetzt, soll es „Geruch des Pferdes“ be-
deuten – Schlafbeere dürfte sich aber bes-
ser verkaufen. Damit die Moon Milk auch
optisch was hermacht, färben viele sie ein.
Mit Gelbwurz wird sie gelb, mit dem Pulver
der Spirulina-Alge babyblau, mit Kirsch-
saft rosa. Die Farbe ist so egal wie die übri-
gen Zutaten. Denn Experten sagen: Die
Milch hilft nicht beim Einschlafen, sondern
eher das gute Gefühl, das die warme Tasse
am Bett in uns auslöst. JULIA ROTHHAAS

GESCHMACKSSACHE


Moon Milk


DieGerman Angstscheint sich auch um
den Klops zu drehen. Erst neulich hat wie-
der jemand versucht, das mit ernst gemein-
ter Empirie zu untermauern: In keinem
Land sei die heimische Küche weniger ver-
breitet als in Deutschland, beklagte ein
Kollege von der Welt. Gerade einmal
35,5 Prozent der Wirtshäuser trügen das
Etikett „deutsche Küche“, so monierte er,
und stützte sich dabei auf eine Studie der
Universität Minnesota. Eine dubiose Statis-
tik. Wie kann man sich im Mittleren Wes-
ten der USA seiner Sache bis hinters Kom-
ma sicher sein, wenn doch nicht mal im fö-
deral zersplitterten Gastro-Deutschland
Einigkeit darüber herrscht, was „deutsche
Küche“ überhaupt ist? Fragen Sie mal ei-
nen Schwaben und einen Brandenburger,
was er jeweils unter einem Jägerschnitzel
versteht. Der eine wird antworten: ein fla-
ches Stück Fleisch mit Pilzsauce, der ande-
re: eine Scheibe panierte Jagdwurst.


Doch sollte es tatsächlich eine Bedro-
hung geben: Rettung naht. Im „Pots“ etwa,
dem neuen Hotelrestaurant des „Ritz Carl-
ton“ am Potsdamer Platz in Berlin. Dort
hat sich Dieter Müller, einer der Väter des
deutschen Gourmetküchenwunders, als
„impulsgebender Patron“ das Konzept
„Deutsche Küche 2.0“ ausgedacht. So ver-
künden es an der Wand angebrachte Ta-
feln im Restaurant. Hausmannskostklassi-
ker der Bundesrepublik sollen – neu inter-
pretiert, veredelt und als Tapas – in den Fi-
ne-Dining-Kosmos überführt werden.
Dabei hilft erst einmal ein gewisser Rah-
men. Denn wo man umgeben ist von
mannshohen Spiegeln, Marmorplatten
und Designerlampen, lässt sich auch die
profanste Speise in glanzvollem Licht prä-
sentieren. Tatsächlich ist der neu gestalte-
te Innenraum des Hotelrestaurants ein ge-
lungener Stilmix aus fast staatstragen-
dem Marmor-Schick und uriger Küchen-

gemütlichkeit – offene Küche und Marme-
ladengläser in Holzregalen inklusive.
Gegessen wird – das ist ja mittlerweile
bald überall so – im zwanglosen Sharing-
Stil, man bestellt verschiedene Gerichte in
Schälchen und teilt dann. Los geht es mit
einem schick verpackten „Lila Senfei“
(12 Euro), das zwar nicht gekocht, sondern
pochiert wurde, dafür aber ganz klassisch
in dicker Sauce schwimmt. Zuvor wurde es
mit Rote-Bete-Pankomehl paniert und
ausgebacken, was hübsch aussieht, wenn
das Eigelb beim Zerteilen aus der weiß-
pinkfarbene Hülle rinnt. Die ebenfalls lila-
farbene Sauce besteht aus Traubenmost
und Senf, dazu gibt es einen winzigen
Klecks Kartoffelstampf. Außerdem ein
paar Blätter leicht sautierten Spinat, die
dem Gericht alle Dumpfheit nehmen.
Auch wenn durch den streng dosierten
Senf-Einsatz nostalgische Gefühle ausblei-
ben: ein stimmiger Beginn.

