Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1

„Solange die Polizei gegen die Polizei er-
mittelt, wissenwir doch alle, was dabei
herauskommt“, ruft eine Zuhörerin verär-
gert, als sich die Fragerunde mit Huber-
tus Andrä im Bellevue di Monaco bereits
dem Ende entgegen neigt. Der Polizeiprä-
sident hat am Donnerstagabend einen
kurzen Vortrag gehalten, Thema: „Alles
Verbrecher!? MigrantInnen und die
Münchner Polizei“. Er hat Zahlen aus der
Kriminalitätsstatistik erklärt und einge-
ordnet. Und er hat Stellung genommen
zum Vorgehen seiner Beamten bei
Rauschgiftkontrollen im Bahnhofsvier-
tel, bei Einsätzen in Flüchtlingsheimen
und bei Abschiebungen.
Von den etwa 50 Gästen im Bellevue en-
gagieren sich viele Ehrenamtlich für Ge-
flüchtete, sie kennen die Unterkünfte
und die Zustände, unter denen Asylbe-
werber dort leben. Manche werfen dem
Polizeipräsidenten vor, seine Leute hiel-
ten sich selbst nicht an die Werte, die
Flüchtlingen bei der Integration in
Deutschland vermittelt werden sollen.
Dass sie rassistisch vorgingen, wenn sie
Schwarze wegen Drogen kontrollieren.
Und dass sie mit hartem Vorgehen bei Ab-
schiebungen Menschen ein zweites Mal
traumatisierten und in Unterkünften
Konflikte selbst provozierten.


Konkret geht es um einen Einsatz in
der Asylbewerberunterkunft in Krailling
im Juni. Die Polizei war im Morgengrau-
en gekommen, offenbar auf der Suche
nach sogenannten „Fremdschläfern“, al-
so nach Personen, die dort nicht über-
nachten dürfen. Als sich ein 18-Jähriger
von der morgendlichen Durchsuchung
provoziert fühlte und Beamte angriff, zog
das weitere Einsätze nach sich. Polizisten
hätten dabei Ehrenamtliche des Helfer-
kreises Würmtal geschlagen und ver-
letzt, lautet ein Vorwurf. Umgekehrt wirft
die Polizei den Helfern vor, Flaschen ge-
worfen zu haben. Das Landeskriminal-
amt soll nun ermitteln, wo es Verstöße
und möglicherweise Straftaten der Kolle-
gen gegeben hat.
Davon verspricht sich die verärgerte
Zuhörerin nichts. Aber wer soll den Vor-
fall sonst untersuchen, fragt Andrä:
„Wenn Sie heute gegen jemanden ermit-
teln wollen, dann brauchen Sie jeman-
den, der polizeiliche Befugnisse hat.“ Das
ist dann eben das LKA. Und schließlich
sei die Staatsanwaltschaft Herrin des Ver-
fahrens.


Außer Kritik gibt es auch Lob aus der
Runde. Sie habe die Erfahrung gemacht,
dass die Flüchtlinge eher der Polizei ver-
trauen als den Mitarbeitern der Sicher-
heitsdienste in den Unterkünften, sagt Se-
rena Widmann, die sich seit acht Jahren
in der Münchner Flüchtlingshilfe enga-
giert. „Werden die auch mal kontrol-
liert?“ Und Moderator Stephan Dünn-
wald vom bayerischen Flüchtlingsrat
räumt ein, die Münchner Polizei habe viel
dazu beigetragen, falschen Unterstellun-
gen gegen Flüchtlingen etwas entgegen-
zusetzen. julian hans


Ein Ermittlungsrichter hat am Donners-
tag Haftbefehl gegen einen 37-jährigen
Wohnsitzlosen erlassen, der Polizisten ge-
genüber antisemitische Äußerungen ge-
macht und den Hitlergruß gezeigt hatte.
Streifenbeamte wollten den Mann gegen
18.50 Uhr in der Ludwigvorstadt kontrol-
lieren. Dabei fing der Kroate an, Witze
über Juden zu erzählen. Er hörte auch
nicht damit auf, als die Polizisten ihn
mehrfach aufforderten, das zu lassen,
sondern er hob noch den rechten Arm.
Daraufhin wurde er vorläufig festgenom-
men, teilte das Polizeipräsidium am Frei-
tag mit. Nachdem er während der Verneh-
mung seine antisemitischen Tiraden fort-
setzte, ordnete die Staatsanwaltschaft
München I eine Vorführung beim Ermitt-
lungsrichter durch. Das Vernehmungs-
protokoll wollte der Mann mit „Heil Hit-
ler“ unterschreiben. Wie sein Vorbild
sitzt er jetzt erst einmal in Haft. anh

