Süddeutsche Zeitung - 12.10.2019

(singke) #1
Brüssel– Jean-Claude Juncker hat Trä-
nenin den Augen: Der scheidende Präsi-
dent der EU-Kommission spricht im Pres-
sesaal des Brüsseler Ratsgebäudes über
die Ergebnisse des Gipfeltreffens. Es sei
sein 147. Gipfel, rechnet der frühere lu-
xemburgische Ministerpräsident vor –
und sein voraussichtlich letzter. „Ich wer-
de bis zum Ende meines Lebens stolz blei-
ben, Europa gedient haben zu dürfen“,
sagt der 64-Jährige. Er führt die Kommis-
sion seit 2014, doch bald, frühestens im
Dezember, übernimmt Ursula von der Ley-
en. Zum Abschied spart Juncker nicht mit
Kritik an den Staats- und Regierungs-
chefs: Dass sich diese nicht einigen konn-
ten, Beitrittsgespräche mit Albanien und
Nordmazedonien zu beginnen, sei ein
„großer historischer Fehler.“
Auch bei den Gesprächen über den
Haushaltsrahmen der EU für die Jahre
von 2021 bis 2027 hätten die Gespräche
keine neuen Erkenntnisse gebracht, klagt
Juncker. Daher glaube er nicht, dass eine
Entscheidung beim Gipfel im Dezember
möglich sei. Er mahnt zur Eile; gäbe es
erst in einem Jahr eine Einigung, könnten
EU-Programme nicht rechtzeitig starten.

Möglichst zügig fertig zu werden, das
wünscht sich auch Bundeskanzlerin Ange-
la Merkel (CDU), die in ihrer Pressekonfe-
renz konstatiert: „Die Diskussion hat ge-
zeigt, dass wir von einer Einigkeit noch
weit entfernt sind.“ Deutschland gehört
mit den Niederlanden, Schweden , Däne-
mark und Österreich zu den Nettobeitrags-
zahlern. Diese fünf Länder wollen, dass
sich die EU mit Ausgaben von höchstens
einem Prozent der Wirtschaftsleistung
des Blocks begnügt, so wie im laufenden
Haushaltsrahmen. Die Kommission
schlägt dagegen eine Erhöhung auf gut
1,1 Prozent vor, allein schon deshalb, weil
der Brexit die EU-Wirtschaft schrumpfen
lässt. Hinter diesen Mini-Prozentzahlen
verbergen sich gewaltige Summen: 1,1 Pro-

zent stehen für Ausgaben von 1,135 Billio-
nen Euro. Umstritten ist auch, ob reiche
Staaten wie Deutschland weiter von Rabat-
ten bei ihren Beiträgen profitieren sollen.
Die Debatte ist noch schwieriger als sonst,
weil mit Großbritannien ein wichtiger Net-
tozahler wegfällt. Merkel bedauerte auch,
dass die Aufnahme von Beitrittsgesprä-
chen mit Albanien und Nordmazedonien
von Frankreich sowie Dänemark und den
Niederlanden blockiert wurde. Sie begrüß-
te, dass die EU-Staaten die türkische Mili-
tärinvasion in Syrien „einstimmig verur-
teilt“ hätten. Gleiches gilt für die Bohrakti-
vitäten der Türkei vor der Küste Zyperns.
Die Kanzlerin hatte beim Gipfel eine be-
sondere Aufgabe zu erfüllen, wie sie be-
richtete: „Zum Schluss habe ich, weil ich
die Dienstälteste bin, Jean-Claude Jun-
cker und Donald Tusk gedankt, denn es
sind ihre letzten offiziellen Räte, nach jet-
ziger Vorausschau.“ Ein „Nein“ des Unter-
hauses zum Brexit-Deal oder ein sonsti-
ger Extremfall könnte einen Sondergipfel
vor Ende der Amtszeit von Ratspräsident
Tusk Ende November nötig machen. Doch
Merkel lobte schon jetzt beide „für ihre Ar-
beit mit uns und für Europa“. Gerade die
Erfahrung von Juncker, einem „Urgestein
der europäischen Geschichte“, werde dem
Gremium fehlen, sagte Merkel, die 2005
an ihrem ersten Gipfel teilgenommen hat-
te. björn finke, matthias kolb