Für die Matjes-Interpretation (12 Euro)
verwendet der Küchenchef statt des ge-
wöhnlichen Herings edle Filets vom Blau-
felchen, in Salzlake fermentiert. Den zar-
ten Fisch serviert er auf einem geleearti-
gen Spiegel aus grünem Apfel und Gurke,
bei dem sich Säure und Süße angenehm
die Waage halten. In separaten Schälchen
reicht man dazu zwei kleine, auf Salz gegar-
te Kartoffeln mit Sauerrahm. Zwar sind
diese sehr aromatisch, die Tunke mit Zwie-
belstückchen feinwürzig und cremig, aber
es bleibt dann doch eine intellektuelle Her-
ausforderung, einer Pellkartoffel das All-
tägliche auszutreiben.
Ähnlich verhält es sich mit den Königs-
berger Klopsen (20 Euro). Natürlich sind
sie würziger und lockerer als jene, die man
vielleicht aus der Kantine kennt. Die Sauce
ist schaumiger, auch thront auf jedem der
beiden Bällchen eine bayrische Zuchtgar-
nele – Tradition in Surf and Turf-Verklei-

dung. Doch ein Klops bleibt ein Klops,
nämlich ein in Brühe gegarter Hack-
fleischball. Auch das soßige Frikassee
vom Maishähnchen (20 Euro) erinnert et-
was zu stark an das, was man aus der
Hausmacherküche kennt, da helfen auch
krosse Gemüsechips als Topping nicht.
Zum Nachtisch haben es die Armen Rit-
ter (9 Euro) zu stattlichem Kalorienreich-
tum gebracht: Statt altem Weißbrot kom-
men hier frische Brioche-Scheiben zum
Einsatz, die mit Zucker, Mandeln und
Butter gebraten wurden, und zu Tonka-
bohneneis, Vanillesauce und Rhabarber-
kompott serviert werden. Das ist zu-
gleich knusprig, cremig und matschig,
aber leider so mächtig, dass dieser Nach-
tisch als Hauptgang durchgehen könnte.
Vielleicht schrauben die pompöse Ku-
lisse und das etwas großspurige Konzept
den Anspruch an die Alltagsklassiker
hier unfairerweise in die Höhe. Nichts ge-
gen einfache Gerichte, aber bei ihrer Neu-
interpretation gibt es Grenzen. Vielleicht
müsste man sich beim „Revolutionieren“
einfach nur für einen Ansatz entschei-
den. Veredelt man die Alltagsklassiker, in-
dem man sich ganz auf die Qualität der
Zutaten konzentriert – so wie Tim Raue
in seinem Lokal „Soupe Populaire“ die
deutsche Küche schon erfolgreich zele-
brierte? Oder hebt man die Hausmanns-
kost durch radikale Dekonstruktion auf
ein ganz neues Level, was zugegebener-
maßen sehr gut gemacht sein müsste,
um gut zu sein? Das Pots bleibt leider im
Moment irgendwo dazwischen stecken.

In einem Satz:Interessan-
terVersuch,die deutsche
Hausmannskost neu zu
erfinden, der entschiede-
ner ausfallen könnte.

von franz kotteder

B


aiersbronn ist nicht nur ein klei-
ner Ort im Schwarzwald, son-
dern auch seit Jahrzehnten so
etwas wie die deutsche Gourmet-
hauptstadt. Restaurants der Ge-
meinde halten insgesamt acht Michelin-
Sterne, so viele wie sonst nur gut aufgestell-
te Millionenstädte. Für einen Tisch hier neh-
men Gourmets längere Anreisen auf sich.
Die Münchner Foodbloggerin Dorothée
Beil war also erfreut, als sie einen Platz im
bekannten Drei-Sterne-Restaurant „Bar-
eiss“ bekam. Als sie dann eintraf, wurde sie
nachdenklich. „Als Erstes kam mir eine
Frau mit Rollator entgegen“, sagt Beil. So in
etwa ging es weiter. „Die Gäste waren hoch-
betagt oder Touristen aus dem asiatischen
Raum“, schrieb sie auf ihrem Blog Bush-
cook.de. Das klingt alarmierend.