Hubertus Andrä
FOTO: ALESSANDRA SCHELLNEGGER

von kathrin aldenhoff

N


ur noch wenige Monate, dann
wird diese Raumsonde in den
Weltraum fliegen. Sie wird
sich der Sonne nähern, wird
so nah an sie herankommen,
wie keine Sonde, kein Satellit zuvor. „Wir
versuchen die dunkle Energie der Sonne
zu verstehen“, sagt Günther Hasinger, Di-
rektor für Wissenschaft bei der europäi-
schen Weltraumorganisation ESA. Aber
im Moment steht die Raumsonde Solar Or-
biter noch im Testzentrum der Firma
IABG in Ottobrunn. Hinter einer Glasschei-
be, vor der Journalisten und Wissenschaft-
ler stehen. Sie sind nur wenige Meter von
der Raumsonde entfernt, deren Vorzüge,
Aufgaben und Teleskope mehrere Wissen-
schaftler und Projektleiter der ESA, des
Unternehmens Airbus und von Universitä-
ten in Paris und London zuvor fast zwei
Stunden lang erklärt haben.
Es ist ein letzter Blick auf die Raumson-
de, Ende Oktober wird sie mit dem Flug-
zeug in die USA geflogen, und im Februar
kommenden Jahres beginnt dann ihre
wirkliche Reise. Ihre Mission. Endlich, sa-
gen Günther Hasinger von der ESA und
Holly Gilbert von der NASA. Etwa 1,5 Milli-
arden Euro wird die zehnjährige Mission
kosten, und sie alle können es kaum erwar-
ten, dass die Raumsonde sich von der
Startbasis Cape Canaveral in Florida auf
den Weg zur Sonne macht. Dass sie mit
den Messungen beginnt, dass sie hilft, zu
verstehen, wie die Sonne das Weltraum-
wetter beeinflusst. Doch bevor die Sonde
das darf, wurde sie ein Jahr lang in Otto-
brunn getestet.
„Während der Tests wird die Raumson-
de den Bedingungen ausgesetzt, die sie
später erleben wird“, sagt Eckard Settel-
meyer von Airbus. „Wenn sie erstmal ge-
startet ist, ist ein Boxenstopp nicht drin.

Dafür sind wir zu weit draußen.“ Er ist
durch eine Tür gegangen, über der „Welt-
raumsimulation“ steht, hat sich einen Kit-
tel über den Anzug, eine blaue Haube über
den Kopf und weiß-blaue Schutzhüllen
über die Schuhe gezogen. Nun steht er im
Cleanroom, in einem Gang, der die ver-
schiedenen Testräume verbindet. In roten
Buchstaben leuchtet das Wort „Clean“ an
mehreren Stellen von der Wand, niemand
soll die Testumgebung verunreinigen.
In diesen Hallen haben sie Solar Orbiter
gerüttelt, so stark, wie der Raketenstart
die Sonde schütteln wird. Sie haben getes-
tet, ob sie heftige Erschütterungen aus-
hält, wenn die Sonde sich von der Rakete
löst, wenn Solar Orbiter ihre Flügel mit ei-

ner Spannweite von jeweils neuneinhalb
Metern entfaltet, ihre Schwenkarme aus-
fährt. Sie haben die Raumsonde extremen
Temperaturen und hohem Schalldruck
ausgesetzt, haben magnetische Tests un-
ternommen, Hunderte Sensoren an ihr be-
festigt und alle Ergebnisse analysiert.
Die Raumsonde wird etwa 42 Millionen
Kilometer von der Sonne entfernt sein, sie
wird der Sonne näher sein als der Planet
Merkur. Und sie wird Temperaturen von
bis zu 500 Grad Celsius aushalten müssen