Zürich– Culiacán ist die Hauptstadt des
mexikanischen Bundesstaates Sinaloa,
800 000 Menschen leben hier. Es war
drei Uhr Ortszeit am Donnerstagnachmit-
tag, als sich in Culiacán der Schlund zur
Hölle zu öffnen schien. Kurz zuvor war es
der mexikanischen Armee gelungen, Ovi-
dio Guzmán in einem Haus in Culiacán
auszumachen und zu verhaften. Er ist ei-
ner von mindestens zehn Söhnen des so
mächtigen wie skrupellosen Drogenbos-
ses Chapo Guzmán, der in einem amerika-
nischen Hochsicherheitsgefängnis seine
lebenslange Strafe absitzt.
Doch so groß der Erfolg, den jungen
Guzmán gefunden zu haben, er wird zur
Niederlage für die Staatsmacht: Nach
sechs Stunden müssen die Soldaten sich
zurückziehen. Denn das Sinaloa-Kartell
Guzmáns reagiert überwältigend schnell
und gewaltsam: Im Handumdrehen mo-
bilisiert die Kriminellenorganisation
Hunderte ihrer Mitglieder. Augenzeugen
berichten später, dass viele Lieferwagen
und Pick-ups aus den umliegenden Ber-
gen regelrecht in die Stadt einfallen. Die
Männer, die aus ihnen steigen, liefern
sich stundenlange Feuergefechte mit Ar-
mee und Polizei.
Auf sozialen Netzwerken zeigen Vi-
deos, wie sich in Culiacán Chaos ausbrei-
tet. Terrorisierte Bürger hasten durch die
Straßen, Autofahrer stürzen aus ihren
Fahrzeugen und bringen sich in De-
ckung. In Restaurants, Schulen und Bü-
ros geraten Menschen wegen der ständi-
gen Maschinengewehrsalven in Panik.
Auf den Straßen liegen Tote, es brennen
Autos, und die Männer des Kartells pa-
trouillieren auf wichtigen Verkehrsach-
sen der Stadt, als wäre das organisierte
Verbrechen eine Besatzungsmacht. Die
Bewaffneten befreien zudem aus einem
Gefängnis 30 Verbrecher. Den Behörden
bleibt nichts anderes übrig, als die Men-
schen aufzufordern, zu Hause zu bleiben
und die Autobahnzufahrten zur Stadt zu
blockieren. Ein Fußballspiel der höchs-
ten mexikanischen Liga wird abgesagt,
weil sich die Spieler der Gastmannschaft
nicht aus dem Hotel wagen.
Acht Menschen sind schließlich umge-
kommen bei den Gefechten nach dem
Versuch, Ovidio Guzmán festzunehmen,
teilen die mexikanischen Behörden am
Freitag mit. Unter den Toten seien ein Zi-
vilist, ein Mitglied der Nationalgardisten,
ein Gefängnisinsasse sowie fünf Angrei-
fer.
Dass es in Mexiko Regionen gibt, in de-
nen die Drogenmafia dem Staat das Ge-
waltmonopol entrissen hat, ist lange be-
kannt. Aber dass das Sinaloa-Kartell im-
stande ist, in einer großen Stadt eine der-
artige quasi-militärische Operation
durchzuführen, damit hatte kaum je-
mand gerechnet. Mexikos Öffentlichkeit
ist schockiert, obwohl sie im Verlaufe des
mehr als zehnjährigen mexikanischen
Drogenkrieges viele Schrecken erlebt
hat. „Culiacán: eine unerklärliche Kapitu-
lation“, titelte die Online-Ausgabe der Zei-
tungExcelsior.