Nun könnte man sarkastisch witzeln:
Die klassischen Gourmetrestaurants sind
perfekt vorbereitet auf eine überalterte Ge-
sellschaft. Doch in Wirklichkeit ist es natür-
lich genau anders herum. Die Kundschaft
wird immer älter, der Nachwuchs an Gäs-
ten bleibt vielerorts aus – den meisten jun-
gen Menschen sind Menüs mit sechs oder
sieben Gängen schlicht zu viel und Preise
zwischen 150 und 200 Euro pro Person zu
teuer. Natürlich war es immer schon so,
dass Gourmetrestaurants eher von Men-
schen besucht werden, die sich das auch
leisten können, und nicht wenige gehen so-
gar dort essen, weil es ein Statussymbol
ist. Doch auch die althergebrachten Status-
symbole werden immer unwichtiger. Gas-
tronomen, die nicht darauf warten wollen,
bis ihnen die letzten Gäste sozusagen an
den Tischen wegsterben, haben deshalb
auch schon begonnen, umzudenken.
Tatsächlich gibt es ja auch Ermutigen-
des zu berichten. Seit Essen zum Lifestyle-
thema geworden ist, hat sich die Gastrosze-
ne zugleich stark verjüngt; mancher Koch
kommt heute mit 25 in der Weltspitze an,
was natürlich Strahlkraft auf das Publi-
kum hat. Im Trend liegt auch die sogenann-
te Foodie-Bewegung, die Menschen unter
30 erfunden haben, und die so stark
wächst, dass der Verlag des betagten Gour-
metmagazinsFeinschmeckereinen eige-
nen Ableger dafür gegründet hat – denFoo-
die. Anhängern der Bewegung geht es
nicht nur um gesunde Ernährung oder
Tierschutz, sondern um hochwertige Le-
bensmittel und um Genuss, um faire, regio-
nale und saubere Herstellung. Auch stehen
komplexe Produkte wie Kaffee, Schokola-
de oder Öl, aber auch Wein heute im Fokus
von eher jugendlichen Genießern. Da ist
man dann nicht mehr weit weg von dem,
was auch viele Spitzenköche vorleben.
Es ist also noch lange nicht zu spät. In
der Hipster-Szene junger urbaner Milieus
ist man anspruchsvoll geworden, was das
Essen angeht. In Neukölln und im Wed-
ding gibt es längst Sternelokale, die zwar
nur zwölf Plätze haben, aber dafür oft Gäs-
te unter 40. Der Spitzenpatissier René
Frank hat in Kreuzberg das Dessertrestau-
rant „Coda“ eröffnet, wo man Menüs aus
gemüsebasierten Nachspeisen bestellen
kann oder Cocktails mit kleinen Gerichten


an der Bar. Casual Fine Dining lautet das
Stichwort, und dabei geht es nicht ums
Weglassen der Tischdecken, sondern um
Spaß, neue Konzepte und Flexibilität für
die Gäste. Es gibt weiter Restaurants mit
(unausgesprochenem) Dresscode, aber
auch solche, in denen man nach 22 Uhr
nicht mehr weiß, ob man sich im Gourmet-
lokal oder im Club befindet.
Für Gastronomen ist diese Entwicklung
auch anstrengend. Noch nie war es so wich-
tig, sich zu positionieren. Zumal immer
mehr Köche um Gäste konkurrieren, weil
die Zahl deutscher Sternelokale in den ver-
gangenen zehn Jahren von 216 auf 309 ge-
stiegen ist. Besonders eher klassische, auf
wohlhabende Gäste ausgerichtete Restau-
rants mit abseitiger Lage müssen sich also
dringender denn je die Frage stellen: Wie
kriegt man junge Leute an die Tische?
Ideen gibt es viele. Und die gängige Vor-
gehensweise, man kann es so krass sagen,
funktioniert ähnlich wie beim Drogenhan-
del. Erst verlangt man etwas weniger Geld
für die Ware, und wenn die Kunden anbei-
ßen, geht man zum normalen Preis über.
Dieses Modell greift um sich. Immer mehr
Gourmetlokale verkaufen heute günstige
Menüs mit etwas weniger Gängen als üb-

lich und – mit Altersbeschränkung. Vorrei-
ter waren die Franzosen. Im Elsass, einer
Genussregion mit vielen Sternelokalen,
bieten die „Étoiles d’Alsace“, ein Zusam-
menschluss von Gourmetlokalen, die „For-
mule Jeune“ an, ihr Angebot für die „Ju-
gend“ bis zu 35 Jahren. Mit dabei sind
neun Lokale, darunter auch das weltbe-
rühmte Sternerestaurant „L’Auberge de
l’Ill“ von Marc Haeberlin in Illhaeusern.