  • und an anderen Stellen bis zu minus
    180Grad Celsius.
    Nachdem sie ein Jahr lang getestet ha-
    ben, wissen sie nun: „Wir sind fit für die
    Mission“, sagt Settelmeyer. An einigen


Stellen hätten sie „punktuell nachgebes-
sert“. Ein üblicher Vorgang. Einen großen
Fehler, der die Mission gefährden könnte,
haben sie nicht gefunden. Sie wissen jetzt,
dass Solar Orbiter wohl den Start überste-
hen wird, dass sie die extremen Tempera-
turen der Sonne aushalten kann. Sie wis-
sen, dass sie gut gearbeitet haben.
Airbus hat die Sonde in Großbritannien
gebaut, mit Bauteilen unter anderem aus
Italien, Frankreich und Spanien. „Damit
die hochempfindlichen Instrumente Ma-
gnetfelder und Teilchen der Sonne mes-
sen können, muss die Sonde selbst für die
Sensoren unsichtbar sein. Das hat uns an
die Grenzen des technisch Machbaren ge-
führt“, sagt Settelmeyer. Fast zwei Jahre
wird Solar Orbiter brauchen, um seine Um-
laufbahn um die Sonne zu erreichen. Vor
der Hitze und der starken Strahlung
schützt ein schwarzer Schutzschild. Öff-
nungen darin geben den Messinstrumen-
ten den Blick auf die Sonne frei – und
schließen sich dann wieder.
Acht Jahre lang soll die Raumsonde die
Sonne beobachten, soll wissenschaftliche
Daten liefern, die es den Forschern erlau-
ben, das zu verstehen, was auf der Sonne
passiert. Zum Beispiel die heftigen Erupti-
onen, die von den Sonnenwinden ausge-
löst werden und die auch Auswirkungen
auf die Erde haben. Wenn sie besser ver-
standen werden, hilft das zum Beispiel As-
tronauten und Kommunikations- und Na-
vigationssatelliten zu schützen. Und zum
ersten Mal soll Solar Orbiter auf seiner Rei-
se Bilder und Videos von den Polen der
Sonne machen.
Wie die Mission enden wird, ist noch
nicht klar. Vielleicht wird Solar Orbiter
noch länger wissenschaftliche Daten lie-
fern. Vielleicht werden sie versuchen, sie
noch näher an die Sonne heranzubringen.
Klar ist nur: Auf die Erde zurückkommen
wird die Raumsonde nicht.

Es gibt berechtigte Kündigungsgründe,
unberechtigte und auch kuriose. Den
Grund, den jetzt ein Familienvater aus
Neuhausen in einem Zivilverfahren vor
dem Amtsgericht München nannte, dürf-
te wohl eher zur letzteren Kategorie gehö-
ren: Der Vater hatte Ende Februar dieses
Jahres den Vertrag mit einer Kinderkrip-
pe gekündigt, in der er seinen im Oktober
vorigen Jahres geborenen Sohn angemel-
det hatte. Und zwar unter anderem des-
halb, weil der knapp sechs Monate alte
Bub nicht von einer nur für ihn abgestell-
ten Erzieherin betreut und umsorgt wor-
den sei. Außerdem sei der Kleine auch
nicht von den anderen Kindern durch ei-
nen Laufstall „abgeschirmt“ worden. Bei-
des sei ihm von der Kinderkrippe zugesi-
chert worden. Der Vertrag, den er mit der
Kinderkrippe vor der Geburt seines Soh-
nes im März 2018 abgeschlossen hatte,
war auf drei Monate befristetet. Der
Preis: 3390 Euro.
Anfang Februar dieses Jahres besuch-
te der Bub die Krippe erstmals zur Einge-
wöhnung. Nach nur wenigen Tagen wur-
de er krank. Ende Februar erklärte sein
Vater die ordentliche Kündigung und
fragte bei der Kinderkrippe nach, ob ihm
ein Nachlass gewährt werde. Ohne Er-
folg. Daraufhin kündigte er fristlos.