Ovidio Guzmán López, genannt „El ra-
tón“, die Maus, ist 28 Jahre alt. Nach der
Verhaftung seines Vaters Chapo Guzmán
brachen im Kartell Kämpfe um dessen
Nachfolge aus, an denen neben Ovidio
Guzmán auch andere Söhne des Drogen-
bosses beteiligt waren. Außerdem
kämpft das Sinaloa-Kartell gegen einen
ebenso furchterregenden Gegner: das
„Cartel Jalisco Nueva Generación“, des-
sen Kürzel CJNG in ganz Mexiko Angst
verbreitet. Experten glauben, die 2010 ge-
gründete Organisation sei heute mächti-
ger als das Sinaloa-Kartell. Wie hoch Ovi-
dio Guzmán in der Verbrecherorganisati-
on seines Vaters gestiegen ist, weiß man
nicht. Er wird aber in Mexiko und in den
USA als wichtiger Dealer von Kokain, Am-
phetaminen und Marihuana gesucht.
Am Donnerstagabend, nach sechs
Stunden Gefechten zwischen Kriminel-
len und Ordnungskräften, sind die Stra-
ßen von Culiacán laut einem Zeugen leer-
gefegt. „Es brannten noch mehrere Fahr-
zeuge, aber Schüsse waren keine mehr zu
hören“, berichtete er. Sinaloas Polizeichef
Alfonso Durazo musste verkünden, seine
Behörde habe sich gezwungen gesehen,
Ovidio Guzmán laufen zu lassen. Sicher-
heit und Wohlergehen der Einwohner sei-
en wichtiger gewesen. Verteidigungsmi-
nister Luis Cresencio Sandoval sagte am
Freitag, die Fähigkeit des Kartells, viele
Leute zu mobilisieren, sei unterschätzt
worden. Mexikos Präsident Andrés Manu-
el López Obrador teilte mit, er habe die
Entscheidung der Sicherheitskräfte un-
terstützt, sich zurückzuziehen, um ein
Blutbad zu verhindern. „Einen Kriminel-
len zu fassen, kann nicht mehr wert sein
als die Leben der Menschen.“ Der seit De-
zember regierende Linkspopulist war
mit dem Versprechen angetreten, die Ge-
walt einzudämmen. sandro benini


Rührung, Zahlen und Kritik


Beim EU-Gipfel geht es auch um den Westbalkan und um Geld


Der Clanvater: Chapo Guzmán
bei seiner Festnahme 2016.AFP

Drogenkartell


verjagt Soldaten


In Mexiko liefern sich Verbrecher
Feuergefechte mit dem Militär

von thomas kirchner

Eupen– Ein Gruppenfoto. 24 Männer und
Frauen aus Ostbelgien lächeln schüch-
tern, einige wissen nicht, wohin mit den
Händen. Sie sind Laborantin, Biologin, Ex-
Polizist, Angestellter bei einer Baufirma,
Rechtsanwältin, Lehrerin, Studierende,
Hausfrau, Postbeamter. Mit aktiver Poli-
tik und Öffentlichkeit hatten die meisten
bisher nichts zu tun: Sie sind nicht ge-
wählt, sondern per Los zum Mitmachen be-
stimmt worden.
In den Gesichtern erkennt man Stolz. Al-
len ist bewusst, dass sie Geschichte schrei-
ben an diesem Septemberabend in Eupen,
Demokratiegeschichte. Sie kamen zur ers-
ten Sitzung des „Bürgerrats“ zusammen,
eines Gremiums, das nun neben das regu-
läre Parlament der Deutschsprachigen Ge-
meinschaft (DG) Belgiens tritt und so die
Politik der Region mitgestalten darf. Es
wird zu einer Art zweite Kammer, für ganz
normale Bürger, die sich politisch engagie-
ren wollen.
Vielerorts in Europa oder auf anderen
Kontinenten ist Ähnliches ausprobiert
worden. Aber noch nie wurde daraus eine
permanente Institution wie der „Bürger-