Die „Formule Jeune“ ist allerdings et-
was kompliziert in der Anwendung, es exis-
tieren verschiedene Varianten, von „Presti-
ge“ oder „Exzellenz“ bis „Weinstube“. Da-
zu kommen diverse Beschränkungen, so
gibt es die Schnäppchenmenüs nur im Win-
terhalbjahr und nicht an Feiertagen. Am
Ende sollte der Gast mit einem Viergang-
menü, Aperitif, Amuse-Bouche sowie kor-
respondierenden Weinen, Wasser und Kaf-
fee rechnen dürfen. Hat man sich einmal
durch das komplizierte Regelwerk gearbei-
tet, wird man mit einem Menü für 115 Euro

in der Exzellenz-Klasse belohnt, alles in-
klusive. Da kann man als Gourmet in Aus-
bildung eigentlich nicht meckern.
Die französische „Formule jeune“ hat in-
zwischen auch eine deutsche Gastrono-
menvereinigung übernommen, die das At-
tribut „jung“ schon im Namen trägt. Die
„Jeunes Restaurateurs“, ein 1974 gegründe-
ter Zusammenschluss junger und mittler-
weile wohl auch jung gebliebener Köche,
Gastronomen und Hoteliers aus ganz Euro-
pa, haben in Deutschland etwa das „Twe-
nü“ im Angebot. Für 75 Euro bekommen
an bestimmten Tagen alle Gäste unter
30 Jahren drei Gänge mit Aperitif, Amuse,
zwei Gläsern Wein, Wasser und Kaffee.
Die deutsche Oberliga aber tut sich noch
schwer mit den verbilligten Angeboten.
Das liegt sicher auch daran, dass viele Häu-
ser heute ohnehin schon sehr knapp kalku-
lieren müssen, selbst wenn sie einen Spon-
sor haben, der das Restaurant im Haus
zum Prestigegewinn benötigt. Andere, wie
der Münchner Feinkost-Großunterneh-
mer Michael Käfer, haben eher grundsätzli-
che Bedenken, in ihren Gourmetrestau-
rants mit Sonderpreisen zu arbeiten. Käfer
hat nicht nur die in jeder Hinsicht gehobe-
ne „Käfer-Schänke“ im Stammhaus im

Portfolio, sondern auch das „Esszimmer“
in der BMW-Welt, wo der Zwei-Sterne-
Koch Bobby Bräuer am Herd steht. „Die
Margen sind in der Spitzenküche ohnehin
schon gering“, sagt Michael Käfer, „und
wir wollen den Leuten ja auch nicht vorgau-
keln, dass es viel billiger geht.“
Junges Publikum hat Käfer aber natür-
lich auch gerne, und er sieht in seinem Fein-
kosthaus auch, dass es sich verstärkt für
Delikatessen interessiert: „Das ist für viele
fast schon so etwas wie ein Statussymbol.
Früher definierte man sich durch sein Au-
to, heute zunehmend durch das, was man
isst.“ Doch Michael Käfer geht andere We-
ge, um sein Publikum zu finden, bietet et-
wa Food-Start-ups in seinen Feinkostlä-
den eine Bühne, beteiligt sich an Stadtfüh-
rungen für junge Foodies („Taste Tours“),
oder er lädt Foodbloggerinnen ein, die im
schicken Stammhaus an der Prinzregen-
tenstraße „Supperclubs“ abhalten dürfen.
Konkurrent „Dallmayr“ geht in seinem
Münchner Zwei-Sterne-Restaurant „Alo-
is“ exakt den anderen Weg. Seit dort vor ei-
nem guten Jahr der damals 33-jährige
Christoph Kunz die Küche übernommen
hat, gibt es das Programm „Young Gour-
met“, ein Viergangmenü mit allem Drum

und Dran zum Festpreis von 85 Euro für
Gäste unter 30 Jahren. „Ich will mehr jün-
gere Leute im Restaurant haben“, sagt
Kunz, „für viele meines Alters ist das ja
wirklich eine Preisfrage.“ Ziel sei es, so
heißt es bei Dallmayr, jüngeren Gästen die
Möglichkeit zu geben, „einen Einstieg in
die Spitzengastronomie zu ermöglichen“.
Es geht auch um den Abbau von Schwellen-
ängsten, für das „Young Gourmet“-Ange-
bot ist jeden Abend ein Tisch geblockt, der
angeblich über Wochen ausgebucht ist.
In anderen Großstädten servieren Gour-
metlokale vereinzelt ein günstiges Mittags-
menü, wie es auch oft in Frankreich, Italien
oder Spanien üblich ist. Doch der bisher
einzige deutsche Drei-Sterne-Koch, der
Menüs für junge Gäste anbietet, ist Christi-
an Jürgens vom Seehotel „Überfahrt“ am
Tegernsee. „Ich weiß selbst aus meiner An-
fangszeit, wie es ist, wenn man jeden Pfen-
nig umdrehen muss“, erzählt Jürgens, „als
ich jung war, musste ich auf so etwas auch
sehr, sehr lange sparen.“ Klar, seine Gerich-
te könnten sich normalerweise nur Men-
schen leisten, die viel Geld haben, sagt er,
aber eigentlich wünsche er sich, dass viel
mehr daran teilhaben können.