Die Betreiberin der Kinderkrippe ver-
klagte den Vater daraufhin vor dem Amts-
gericht. Da sie den frei gewordenen Platz
nicht bis zum Ende des Kündigungszeit-
raums wiederbesetzen konnte, verlangte
sie den kompletten Betrag von 3390 Eu-
ro. Doch der Vater winkte ab, und es kam
zur Verhandlung. Bei seiner Vernehmung
monierte er, dass die Betreuungseinrich-
tung entgegen ihrer ursprünglichen Be-
hauptung nicht auf Kinder im Alter unter
sechs Monate ausgelegt sei. Ferner sei die
Betreuungszeit für seinen Buben von der
Klägerin eigenmächtig um eine halbe
Stunde verkürzt worden.
Das Gericht entschied jedoch zuguns-
ten der Kinderkrippe. Die zuständige
Richterin stellte unter anderem fest, dass
die außerordentliche Kündigung unwirk-
sam sei. Darüber hinaus wertete sie die
Aussage einer Sozialpädagogin als glaub-
haft. Diese hatte versichert, dass keines-
falls abgemacht worden sei, dass eine Be-
treuerin nur für den Sohn des Beklagten
da sein werde. Zudem sei der Vater dar-
auf hingewiesen worden, dass auf zwölf
Kinder in der Gruppe seines Sohnes drei
Betreuer kommen. „Es ist lebensfremd“,
stellte die Richterin in ihrem Urteil fest,
dass in einer Gruppe mit zwölf Kindern
und drei Erzieherinnen sich eine Erziehe-
rin ausschließlich um ein Kind kümmert.
Das Urteil (Az. 173C 8625/19) ist noch
nicht rechtskräftig. sal

Zwölf Kinder, drei Betreuer:
Was daraus folgt, ist klar

Fremdschläfer


und viele Fragen


Polizeichef Andrä begegnet Kritik
an Ermittlungen gegen Migranten

Haftbefehl


nach Hitlergruß


Der Sonne entgegen


Die RaumsondeSolar Orbiter soll dem Stern so nah kommen, wie nichts Menschliches zuvor.
Um sicher zu sein, dass sie das auch schafft, wurde sie ein Jahr lang in Ottobrunn getestet

Die Messinstrumente der Solar Orbiters sind sensibel.
Einige Schutzhüllen sollen erst kurz vor dem Start entfernt
werden, so spät wie möglich.SIMULATION: ESA; FOTO: CLAUS SCHUNK

Alleinbetreuung in


Krippe „lebensfremd“


Das LKA überprüft mögliche


Straftaten von Beamten


R4 MÜNCHEN Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019, Nr. 242 DEFGH


Pressefreiheit in Gefahr.


In vielen Staaten gibt es keine oder nur eine stark eingeschränkte Pressefreiheit. Trotzdem forschen Journalist*innen
täglich nach der Wahrheit um Missstände ans Tageslicht zu bringen. Wie gefährlich das sein kann und warum viele
Journalist*innen aus ihren Heimatländern flüchten müssen, davon erzählen Lillian Ikulumet aus Uganda und
Olaleye Akintola aus Nigeria aus eigener Erfahrung. Ikulumet recherchierte als politische Reporterin zu einer Zeit
als in Ugandas Parlament die Einführung der Todesstrafe diskutiert wurde. Akintola zog durch seine journalistische
Arbeit in der komplizierten politischen Gemengelage den Zorn verschiedener Machthaber auf sich. Heute leben und
arbeiten sie in München und erfahren als SZ-Kolumnist*innen, wie sich Pressefreiheit anfühlt.
SZ-Redakteur Korbinian Eisenberger moderiert.

Donnerstag, 11. November 2019 | 19 Uhr | Eintritt frei (eine Anmeldung ist nicht erforderlich)
Stadtbibliothek Am Gasteig, Rosenheimer Str. 5, München

Weitere Informationen auf:

sz-veranstaltungen.de

Ein Angebot der Süddeutsche Zeitung GmbH · Hultschiner Str. 8 · 81677 München

In Kooperation mit:

WERKSTAT T


GESPRÄCH

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