dialog“ in Ostbelgien. Eine politische Welt-
premiere. Und ein Experiment, von dem
sich manche, wenn es gelingt, die Rettung
der liberalen Demokratie versprechen.
Ostbelgien eignet sich als Labor. Die
Grenzregion ist zwar winzig im Verhältnis
zu den Landesteilen Wallonie und Flan-
dern, sie umfasst nur 77 000 Deutsch spre-
chende Belgier. Aber sie hat weitgehende
Autonomierechte, darf von Bildung über
Kultur und Soziales vieles selbst entschei-
den. Ähnlich wie ein deutsches Bundes-
land, nur kleiner.

Hier redet das Volk jetzt mit. Der Bürger-
rat wählt Themen aus, welche Bürger, Ab-
geordnete oder die Regierung vorgeschla-
gen haben. 25 bis 50 Teilnehmer einer Bür-
gerversammlung diskutieren darüber,
eventuell werden Experten hinzugezogen,
dann Empfehlungen verabschiedet. Die
Politik muss reagieren, am Ende soll eine
Vereinbarung stehen, ob und wie ein Vor-
haben umgesetzt wird oder nicht.

„Wir müssen unsere Gemeinschaft fit
für die Zukunft machen“, sagt der Minister-
präsident der Deutschsprachigen Gemein-
schaft, Oliver Paasch, in seiner Regierungs-
erklärung an diesem Abend und ver-
spricht, die Empfehlungen der Bürger
„bestmöglich“ zu beherzigen. Er zitiert
Gustav Heinemann: „Wer nichts verän-
dern will, wird auch das verlieren, was er
bewahren möchte.“ Bewahren wollen sie
Wohlstand und Frieden. Und dazu musste
die Politik freiwillig Macht abgeben. Denn
das ist der Clou in Eupen: Die Mitmachde-
mokratie à la Belgien wurde nicht von der
Zivilgesellschaft erkämpft, sie wurde von
oben eingesetzt. Aus Überzeugung. Weil
man glaubt, damit besser zu fahren.
Die Idee dazu hatte Alexander Miesen.
Der 36-jährige Liberale war bis vor Kurzem
Parlamentspräsident. Die Bürger seien in
der Deutschsprachigen Gemeinschaft
schon öfter konsultiert, Ausschusssitzun-
gen öffentlich abgehalten worden. „Aber es
kamen immer dieselben Leute, Gewerk-
schafter, Vereinspräsidenten, eben alle, die
sich ohnehin engagieren.“ Miesen wollte
auch andere erreichen. Er sah sich partizipa-
tive Modelle in der Schweiz und in Öster-
reich an, im schwäbischen Herrenberg, im

luxemburgischen Beckerich. Gemeinsam
haben diese Modelle, dass sie kommunal
und punktuell eingesetzt werden.
2017 begann ein erster Test in der DG zu
einem vorgegebenen Thema, Kinderbe-
treuung. Es lief gut, die Zufriedenheit war
auf allen Seiten hoch. Eine Auswertung
zeigte aber auch Schwachpunkte auf: zu
wenig Sitzungsgeld für die Teilnehmer,
ein fehlendes Sekretariat. Man beschloss
weiterzumachen, mehr zu tun. Und nun
trat David Van Reybrouck ins Bild, brachte
Tempo und Erfahrung in die Sache. Der
belgische Historiker ist Autor einer aner-
kannten Geschichte des Kongo, der einst
eine belgische Kolonie war. Seine zweite
Leidenschaft gilt dem Gemeinwesen und
der Frage, wie sich das „demokratische Er-
müdungssyndrom“ heilen ließe, das sich,
wie er meint, im Desinteresse der Bürger
an den Parteien bei gleichzeitig steigender
Unzufriedenheit mit der Politik äußert.
In seinem Buch „Gegen Wahlen“ stellt
Van Reybrouck das klassische Modell mit
Wahlen und Referenden infrage. Er plä-
diert für die Einbeziehung des Volks über
eine zusätzliche, durch Los bestimmte
Kammer – anstelle von permanentem
Wahlkampf oder spaltenden Abstimmun-