Gäste bis 31 Jahre können bei Jürgens
immerhin die „True Food Lover Experien-
ce“ buchen: Fünf Gänge, darunter die Jür-
gens-Klassiker Kartoffelkiste, gefüllt mit
Périgord-Trüffelmousseline, sowie Reh-
pfeffer mit Rouennaiser Sauce. 189 Euro
zahlt der Food-Lover dafür, 30 Euro weni-
ger, wenn er auf die Weinbegleitung ver-
zichtet. Das klingt zwar nicht direkt nach ei-
nem Arme-Leute-Essen, aber wenn man
weiß, dass das Fünfgangmenü in der Über-
fahrt normal 249 Euro kostet und mit Wein-
begleitung 353 Euro, dann möchte man
doch vor Dankbarkeit beinahe auf die Knie
fallen.
Wenn Jürgens betont, wie wichtig es
ihm sei, durch sein Angebot mit jungen
Leuten „die Leidenschaft für Essen zu tei-
len“, dann ist das tatsächlich mehr als eine
Phrase. „Geld ist gar nicht so wichtig“,
pflichtet ihm zumindest die Beraterin Ant-
je de Vries bei, die für Gastronomen inter-
national Konzepte entwickelt. Die Leiden-
schaft fürs Genießen zu wecken, stünde an
erster Stelle, sagt de Vries, das beginne
schon bei den Eltern und im Kindergarten.
Und später, im Restaurant, funktioniere es
am besten, „wenn die Köche Hemmschwel-
len senken und auch auf ihr Publikum zu-
gehen, ihre Begeisterung rüberbringen,
mit der sie an ihre Aufgabe rangehen“.
Dazu müsse man aber flexibler und un-
komplizierter werden, rät de Vries. Etwa
wie im Leipziger Zwei-Sterne-Restaurant
Falco. Dort gibt es nicht nur vergünstigte
Menüs für Leute bis 35 Jahre und Essen an
einem Gemeinschaftstisch, sondern auch
einmal im Monat eine Clubnacht mit DJ.
Es gibt also Mittel und Wege. So richtig
mag man sich den Drei-Sterne-Koch Claus-
Peter Lumpp zwar nicht vorstellen, wie er
im altehrwürdigen Bareiss in Baiersbronn
zusammen mit einem DJ Begeisterung ver-
sprüht und die Leidenschaft bei seinen Gäs-
ten weckt. Aber so ist das nun mal mit den
Gästen: Die alten muss man halten, aber
neue kommen selten von ganz allein.

Qualität: ●●●●○
Ambiente:●●●●○
Service:●●●●○
Preis/Leistung: ●●●○○

Die Reifeprüfung


VieleGourmetrestaurants haben ein Problem: Ihre Gäste altern, doch neue kommen nicht mehr nach.


Aber wie bekommt man junge Menschen an die feinen Tische?


Der Einstieg in die Spitzenküche
funktioniert wie der in den
Drogenkonsum: über die Preise

Mancher Sternekoch
veranstaltet inzwischen
Clubnächte mit DJ

FOTO: XXX

LOKALTERMIN


Das Berliner Ritz Carlton hat für das Konzept seines


neuen Hotelrestaurants einen Altmeister der Gourmetküche


verpflichtet: Nach einer Idee von Dieter Müller soll die Küche


desPotsKlassiker der deutschen Hausmannskost in den


Fine-Dining-Kosmos überführen. Ob Senfei, Matjes oder


Hühnerfrikassee – jedes Gericht wird, wie edle Tapas, zum


Teilen serviert, vor einer pompösen Kulisse aus Marmor und


mannshohen Spiegeln.Fabienne Hurstfragte sich: Ob man


all den Klopsen und Armen Rittern da nicht zu viel zumutet?


64 STIL ESSEN UND TRINKEN Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


Ein Gourmetessen war immer


auch Statussymbol. Doch zählen


Statussymbole immer weniger


Im Sternerestaurant „Ernst“ im Berliner Wedding kennt man keine Nachwuchssorgen beim Publikum, viele der Gäste sind unter 40. Der kanadische Küchenchef ist
selbst erst Mitte 20, und der Tresen hier gilt vielen als hipster Tisch der Hauptstadt. FOTO: ANDERS HUSA
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