gen. Das Auslosen der Volksvertreter sieht
er als gerechtes, Repräsentativität garan-
tierendes Heilmittel. Die „aleatorische“ De-
mokratie, gepriesen von Aristoteles, war
in der Demokratie Athens die Regel, popu-
lär in Italiens Stadtstaaten seit dem 13.
Jahrhundert und fand sich sogar in deut-
schen Städten wie Münster und Frankfurt.
Erst mit der Französischen Revolution ver-
schwand die Idee. Van Reybroucks zentra-
ler Gedanke: „Wenn einfache Bürger die
Befugnis, Zeit und Information bekom-
men, schwierige Fragen anzugehen, wach-
sen sie über Gegensätzlichkeiten hinaus
und liefern sinnvolle Antworten.“

Ministerpräsident Paasch kontaktierte
den Autor, der sein Netzwerk einbrachte,
denn er ist nicht der Einzige, der sich für
die „deliberative Demokratie“ einsetzt.
Seit bald 20 Jahren testen Wissenschaftler
und Praktiker weltweit verschiedenste Mo-
delle. Einige haben sich in der Organisati-
on G 1000 zusammengeschlossen, die Van
Reybrouck mitgründete. Mit Kollegen tüf-
telte er ein Konzept aus, das die DG mit
kleinen Änderungen übernahm. Die Abge-
ordneten billigten den Plan ohne Gegen-
stimme, 150 000 Euro soll das kosten.
Welche Themen die Bürger angehen
werden, „dafür habe ich noch kein Ge-
spür“, sagt Miesen. Infrastrukturproble-
me, das Kneipensterben, Pflege? Oder Fra-
gen der Raumordnung und des Städte-
baus, die demnächst in die Zuständigkeit
der DG fallen? 1000 per Zufall aus dem Te-
lefonbuch gepickte Bürger wurden ge-
fragt, 140 sagten begründet ab, 115 wollten
dabei sein. Der Zufall regiert aber nicht ab-
solut: Bei der Auswahl hat man versucht,
die Gesellschaft abzubilden: Alt und Jung,
besser oder weniger gebildet, weiblich,
männlich. „Es wird so viel geschimpft“,
sagt eine Frau, „aber hier kann man als nor-
maler Mensch etwas bewegen.“ Einer der
Teilnehmer, der Baufachmann, hat einen
Anfahrtsweg von 60 Kilometern. Er sagt:
„Man macht es aus Überzeugung, oder
man macht es nicht.“ Eine Moderatorin
soll zudem verhindern, dass Alphatiere
den Dialog dominieren.
Viele politische Fragen seien inzwi-
schen hochkomplex, sagt Miesen, sie lie-
ßen sich nicht auf ein Ja oder Nein oder ein
paar Twitter-Zeilen reduzieren. „Ich freue
mich sehr darauf, mal wieder ausführlich
und in Ruhe über ein Thema diskutieren
zu können.“ Fast wörtlich übernimmt er da-
mit ein Argument, das die deutschen Wis-
senschaftler Herfried und Marina Münk-
ler in ihrem jüngsten Buch anführen: Die
Demokratie brauche Entschleunigung.
Das Autorenpaar empfiehlt eine „Mitwir-
kungsdemokratie“, die wie eine Kopie des
Eupener Modells wirkt. Andernfalls drohe
der liberalen Demokratie der Untergang.
Auch in Deutschland erfahren deliberative
Ideen Zuspruch, doch ist die Bewegung
längst nicht so weit wie in Belgien.
Nicht alle in der DG, das muss gesagt
sein, sind begeistert von der Polit-Innovati-
on. Marnix Peeters, Kolumnist beiDe Mor-
gen, sieht darin eher einen Marketing-Gag
der Politik. Die Region sei wie ein Dorf, har-
monisch und wohlhabend: viel Platz, we-
nig Menschen. Er zitiert einen Redakteur
der Lokalzeitung Grenzecho: „Es wäre
großartig, so etwas an einem Ort einzufüh-
ren, an dem es Probleme gibt.“

Brüssel –Auf den ersten Blick sah die
Truppe einigermaßen zufällig zusammen-
gewürfelt aus, mit der sich Ursula von der
Leyen am Freitagmorgen zum Frühstück
traf: Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel,
der Spanier Pedro Sánchez, Krišjānis
Kariņš aus Lettland und eine Handvoll
weiterer Regierungschefs. „Gutes Arbeits-
frühstück beim Oktobertreffen des Euro-
päischen Rates“, tweetete die designierte
Kommissionspräsidentin von der Leyen
als Kommentar zu einem Foto.
„Arbeitsfrühstück“ dürfte die Zusam-
menkunft treffend beschreiben. Ein Kaf-
feeklatsch dürfte es jedenfalls nicht gewe-
sen sein, zu dem sich von der Leyen am
Freitagmorgen mit jenen Staatschefs
traf, die vor ihrer Nominierung im Som-
mer die Stimmungslage in den Partei-
gruppen im Europäischen Parlament son-
diert hatten; und mit Emmanuel Macron,
dessen Kandidatin das Parlament kra-
chend durchfallen ließ. „Wir haben das
Treffen einberufen, um über die Bildung
der künftigen Kommission zu sprechen“,
sagte Macron nach Ende des Gipfels in ei-
ner Pressekonferenz. Für die Zusammen-
arbeit in der Zukunft sei „unverzichtbar“,
an einem Strang zu ziehen. Ein EU-Diplo-
mat sagte, das Gespräch sei „solide“ gewe-
sen, was im Diplomaten-Sprech steht für
„freundlich, aber bestimmt“.

Von der Leyen hat einen holprigen
Start hinter sich: Außer der Französin Syl-
vie Goulard sind in den Anhörungen auch
die Kandidaten aus Ungarn und Rumäni-
en durchgefallen. Der Start der neuen EU-
Kommission wird sich deswegen um ei-
nen Monat auf Dezember verzögern, min-
destens. Während von der Leyen den Re-
gierungschefs bei ihrem ersten Gipfelbe-
such seit ihrer Wahl zur künftigen Kom-
missionspräsidentin am Freitag ihre poli-
tischen Ziele erläuterte, hat in Brüssel
längst der Streit darum begonnen, wer

für ihre Bauchlandung verantwortlich ist.
Sind es die Staats- und Regierungschefs,
die nach der Europawahl das Spitzenkan-
didatensystem ausgehebelt haben und so
die Missgunst des EU-Parlaments auf
sich gezogen haben? Nach dieser Lesart
muss von der Leyen die Suppe auslöffeln,
die ihr von den Staats- und Regierungs-
chefs eingebrockt wurde. Die Sache mit
dem Spitzenkandidatenprozess sei eine
„Wunde, die geheilt werden muss“, sagte
am Donnerstag der Präsident des Europa-
parlaments, David Sassoli, bei einem
Kurzbesuch beim Gipfel.
Andere meinen, Macron sei für das De-
bakel verantwortlich. Er nehme das Euro-
paparlament nicht für voll, vielleicht auch
deswegen, weil das Parlament in seiner
Heimat deutlich weniger zu sagen hat. Ma-
cron selbst weist die Schuld zurück: Seine
Kandidatin für die Kommission habe dar-
an glauben müssen, weil nach dem Schei-
tern der Sozialdemokratin aus Rumänien
und dem Christdemokraten aus Ungarn
eben auch eine Liberale habe scheitern
müssen, sagte er bei der Pressekonferenz

nach Ende des EU-Gipfels. Außerdem ha-
be er von der Leyen vor Schwierigkeiten
in Goulards Berufungsprozess gewarnt.
Parlamentspräsident Sassoli will davon
nichts hören: „Das Parlament ist kein Bal-
last für den Entscheidungsprozess, und
schon gar keine Störung“, sagte er beim
EU-Gipfel.
Egal, wem man die Schuld für Gou-
lards Scheitern in die Schuhe schieben
will: Fakt ist, dass von der Leyens Lage ver-
zwickt ist. Bislang konnte sie dem Parla-
ment für keines der drei Länder einen Er-
satzkandidaten vorschlagen; in Rumäni-
en ist zudem gerade die Regierung zerbro-
chen. Und selbst wenn sie die neuen Kan-
didaten hätte, müssten die noch das Parla-
ment von sich überzeugen.
In diesen Tagen zeigt sich aber auch,
wie sich die neuen Mehrheitsverhältnisse
nach der Europawahl konkret auswirken.
Die vergangenen Wochen haben das Ver-
trauen der Fraktionen untereinander be-
schädigt. So heißt es aus der liberalen Re-
new-Fraktion, man erwarte von Sozial-
und Christdemokraten „vertrauensbil-
dende Zeichen“, um nach deren Veto ge-
gen die liberale Goulard wieder konstruk-
tiv zusammenarbeiten zu können.
Am Montag reist von der Leyen nach
Straßburg, um Gespräche zu führen: mit
einzelnen Abgeordneten, mit Ausschuss-
vorsitzenden, mit Parlamentariern be-
stimmter Landesgruppen. Außerdem will
sie sich noch einmal mit den Chefs der
Fraktionen treffen. Eine Tour de Charme
also, ganz ähnlich jener, die sie vor ihrer
Wahl unternommen hat.
Beim Gipfel allerdings galt es zu-
nächst, zu zeigen, dass sie die Regierungs-
chefs nicht vergessen hat: Wenn von der
Leyen erfolgreich sein will, reicht es nicht,
das Parlament auf ihre Seite zu holen. Das
dürfte auch die Botschaft gewesen sein,
die einige Staats- und Regierungschefs
ihr vermitteln wollten. Sie dürfe das
Gleichgewicht zwischen den EU-Instituti-
onen nicht aus den Augen verlieren, sagt
ein EU-Diplomat. Was eine höflichere For-
mulierung ist für: Sie soll nicht vergessen,
wem sie ihren Job überhaupt zu verdan-
ken hat. karoline meta beisel

Volksherrschaft wie im alten Athen


Im deutschsprachigen Teil Belgiens experimentieren die Bürger mit dem Modell
der Mitmach-Demokratie: Für den neuen „Bürgerrat“ werden die Volksvertreter ausgelost

Einbrocken und Auslöffeln


Die Besetzung der EU-Kommission kommt nicht voran, das lastet auf von der Leyen


DEFGH Nr. 242, Samstag/Sonntag, 19./20. Oktober 2019 HMG POLITIK 9


Eupen ist die Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens und der Ort des Demokratie-Experiments. FOTO: MAURITIUS IMAGES

Rumpliger Start: Ursula von der Leyen,
neueEU-Kommissionschefin. FOTO: AFP

Ein Wissenschaftler sucht ein
Mittel gegen das demokratische
Ermüdungssyndrom

Als Dienstälteste dankte sie Juncker und
Tusk zu deren Abschied. Bundeskanzle-
rin Merkel in Brüssel. FOTO: REUTERS

Ohne Entschleunigung
droht der modernen
Demokratie der Untergang

„Wir sind von Einigkeit noch
weit entfernt“, konstatiert
Angela Merkel

In Brüssel wird gestritten,
wer Schuld hat an
den jüngsten Bauchlandungen
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